Donnerstag, 29. Dezember 2011

Mittwoch, 28. Dezember 2011

Dienstag, 27. Dezember 2011

Die Begegnung (Bonjour Monsieur Courbet)

Gemälde von Gustave Courbet


(…)
Das Formieren hat aber nicht nur diese positive Bedeutung, daß das dienende Bewußtsein sich darin als reines Für-sich-sein zum Seienden wird; sondern auch die negative, gegen sein erstes Moment, die Furcht. Denn in dem Bilden des Dinges wird ihm die eigne Negativität, sein Für-sich-sein, nur dadurch zum Gegenstande, daß es die entgegengesetzte seiende Form aufhebt. Aber dies gegenständliche Negative ist gerade das fremde Wesen, vor welchem es gezittert hat. Nun aber zerstört es dies fremde Negative, setzt sich als ein solches in das Element des Bleibens; und wird hiedurch für sich selbst, ein für sich Seiendes. Im Herrn ist ihm das Für-sich-sein ein Anderes oder nur für es; in der Furcht ist das Für-sich-sein an ihm selbst; in dem Bilden wird das Für-sich-sein als sein eigenes für es, und es kömmt zum Bewußtsein, daß es selbst an und für sich ist. Die Form wird dadurch, daß sie hinausgesetzt wird, ihm nicht ein Anderes als es; denn eben sie ist sein reines Für-sich-sein, das ihm darin zur Wahrheit wird. Es wird also durch dies Wiederfinden seiner durch sich selbst eigner Sinn, gerade in der Arbeit, worin es nur fremder Sinn zu sein schien. – Es sind zu dieser Reflexion die beiden Momente der Furcht und des Dienstes überhaupt, sowie des Bildens notwendig, und zugleich beide auf eine allgemeine Weise. Ohne die Zucht des Dienstes und Gehorsams bleibt die Furcht beim Formellen stehen, und verbreitet sich nicht über die bewußte Wirklichkeit des Daseins. Ohne das Bilden bleibt die Furcht innerlich und stumm, und das Bewußtsein wird nicht für es selbst. Formiert das Bewußtsein ohne die erste absolute Furcht, so ist es nur ein eitler eigner Sinn; denn seine Form oder Negativität ist nicht die Negativität an sich; und sein Formieren kann ihm daher nicht das Bewußtsein seiner als des Wesens geben. Hat es nicht die absolute Furcht, sondern nur einige Angst ausgestanden, so ist das negative Wesen ihm ein äußerliches geblieben, seine Substanz ist von ihm nicht durch und durch angesteckt. Indem nicht alle Erfüllungen seines natürlichen Bewußtseins wankend geworden, gehört es an sich noch bestimmtem Sein an; der eigne Sinn ist Eigensinn, eine Freiheit, welche noch innerhalb der Knechtschaft stehenbleibt. So wenig ist sie, als Ausbreitung über das Einzelne betrachtet, allgemeines Bilden, absoluter Begriff, sondern eine Geschicklichkeit, welche nur über einiges, nicht über die allgemeine Macht und das ganze gegenständliche Wesen mächtig ist.

Hegel,
Auszug aus „Die Phänomenologie des Geistes – Kapitel 4: Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst 

Samstag, 24. Dezember 2011

Ampel-Pitch

Die Filmproduzentenlandschaft ist ja leider geprägt von dem Missverständnis, dass eine richtig schmissige Prämisse völlig ausreichend wäre für ein gutes Drehbuch und damit auch für einen guten Film. Deswegen werden die armen Drehbuchautoren immer häufiger gedrängt, ihre mühsam austarierten Dialoge gefälligst in der Schublade zu lassen und statt dessen in zehnminütigen Pitch-Sessions die Prämisse zu erzählen. Und da die Produzenten immer weniger Geld haben und weil Geld Zeit ist, wurden aus den zehn Minuten erst fünf, dann zwei, und inzwischen schwärmt man vom sogenannten »Fahrstuhl-Pitch« (vier Stockwerke müssen genügen für die Grundzüge der Geschichte) und dem »Putzfrauen-Pitch« (Produzenten erforschen das Zielgruppenpotential, indem sie einen Zweizeiler ihrer vom Leben frustrierten Putzfrau vorlesen). Fatalisten erwarten bereits den »Urinal-Pitch« (die Schlusspointe sollte beim Abschütteln erfolgen) und den »Ampel-Pitch« (das Zurufen von zwei bis drei Worten im Vorübergehen).

Daniel Bickermann

Mittwoch, 21. Dezember 2011

Montag, 19. Dezember 2011

Kinoglas

Unsere Richtung nennt sich „Kinoglas“ („Filmauge“). Wir, die wir für das Kinoglas kämpfen nennen uns „Kinoki“. Den Terminus Filmkunst nennen wir möglichst nicht, ebenso wie jede gebräuchliche oder zufällige Wortzusammensetzung. Deshalb benutzen unsere Gegner sie so gern.
Und wir haben viele Feinde. Anders geht es nicht. Das stört natürlich bei der Verwirklichung unserer Ideen, aber dafür stärkt es uns im Kampf und schärft die Gedanken.
Wir treten der künstlerischen Kinematographie entgegen, aber sie erweist sich uns hundertmal überlegen. Mit den Geld-Krümmeln, die vom Tisch der künstlerischen Kinematographie fallen, aber manchmal auch gänzlich ohne Mittel, bauen wir unseren bescheidenen Filmchen zusammen.
Der Kinoprawda wurden die Filmtheater verschlossen, aber sie konnte nicht aus dem öffentlichen Bewußtsein und aus dem Bewußtsein der unabhängigen Presse vertrieben werden. Die Kinoprawda erscheint unzweideutig als Wendepunkt in der Geschichte der russischen Kinematographie.
Erfolg oder Misserfolg dieses oder jenes unserer Filmwerke hat nur kommerzielle Bedeutung und ist nur wichtig für die Durchschlagskraft unserer Bestrebungen; einen Einfluß auf unsere Ideen werden sie nicht nehmen. Für uns sind unsere Filmarbeiten – ob sie nun gelungen sind oder nicht – gleich wertvoll, insofern sie die Idee des Kinoglas weiterführen und insofern alle 100 bis 200 Meter misslungener Aufnahmen für die nächsten – gelungenen – 200 Meter eine Lehre sind.
Die erste Serie von Kinoglas ist deshalb von den Kinoki sehr richtig Kinoglas tastet sich vorwärts genannt worden. Damit ist die Behutsamkeit der Filmkamera bei der Erkundung des Lebens gemeint, denn ihre Hauptaufgabe ist es nicht, sich im Chaos des Lebens zu verlieren, sondern sich in der Umgebung zurechtzufinden, in die sie geraten ist.
Die Aufgabe der folgenden Serien wird es sein, diese Erkundung des Lebens bis zu einem möglichen Maximum zu steigern, und die Aufmerksamkeit ununterbrochen im technischen Sinne zu vertiefen.
Alle Menschen sind in einem mehr oder weniger strengen Maße – Dichter, Maler, Musiker.
Oder es gibt überhaupt keine Dichter, Maler oder Musiker.
Schon der millionste Teil der Erfindungen, die jeder Mensch bei seiner alltäglichen Arbeit macht, schließt in sich bereits ein Element der Kunst ein, wenn es auch nicht mit diesem Namen belegt zu werden pflegt.
Wir ziehen die trockene Chronik dem konstruierten Szenarium vor, wenn wir über die Lebensgewohnheiten und die Arbeit der Menschen berichten. Wir mischen uns niemals in das Leben ein. Wir nehmen Fakten auf, organisieren sie und bringen sie über die Filmleinwand in das Bewußtsein der Arbeitenden. Wir berücksichtigen, was die Welt erklärt, was uns klar macht, wie sie ist – das ist unsere Hauptaufgabe.
Kinoglas stellte sich die Aufgabe, den ausgedehnten Kampf mit der bürgerlichen Kinematographie aufzunehmen, und wir bezweifeln sehr, daß es in der Folgezeit möglich sein wird, - ungeachtet der neuen weltpolitischen Situation – unserem revolutionären Ansturm ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen.
Eine andere Gefahr. Die Gefahr der Entstellung unserer Ideen. Gefährliche Surrogate und Gegenströmungen, die wir Seifenblasen aufquellen, bis sie, wie Seifenblasen, platzen.
Das ist die Aufgabe aller Arbeitenden – wachsam den einmal begonnen Kampf fortzusetzen, sich immer von Betrug fernzuhalten und nie die süßlichen Kopien mit den harten Originalen zu verwechseln

Aus dem Reglement der Kinoki

Allgemeine Hinweise für alle Aufnahmen: die Kamera ist unsichtbar.
1. Schnappschuß – alte Kriegsregel: Augenmaß, Geschwindigkeit, Abdrücken.
2. Aufnahme von einem öffentlichen Beobachtungsposten aus, der von Kinok-Beobachtern vorbereitet wurde. Geduld, absolute Stille, im geeigneten Moment – sofortiger Angriff.
3. Aufnahme vom verborgenen Beobachtungsposten aus. Geduld und absolute Aufmerksamkeit.
4. Aufnahme ohne naturalistische Gesichtspunkte.
5. Aufnahme ohne künstlerische Gesichtspunkte.
6. Aufnahme auf Entfernung.
7. Aufnahme von Bewegung.
8. Aufnahme von oben.

Dsiga Wertow, 1924

Animationen von David Firth

Sock 3: 10 Different Types of soup

Take This Pill

Tat twam asi

Ob ich ein Moos, einen Kristall, eine Blume, einen goldenen Käfer bewundere oder einen Wolkenhimmel, ein Meer mit den gelassen Riesen-Atemzügen seiner Dünungen, einen Schmetterlingsflügel mit der Ordnung seiner kristallenen Rippen, dem Schnitt und den farbigen Einfassungen seiner Ränder, der vielfältigen Schrift und Ornamentik seiner Zeichnung und unendlichen, süßen, zauberhaft gehauchten Übergängen und Abtönungen der Farben – jedesmal wenn ich mit dem Auge oder mit einem andern Körpersinn ein Stück Natur erlebe, wenn ich von ihm angezogen und bezaubert bin und mich seinem Dasein und seiner Offenbarung für einen Augenblick öffne, dann habe ich in diesem selben Augenblick die ganze habsüchtige blinde Welt der menschlichen Notdurft verlassen und vergessen, und statt zu denken oder zu befehlen, statt zu erwerben oder auszubeuten, zu bekämpfen oder zu organisieren, tue ich für diesen Augenblick nichts anderes als „erstaunen“ wie Goethe, und mit diesem Erstaunen bin ich nicht nur Goethes und aller andern Dichter und Weisen Bruder geworden, nein, ich bin auch der Bruder alles dessen, was ich bestaune und als lebendige Welt erlebe: des Falters, des Käfers, der Wolke, des Flusses und Gebirges, denn ich bin auf dem Weg des Erstaunens für einen Augenblick der Welt der Trennungen entlaufen und in die Welt der Einheit eingetreten, wo ein Ding und Geschöpf zum andern sagt: Tat twam asi. („Das bist Du.“)

Hermann Hesse

Mittwoch, 14. Dezember 2011

'Les Triplettes de Belleville' von Sylvain Chomet

Teil 1

Teil 2

Oh Dämonischer Wahnsinn

(...)
Und es entspricht doch wirklich nicht so ganz der Wahrheit, wenn da geredet wird: „Es ist selbstverständlich, dass sich ein Leidender sehr gern helfen lassen will, wenn ihm nur jemand helfen kann“ – das ist durchaus nicht so, auch wenn das Gegenteil nicht immer so verzweifelt ist wie hier. Die Sache ist die: Ein Leidender wünscht sich eine oder mehrere Arten, wie ihm geholfen werden könnte. Wenn ihm so geholfen werden wird, ja, dann lässt er sich gern helfen. Doch wenn es im tieferen Sinn Ernst mit dem Angebot der Hilfe wird, insbesondere wenn es dann von einem Höheren oder dem Höchsten kommt – diese Demütigung, dass man die Hilfe unbedingt und in jeder Art annehmen muss, dass man in der Hand des „Helfers“, für den alles möglich ist, gleichsam ein Nichts wird, oder nur, dass man sich einem anderen Menschen beugen muss, dass man, solange man Hilfe sucht, aufgeben muss, man selbst zu sein – oh, das ist gewiss ein großes, auch langwieriges und qualvolles Leiden, in dem das Selbst dennoch nicht so sehr vor Schmerzen stöhnt und das es daher, unter Wahrung dessen, es selbst zu sein, im Grunde vorzieht.
Doch je mehr Bewusstsein in einem solchen Leidenden ist, der verzweifelt er selbst sein will, umso mehr potenziert sich auch die Verzweiflung und wird das Dämonische. Dessen Ursprung ist häufig der: Ein Selbst, das verzweifelt es selbst sein will, stöhnt in dieser oder jener quälenden Beschwerlichkeit, die sich nun einmal nicht wegnehmen oder von seinem konkreten Selbst abtrennen lässt. Gerade auf diese Qual wirft er dann seine ganze Leidenschaft, die schließlich ein dämonisches Rasen wird. Wäre es nun so, dass Gott im Himmel und alle Engel ihm Hilfe dagegen anböten – nein, jetzt will er nicht, jetzt ist es zu spät, einmal hätte er gern alles dafür gegeben, um diese Qual loszuwerden, da ließ man ihn warten, jetzt ist die Zeit vorbei, jetzt will er lieber gegen alles rasen, will der von aller Welt, vom Dasein Benachteiligte sein, dem es gerade von Wichtigkeit ist, darauf zu achten, dass er seine Qual bei der Hand hat, dass niemand sie von ihm nimmt – denn sonst kann er doch nicht bezeugen und sich selbst davon überzeugen, dass er Recht hat. Das setzt sich am Ende in seinem Kopf so fest, dass er sich aus einem ganz eigenen Grund vor der Ewigkeit fürchtet – weil diese ihm nämlich seinen, dämonisch verstanden, unendlichen Vorzug vor anderen Menschen, seine, dämonisch verstanden, Berechtigung, der zu sein, der er ist, wegnehmen könnte. – Er selbst will er sein; angefangen hat er mit der unendlichen Abstraktion vom Selbst, jetzt ist er schließlich so konkret geworden, dass es ein Unmöglichkeit wäre, in diesem Sinn ewig zu werden, und doch will er verzweifelt er selbst sein. Oh, dämonischer Wahnsinn, er rast am heftigsten bei dem Gedanken daran, dass es der Ewigkeit einfallen könnte, ihm sein Elend wegzunehmen.
(…)
Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode

Dienstag, 13. Dezember 2011

das »abschätzende Thier an sich«

8.
Das Gefühl der Schuld, der persönlichen Verpflichtung, um den Gang unsrer Untersuchung wieder aufzunehmen, hat, wie wir sahen, seinen Ursprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältniss, das es giebt, gehabt, in dem Verhältniss zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: hier trat zuerst Person gegen Person, hier mass sich zuerst Person an Person. Man hat keinen noch so niedren Grad von Civilisation aufgefunden, in dem nicht schon Etwas von diesem Verhältnisse bemerkbar würde. Preise machen, Werthe abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen – das hat in einem solchen Maasse das allererste Denken des Menschen präoccupirt, dass es in einem gewissen Sinne das Denken ist: hier ist die älteste Art Scharfsinn herangezüchtet worden, hier möchte ebenfalls der erste Ansatz des menschlichen Stolzes, seines Vorrangs-Gefühls in Hinsicht auf anderes Gethier zu vermuthen sein. Vielleicht drückt noch unser Wort »Mensch« (manas) gerade etwas von diesem Selbstgefühl aus: der Mensch bezeichnete sich als das Wesen, welches Werthe misst, werthet und misst, als das »abschätzende Thier an sich«. Kauf und Verkauf, sammt ihrem psychologischen Zubehör, sind älter als selbst die Anfänge irgend welcher gesellschaftlichen Organisationsformen und Verbände: aus der rudimentärsten Form des Personen-Rechts hat sich vielmehr das keimende Gefühl von Tausch, Vertrag, Schuld, Recht, Verpflichtung, Ausgleich erst auf die gröbsten und anfänglichsten Gemeinschafts-Complexe (in deren Verhältniss zu ähnlichen Complexen) übertragen, zugleich mit der Gewohnheit, Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen. Das Auge war nun einmal für diese Perspektive eingestellt: und mit jener plumpen Consequenz, die dem schwerbeweglichen, aber dann unerbittlich in gleicher Richtung weitergehenden Denken der älteren Menschheit eigenthümlich ist, langte man alsbald bei der grossen Verallgemeinerung an »jedes Ding hat seinen Preis; Alles kann abgezahlt werden« – dem ältesten und naivsten Moral-Kanon der Gerechtigkeit, dem Anfange aller »Gutmüthigkeit«, aller »Billigkeit«, alles »guten Willens«, aller »Objektivität« auf Erden. Gerechtigkeit auf dieser ersten Stufe ist der gute Wille unter ungefähr Gleichmächtigen, sich mit einander abzufinden, sich durch einen Ausgleich wieder zu »verständigen« – und, in Bezug auf weniger Mächtige, diese unter sich zu einem Ausgleich zu zwingen. –

Nietzsche, Zur Genealogie der Moral

Montag, 12. Dezember 2011

Auszüge aus Lektüre für Minuten 2

Ich glaube: daß das an sich sinnlose und nichts als grausame Menschenleben dem einzelnen die Möglichkeit läßt, gegen hohen Einsatz es mit Sinn und Schönheit anzufüllen. Ich finde aber selten einen, der dazu nicht lächelt… [Man] flieht entweder in ein privates Vergessen oder Trauern oder rüstet sich zum Kampf, um Gewalt mit Gewalt zu erwidern und eine nächste große Zeit mit Kanonen und Gas vorzubereiten.

Jede Sehnsucht nach Beseelung des Lebens ist heute von den herrschenden Mächten verfemt.

Wir leben heute alle in Verzweiflung, alle wachen und leidensfähigen Menschen, und sind damit zwischen Gott und das Nichts gestellt. Zwischen ihnen atmen wir aus und ein, schwingen und pendeln. Wir hätten jeden Tag Lust, das Leben hinzuwerfen, und werden doch von dem Teil in uns gehalten, der überpersönlich ist. So wird unsere Schwäche, ohne daß wir darum Helden wären, zur Tapferkeit. Und wir retten ein wenig vom überlieferten Glauben für die Kommenden.

Herman Hesse

Freitag, 9. Dezember 2011

neue freie Zeit

Nicht genug daran, daß es eine Zeit gibt, gibt es auch eine große Zeit, die neuestens auch eine neue Zeit ist. Eine solche sollte doch eigentlich eine freie Zeit sein. Es dürfte sich aber herausstellen, daß sie wie die kleine Zeit und wie die alte Zeit nur eine neue freie Zeit ist.

Karl Kraus

Donnerstag, 8. Dezember 2011

...i...c...h...

Ich,
der sich,
in sich zurückzieht
um sein Selbst zu fassen,
sich nicht fassen kann,
nach Aussen drängt,
um sich fassen 
zu lassen

nicoosi

Battles - Ice Cream

neoneone

und alles schreit nach Renaissance!

Menschensuppe


von nicoosi
Collage, 41cm × 31cm

LCD Soundsystem - I Can Change

Madeleine - Auszug aus Combray

Die Terrasse von Vernon, Pierre Bonnard

Ebenso ist es mit unserer Vergangenheit. Vergebens versuchen wir sie wieder heraufzubeschwören, unser Geist bemüht sich umsonst. Sie verbirgt sich außerhalb seines Machtbereichs und unerkennbar für ihn in irgendeinem stofflichen Gegenstand (oder der Empfindung, die dieser Gegenstand in uns weckt); in welchem, ahnen wir nicht. Ob wir diesem Gegenstand aber vor unserem Tode begegnen oder nie auf ihn stoßen, hängt einzig vom Zufall ab.
Viele Jahre lang hatte von Combray außer dem, was der Schauplatz und das Drama meines Zubettgehens war, nichts für mich existiert, als meine Mutter an einem Wintertage, an dem ich durchfroren nach Hause kam, mir vorschlug, ich solle entgegen meiner Gewohnheit eine Tasse Tee zu mir nehmen. Ich lehnte erst ab, besann mich dann aber, ich weiß nicht warum, eines anderen. Sie ließ darauf eines jener dicken ovalen Sandtörtchen holen, die man 'Madeleine' nennt und die aussehen, als habe man als Form dafür die gefächerte Schale einer St.-Jakobs-Muschel benutzt. Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag und die Aussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, daß sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, aber darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart war. Woher kam sie mir? Was bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen? Ich trinke einen zweiten Schluck und finde nichts anderes darin als im ersten, dann einen dritten, der mir sogar etwas weniger davon schenkt als der vorige. Ich muß aufhören, denn die geheime Kraft des Trankes scheint nachzulassen. Es ist ganz offenbar, daß die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir. Er hat sie dort geweckt, aber er kennt sie nicht und kann nur auf unbestimmte Zeit und mit schon schwindender Stärke seine Aussage wiederholen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiß und die ich wenigstens wieder von neuem aus ihm herausfragen und unverfälscht zu meiner Verfügung haben möchte, um entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen. Ich setze die Tasse nieder und wende mich meinem Geiste zu. Er muß die Wahrheit finden. Doch wie? Eine schwere Ungewißheit tritt ein, so oft der Geist sich überfordert fühlt, wenn er, der Forscher, zugleich die dunkle Landschaft ist, in der er suchen soll und wo das ganze Gepäck, das er mitschleppt, keinen Wert für ihn hat. Suchen? Nicht nur das: Schaffen. Er steht vor einem Etwas, das noch nicht ist, und das doch nur er in seiner Wirklichkeit erfassen und dann in sein eigenes Licht rücken kann.
Wieder frage ich mich, was das für ein unbekannter Zustand sein mag, der keinen logischen Beweis, wohl aber den Augenschein eines Glückes mit sich führte, einer Wirklichkeit, der gegenüber alle andern verblassen. Ich will versuchen, ihn von neuem herbeizuführen. Ich durchlaufe rückwärts im Geiste den Weg bis zu dem Moment, wo ich den ersten Löffel voll Tee an den Mund geführt habe. Ich finde den gleichen Zustand wieder, doch von keinem neuen Licht erhellt. Ich verlange von meinem Geist das Bemühen, die fliehende Empfindung noch einmal wieder heraufzubeschwören. Und damit sein Schwung sich an keinem Hindernis brechen kann, räume ich alles hinweg, jeden fremden Gedanken, ich schirme mein Gehör und meine Aufmerksamkeit gegen alle Geräusche des Nebenzimmers ab. Dann aber, da ich fühle, wie mein Geist sich erfolglos abmattet, zwinge ich ihn umgekehrt zu jener Zerstreuung, die ich ihm vorenthalten wollte, lasse ihn an anderes denken und sich gleichsam erholen, bevor er noch einmal den Anlauf unternimmt. Dann schaffe ich ein zweites Mal völlige Leere um ihn,ich stelle ihm den noch ganz frischen Geschmack jenes ersten Schlucks gegenüber und spüre, wie etwas in mir sich zitternd regt und verschiebt, wie es sich zu erheben versucht, wie es in großer Tiefe den Anker gelichtet hat; ich weiß nicht, was es ist, doch langsam steigt es in mir empor; ich spüre dabei den Widerstand und höre das Rauschen und Raunen der durchmessenen Räume.
Sicherlich muß das, was so in meinem Inneren in Bewegung geraten ist, das Bild, die visuelle Erinnerung sein, die zu diesem Geschmack gehört und die nun versucht, mit jenem bis zu mir zu gelangen. Aber sie müht sich in zu großer Ferne und nur allzu schwach erkennbar ab; kaum nehme ich einen gestaltlosen Lichtschein wahr, in dem sich der ungreifbare Wirbel der Farben vermischt und verliert; aber ich kann die Form nicht unterscheiden, nicht von ihr als dem einzig möglichen Dragoman erbitten, daß sie mir die Aussage ihres Begleiters, ihres unzertrennlichen Gefährten, des Geschmacks übersetzt, sie nicht fragen, um welche Begebenheit, um welche Epoche der Vergangenheit es sich handeln mag.
Wird sie bis an die Oberfläche meines Bewußtseins gelangen, diese Erinnerung, jener Augenblick von einst, der, angezogen durch einen ihm gleichen Augenblick, von so weit her gekommen ist, um alles in mir zu wecken, in Bewegung zu bringen und wieder heraufzuführen? Ich weiß es nicht. Jetzt fühle ich nichts mehr, er ist zum Stillstand gekommen, vielleicht in die Tiefe geglitten; wer weiß, ob er jemals wieder aus seinem Dunkel emporsteigen wird? Zehnmal muß ich es wieder versuchen, mich zu ihm hinunterzubeugen. Und jedesmal rät mir die Trägheit, die uns von jeder schwierigen Aufgabe, von jeder bedeutenden Leistung fernhalten will, das Ganze auf sich beruhen zu lassen, meinen Tee zu trinken im ausschließlichen Gedanken an meine Kümmernisse von heute und meine Wünsche für morgen, die ich unaufhörlich und mühelos in mir bewegen kann.
Und dann mit einem Male war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tage vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging) sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte. Der Anblick jener Madeleine hatte mir nichts gesagt, bevor ich davon gekostet hatte; vielleicht kam das daher, daß ich dies Gebäck, ohne davon zu essen, oft auf den Tischen der Bäcker gesehen hatte und daß dadurch sein Bild sich von jenen Tagen in Combray losgelöst und mit anderen, späteren verbunden hatte; vielleicht auch daher, daß von jenen so lange aus dem Gedächtnis entschwundenen Erinnerungen nichts mehr da war, alles sich in nichts aufgelöst hatte: die Formen – darunter auch die dieser kleinen Muschel aus Kuchenteig, die so behäbig und sinnenfroh wirkt unter ihrem strengen, frommen Faltenkleid – waren versunken oder sie hatten, in tiefen Schlummer versenkt, jenen Auftrieb verloren, durch den sie ins Bewußtsein hätten emporsteigen können. Aber wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermeßliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen.

Marcel Proust

Montag, 5. Dezember 2011

Freitag, 18. November 2011

Mittwoch, 16. November 2011

Die wohlfeilste Art des Stolzes


 (…) Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verräth in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz seyn könnte, indem er sonst nicht zu Dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen theilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz seyn könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu seyn: hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu vertheidigen. (…)

Schopenhauer

Montag, 14. November 2011

Goethe

Was klagst du über Feinde?
Sollten Solche je werden Freunde,
Denen das Wesen, wie du bist,
Im Stillen ein ewiger Vorwurf ist?

W. Ö. Divan

Freitag, 11. November 2011

Donnerstag, 10. November 2011

Dienstag, 8. November 2011

durch jeden Streich und jeden Schlich

– Daher also ist, in allen Ländern, die Hauptbeschäftigung aller Gesellschaft das Kartenspiel geworden: es ist der Maaßstab des Werthes derselben und der deklarirte Bankrott an allen Gedanken. Weil sie nämlich keine Gedanken auszutauschen haben, tauschen sie Karten aus und suchen einander Gulden abzunehmen. O, klägliches Geschlecht! Um indessen auch hier nicht ungerecht zu seyn, will ich den Gedanken nicht unterdrücken, daß man zur Entschuldigung des Kartenspiels allenfalls anführen könnte, es sei eine Vorübung zum Welt- und Geschäftsleben, sofern man dadurch lernt, die vom Zufall unabänderlich gegebenen Umstände (Karten) klug zu benutzen, um daraus was immer angeht zu machen, zu welchem Zwecke man sich denn auch gewöhnt, Contenance zu halten, in dem man zum schlechten Spiel eine heitere Miene aufsetzt. Aber eben deshalb hat andererseits das Kartenspiel einen demoralisierenden Einfluß. Der Geist des Spiels nämlich ist, daß man auf alle Weise, durch jeden Streich und jeden Schlich, dem Andern das Seinige abgewinne. Aber die Gewohnheit im Spiel so zu verfahren wurzelt ein, greift über in das praktische Leben, und man kommt allmählig dahin, in den Angelegenheiten des Mein und Dein es eben so zu machen und jeden Vorteil, den man eben in der Hand hält, für erlaubt zu halten, sobald man nur es gesetzlich darf. Belege hiezu giebt ja das bürgerliche Leben täglich.

Schopenhauer

Montag, 7. November 2011

Donnerstag, 3. November 2011

Ein Wort zum Schicksal Monsieur d'Aiglemonts in der Epoche der Restauration

von Honoré de Balzac

(...) Trifft man nicht auf viele Menschen, die es verstehen, ihre unsagbare Hohlheit vor den meisten Leuten, die sie kennen, zu verheimlichen? Ein hoher Rang, vornehme Abstammung, eine wichtige Stellung, der Firnis höflicher Geschliffenheit, betont reserviertes Auftreten oder der Glanz des Vermögens sind für sie wie Schutzmauern, welche die Kritiker daran hindern, in ihr innerstes Dasein einzudringen. Diese Leute gleichen den Königen, von deren wirklichem Körpermaß, Charakter und Sitten wir niemals eine gute Kenntnis besitzen und über die wir kein ausgewogenes Urteil fällen können, weil der Betrachter zu nah oder zu fern steht. Diese Persönlichkeiten ohne echtes Verdienst fragen aus, anstatt zu sprechen, sie beherrschen die Kunst, andere in Szene zu setzen, um nicht selbst vor ihnen posieren zu müssen. Mit Geschick und Erfolg ziehen sie dann einen jeden am Faden seiner Leidenschaften oder Interessen und treiben so ihr Spiel mit Menschen, die ihnen eigentlich überlegen sind; sie machen Marionetten aus ihnen und halten sie für kleine Geister, weil sie sie auf ihr Niveau haben herabziehen können. So triumphiert denn ihr armseliges, aber beharrliches Denken naturgemäß über die Mobilität großer Gedanken. Um diese leeren Köpfe richtig beurteilen und ihre negativen Qualitäten abschätzen zu können, muß der Beobachter mehr Feingefühl als Geistesschärfe, mehr Geduld als Weitsicht, mehr Subtilität und Takt als gedankliche Größe und Erhabenheit besitzen. Mit welcher Gewandtheit sie auch ihre schwachen Seiten zu verbergen suchen, so fällt es diesen Blendern dennoch schwer, ihre Frauen, ihre Mütter, ihre Kinder oder den Freund des Hauses zu täuschen; diese Personen aber hüten fast immer das Geheimnis, das gewissermaßen an die gemeinsame Ehre rührt; oft unterstützen sie sie gar in ihrem Bestreben, der Welt zu imponieren. Wenn dank dieses häuslichen Zusammenhalts so mancher Tropf für einen überlegenen Geist gehalten, gibt es anderseits ebenso viele überlegene Geister, die man als Tröpfe ansieht, so dass in der Gesellschaft die Tüchtigkeit stets im selben Umfang sichtbar ist. Nun bedenke man die Rolle, die eine Frau von Verstand und Gefühl angesichts eines solchen Ehemannes zu spielen hat, und stelle sich die schmerzensreichen, hingebungsvollen Existenzen vor, denen nichts die zarte Liebesfülle ihres Herzens vergelten kann. Gerät eine starke Frau in diese furchtbare Lage, so vermag sie sich nur durch ein Verbrechen daraus zu lösen, wie Katharina II. es tat, die dennoch „die Große“ heißt. Da aber nicht alle Frauen auf einem Thron sitzen, unterwerfen sie sich meistens der häuslichen Misere, die dadurch, daß sie im verborgenen liegt, nicht weniger schrecklich ist. Jene, die sich hienieden über ihr Unglück schnell hinwegtrösten wollen, bereiten sich oft nur andere Qualen, wenn sie gleichzeitig bestrebt sind, ihren Pflichten zu genügen, oder sie laden Schuld auf sich, falls sie die Gesetze brechen, um ihrem Vergnügen frönen zu können. Diese Überlegungen lassen sich alle auf Julies verborgene Lebensgeschichte anwenden. (…)

Montag, 31. Oktober 2011

Nacht und Nebel von Alain Resnais

Teil 1/4


Teil 2/4


Teil 3/4


Teil 4/4

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Selbstporträt


von nicoosi
Collage, 148 mm × 209 mm

Gnome

Spend the years of learning squandering
Courage for the years of wandering
Through a world politely turning
From the loutishness of learning

Samuel Beckett

Dienstag, 18. Oktober 2011

Korrektionsstrafe

(...)
Selbst heute noch, nach so vielen Jahren, kommt mir dies alles irgendwie übel vor. Manches kommt mir jetzt übel vor, aber . . . sollte ich nicht hier meine „Aufzeichnungen“ abbrechen? Ich glaube, es war ein Fehler, daß ich sie überhaupt begonnen habe. Wenigstens habe ich mich während des Schreibens dieser Novelle die ganze Zeit geschämt: also ist es nicht mehr Literatur, sondern Korrektionsstrafe. Denn lange Geschichten darüber erzählen, wie ich das Leben verfehlt habe durch moralische Zersetzung in meinem Winkel, durch Mangel einer Außenwelt, durch Entwöhnung von allem Lebendigen und durch sorgfältig gepflegte Bosheit im Kellerloch – und das ist bei Gott wenig unterhaltend; ein Roman verlangt einen Helden, hier aber sind absichtlich alle Eigenschaften eines Anti-Helden zusammengetragen, vor allen Dingen wird das Ganze einen äußerst unangenehmen Eindruck hervorrufen, haben wir uns doch alle des Lebens entwöhnt, alle hinken wir, der eine mehr, der andere weniger. Haben wir uns doch so sehr entwöhnt, daß uns mitunter vor dem wirklichen ‚lebendigen Leben’ beinahe Ekel erfaßt, und darum können wir es nicht ausstehen, wenn wir an das Leben erinnert werden. Sind wir doch so weit gekommen, daß wir das wirkliche lebendige Leben beinahe für Arbeit, fast für einen Frondienst halten und im geheimen uns vollkommen einig sind, daß es im Buch besser steht. Und darum zappeln wir uns zuweilen ab, warum gebärden wir uns wie toll, worum betteln wir? Das wissen wir selbst nicht. Es würde uns zu unserem eigenen Schaden gereichen, wenn unsere Grillen in Erfüllung gingen. Nun, probieren Sie es, geben Sie uns, meinetwegen, größere Selbstständigkeit, Ellenbogenfreiheit, erweitern Sie das Tätigkeitsfeld, lockern Sie die Bevormundung, und wir . . . Aber ich versichere Ihnen: wir werden sofort wieder um Bevormundung betteln. Ich kann mir denken, daß Sie vielleicht über diese Behauptung ungehalten sein werden, daß Sie schreien und mit den Füßen stampfen werden: „Reden Sie von sich und von ihrem Kellerloch-Elend, aber unterstehen Sie sich, ‚Wir alle’ zu sagen.“ Erlauben Sie, meine Herrschaften, ich will mich durchaus nicht etwa durch dieses ‚Wir alle’ rechtfertigen. Was mich im besonderen angeht, so habe ich in meinem Leben lediglich das bis zum Äußersten gewagt, was Sie nicht einmal bis zur Hälfte gewagt haben, wobei Sie Ihre Feigheit auch noch für Einsicht hielten und sich trösteten, indem Sie sich selbst betrogen. Also stellt sich heraus, daß ich zu guter Letzt noch ‚lebendiger’ bin als Sie, meine Herrschaften. Sehen Sie doch genau hin! Wir wissen ja nicht einmal, wo das Lebendige jetzt lebt, was es ist, wie es heißt! Laßt uns allein, ohne Buch, und wir werden sofort irre, unschlüssig – wissen nicht wohin, an wen uns halten, was lieben und hassen, was achten und was verachten! Es ist uns ja sogar lästig, Mensch zu sein – ein Mensch mit wirklichem eigenen Fleisch und Blut; wir schämen uns dessen, halten es für eine Schmach und trachten lieber danach, irgendwelche phänomenale Allgemeinmenschen zu sein. Wir sind Totgeborene, werden wir doch schon lange nicht mehr von lebendigen Vätern gezeugt, und das gefällt uns immer besser und besser. Wir bekommen Geschmack daran. Bald werden wir so weit sein, daß wir von einer Idee gezeugt werden. Aber genug – ich habe keine Lust mehr, ‚aus dem Kellerloch’ zu schreiben . . .

Auszug aus „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“
Von Fjodor Dostojewskij

Swetlana Geier

Sonntag, 16. Oktober 2011

Doch zur Sache

Trotz meiner großen Armut an Kenntnissen (worunter ich nicht alles verstehe, was ich weiß, sondern nur was ich auch zweckmäßig zusammengedacht habe), finde ich mich oft nicht wenig durch den Gedanken beruhigt, daß ich das durch tausendfaches Interesse gespaltene und tausendfach sich selbst betrügende menschliche Herz dem Grad habt kennen lernen, daß ich an einer Sache zweifeln kann, und wenn sie in tausend Büchern bejaht stünde, tausend Jahre durch geglaubt worden, und als untrüglich von schönen und häßlichen Lippen verkündigt worden wäre. Ich habe mir zur unverbrüchlichen Regel gemacht, aus Respekt schlechterdings nichts zu glauben, demohngeachtet aber, vor wie nach, fortzufahren, aus Respekt am gehörigen Ort oft zu tun und zu sagen, was ich nicht glaube und nicht glauben kann. Der Mensch ist ein solches Wunder von Seltsamkeit, daß ich überzeugt bin, es gibt Leute, die oft meinen, sie glaubten etwas und glaubens doch nicht, die sich selbst belügen, ohne es zu wissen, und Dinge einem andern nachzumeinen und nachzufühlen glauben, die sie ihm bloß nachsprechen. Daß das wahr ist, davon, sage ich, bin ich sicher überzeugt, denn ich habe mich ehemals selbst darüber ertappt. Dieses hat mich sehr mißtrauisch gegen mich selbst und noch mehr gegen die Versicherungen anderer gemacht, deren Interesse, Gattung von Eigenliebe und Verstandeskräfte ich nicht kenne, und von denen ich also nicht weiß, ob sie ein Votum haben, oder ob sie bloß Herolde sind. Wir sind nur gar zu geneigt zu glauben, das sei wahr, was wir oft bejahen hören und was viele glauben, und bedenken nicht, daß der Schein, der zehn betrügt, Millionen betrügen kann. Neun Zehnteile des menschlichen Geschlechts glauben, die Erde stünde still, und es ist doch nicht wahr. Wir bedenken nicht, daß, wenn Einer halb aus Interesse etwas bejaht, es Tausende ganz aus Interesse nachsagen, und zehntausend, weil sie doch was sagen müssen, und gar keine Meinung haben, oder bloß anderer ihre. Das ist der größte Teil der Menschen. Es ist daher Jammer Schade, daß wir so oft die Stimmen nur zählen können. Wo man sie wägen kann, soll man es nie versäumen. Ich kann daher nicht leugnen, daß mir die Leute vorzüglich angenehm sind, die ohne Affektation zuweilen die evidentesten Sätze bezweifeln, oder Leute zu entschuldigen suchen, die sie bezweifelt haben, so wie neulich K... von D..., der behauptet hatte, 3 mit 0 multipliziert wäre 3, oder mit andern Worten dreimal nichts wäre drei. Ohne im geringsten solchen absurden Zweifeln, wie diese, eben angeführt, das Wort zu reden, glaube ich auch, daß es keine größere Verstandsstärkung gibt, als Mißtrauen gegen alle Meinungen der Menge. Man kann sich immer sicher zurufen: das ist nicht wahr, und wenn man auch gleich am Ende findet, daß man sich geirrt hat; so wird man diesen Irrtum nie ohne Gewinn von Seiten des Systems von Kenntnissen entdecken, die man hat, und dessen Festigkeit doch eigentlich ausmacht, was wir Seelenstärke nennen. Sagen oder gar predigen muß man diese Zweifel eben nicht immer. In Religionssachen ist es das sichere Zeichen eines schwachen Kopfs. Denn was ist wahr an diesen Dingen, das nicht sein Wahreres haben kann? Und wo es auf zeitliche Ruhe und Glückseligkeit ankommt, muß man, meiner Meinung nach, allgemein angenommene Sätze so wenig ohne große Ursache ändern, als einen geprüften guten Minister mit einem andern vertauschen, von dessen Geschicklichkeit man sich mehr bloß verspricht. In der Frage, worüber ich jetzt schreibe, könnte die mutwilligste öffentliche Untersuchung keinen Schaden stiften, ja nutzen würde sie, weil hierin das kleinste Teilchen, dem Zaum anzulegen oder dem Sporn abzunehmen, ein gutes Werk tun heißt, es müßte dann sein, daß man so schriebe, daß man gerade das Gegenteil würkte, so wie jemand von L... s Abhandlung vom Selbstmord gesagt hat: Er wüßte nicht, seitdem er das Büchelchen gelesen hätte, käme ihn zuweilen der Kitzel an, sich selbst zu ermorden. – Sehen Sie nun, warum ich meinen Brief zurück verlange? Doch zur Sache.
(...)

Georg Christoph Lichtenberg

Freitag, 14. Oktober 2011

Montag, 10. Oktober 2011

Das Barbarische ist das Buchstäbliche.

Gänzlich versachlicht wird das Kunstwerk, kraft seiner puren Gesetzmäßigkeit, zum bloßen Faktum und damit als Kunst abgeschafft. Die Alternative, die in der Krisis sich öffnet, ist die, entweder aus der Kunst herauszufallen oder deren eigenen Begriff zu verändern.

Adorno, Ästhetische Theorie

Donnerstag, 29. September 2011

hydroelectric plant of Belo Monte


"The chief Raoni cries when he learns that brazilian president Dilma released the beginning of construction of the hydroelectric plant of Belo Monte, even after tens of thousands of letters and emails addressed to her and which were ignored as the more than 600 000 signatures. That is, the death sentence of the peoples of Great Bend of the Xingu river is enacted. Belo Monte will inundate at least 400,000 hectares of forest, an area bigger than the Panama Canal, thus expelling 40,000 indigenous and local populations and destroying habitat valuable for many species - all to produce electricity at a high social, economic and environmental cost, which could easily be generated with greater investments in energy efficiency."

Sonntag, 25. September 2011

Donnerstag, 22. September 2011

was einmal das Nützliche wäre

(...) Aber alles Nützliche ist in der Gesellschaft entstellt, verhext. Daß sie die Dinge erscheinen läßt, als wären sie um der Menschen willen da, ist die Lüge; sie werden produziert um des Profits willen, befriedigen die Bedürfnisse nur beiher, rufen diese nach Profitinteressenen hervor und stutzen sie ihnen gemäß zurecht. Weil das Nützliche, den Menschen zugute Kommende, von ihrer Beherrschung und Ausbeutung Gereinigte das Richtige wäre, ist ästhetisch nichts unerträglicher als seine gegenwärtige Gestalt, unterjocht von ihrem Gegenteil und durch es deformiert bis ins Innerste. Die raison d'être aller autonomen Kunst seit der Frühzeit der bürgerlichen Ära ist, daß einzig das Unnütze einsteht für das, was einmal das Nützliche wäre, der glückliche Gebrauch, Kontakt mit den Dingen jenseits der Antithese von Nutzen und Nutzlosigkeit. (...)

Adorno, Auszug aus Funktionalismus heute

Dienstag, 20. September 2011

Landschaft

von Nicoosi,
Collage, 210 mm × 297 mm

Donnerstag, 15. September 2011

Cathy Davey

Happy Slapping

Bad Weather

Montag, 12. September 2011

Sonntag, 11. September 2011

Erik Satie - Gymnopédie No. 1

Jacques Rigaut

Ich werde ernst sein wie das Vergnügen. Die Leute wissen nicht, was sie sagen. Es gibt keine Gründe zu leben, aber es gibt erst recht keine Gründe zu sterben. Es zu akzeptieren ist das einzige, was uns unsere Verachtung für das Leben bezeugen läßt. Das Leben ist es nicht wert, daß man sich die Mühe gibt, es zu verlassen. Man kann es einigen anderen aus Barmherzigkeit ersparen, aber sich selbst ? Die Verzweiflung, die Gleichgültigkeit, die Treulosigkeit, die Treue, die Einsamkeit, die Familie, die Freiheit, die Schwerfälligkeit, das Geld, die Armut, die Liebe, das Ausbleiben der Liebe, die Syphilis, die Gesundheit, der Schlaf, die Schlaflosigkeit, die Begierde, die Impotenz, die Platitüde, die Kunst, die Ehrbarkeit, die Schande, die Mittelmäßigkeit, die Intelligenz, alles kein Grund zur Aufregung. Wir wissen viel zu sehr, wozu diese Dinge gut sind, um uns vor ihnen in acht nehmen zu können, sie sind gerade gut genug, um einige belanglose Fälle von Suizid zu verbreiten. (Sicher, es gibt zweifellos das Leiden des Körpers. Mir geht es gut, umso schlimmer für die, die leberkrank sind. Ich bin weit davon entfernt, an den Opfern Gefallen zu finden, aber ich will es den Leuten nicht verübeln, wenn sie meinen, sie könnten ein Krebsgeschwür nicht aushalten.) Und dann, nicht wahr, ist es der Revolver, mit dem wir uns heute abend töten werden, wenn es uns beliebt, der uns befreit, der uns jede Chance zu leiden raubt. Die Verstimmung und die Verzweiflung sind im übrigen immer nur neue Gründe, am Leben hängen zu bleiben. Schön bequem, der Suizid : ich denke unauffhörlich daran; zu bequem : ich habe mich nicht getötet. Ein Bedauern bleibt bestehen : man möchte sich nicht davonmachen, bevor man sich kompromittiert hat, man möchte, wenn man sich davon macht, Notre-Dame, die Liebe oder die Republik mit sich nehmen.
Der Suizid muß eine innere Berufung sein. Ein Blut, das zirkuliert, und das eine Rechtfertigung für seinen endlosen Kreislauf fordert. In den Fingern herrscht die Ungeduld, sich endlich in die hohle Hand einzugraben. Das ist der Juckreiz einer Aktivität, die auf den zurückweist, der sie an den Tag legt, wenn es der Unglückliche versäumt hat, sich ein Ziel zu geben. Begierden ohne Inhalt. Verlangen nach dem Unmöglichen. Hier erhebt sich die Grenze zwischen den Leiden, die einen Namen haben und einen Gegenstand, und jenen anderen, die anonym und selbsttätig sind. Für den Geist ist das eine Art von Pubertät, so wie man sie in Romanen beschreibt (denn ich bin natürlich viel zu jung korrumpiert worden, um eine Krise zu der Zeit erkannt zu haben, als sie sich im Schoße zu regen begann), aber man überwindet sie anders als durch den Suizid. Ich habe nicht viel ernst genommen; als Kind streckte ich den armen Alten, die meine Mutter auf der Straße um ein Almosen baten, die Zunge heraus und ich zwickte insgeheim ihre Gören, die vor Kälte heulten; als mein sterbender Vater beabsichtigte, mir seine letzten Wünsche anzuvertrauen, und mich an sein Bett rief, packte ich das Dienstmädchen und sang : Deine Eltern in den Tod mußt wiegen, — Wirst schon sehn wie wir uns dann lieben ....... Ich glaube, jedesmal wenn ich das Vertrauen eines Freundes enttäuschen konnte, habe ich das kaum unterlassen. Aber es ist ein bescheidener Verdienst, die Güte zu verspotten, die Barmherzigkeit zum Narren zu halten, und das treffendste Element der Komik ist es, die Leute um ihr kleines bißchen Leben zu bringen, grundlos, nur um zu lachen. Die Kinder irren sich darin nie und wissen das ganze Vergnügen auszukosten, das darin liegt, Panik in einem Ameisenhaufen zu stiften, oder zwei, beim Rumhuren erwischte Fliegen zu zerquetschen. Während des Krieges warf ich eine Granate in einen Unterstand, als sich zwei Kameraden gerade fertig machten, um in Urlaub zu gehen. Welch schallendes Gelächter, das Entsetzen im Gesicht meiner Geliebten zu sehen, die ich, als sie erwartete, eine Liebkosung zu empfangen, mit einem Schlagring schlug, und als ihr Körper einige Schritte weiter zusammensackte; und welch ein Spektakel, diese ganzen Leute, die sich aus dem Gaumont-Palast herauskämpften, nachdem ich dort Feuer gelegt hatte. Heute abend, Sie haben nichts zu befürchten, habe ich die Lust, die Laune und die Phantasie, ernst zu sein. — Offensichtlich ist an dieser Geschichte nicht ein wahres Wort, und ich bin der artigste kleine Junge von Paris, aber ich habe so oft Vergnügen daran gefunden, mir vorzustellen, ich hätte solcherlei ehrbare Heldentaten vollbracht oder wäre im Begriff, sie zu vollbringen, daß es keineswegs eine Lüge ist.

Auszug aus Suizid von Jacques Rigaut

Donnerstag, 8. September 2011

Dienstag, 6. September 2011

Blick von einem anderen Stern

Die Geschlossenheit der Kunstwerke als Einheit ihrer Mannigfaltigkeit überträgt unmittelbar die naturbeherrschende Verhaltensweise auf ein ihrer Realität Entrücktes; vielleicht weil das selbsterhaltenden Prinzip über die Möglichkeit seiner Realisierung draußen hinausweist, dort vom Tod sich widerlegt sieht und damit nicht sich abzufinden vermag; autonome Kunst ist ein Stück veranstalteter Unsterblichkeit, Utopie und Hybris in eins; träfe ein Blick von einem anderen Stern die Kunst, so wäre ihm wohl alle ägyptisch. Die Zweckmäßigkeit der Kunstwerke, durch die sie sich behaupten, ist nur der Schatten der Zweckmäßigkeit draußen.

Adorno

durch die Brille ihrer Zeitungen

Die Wahrheit ist, daß die Leute alles durch die Brille ihrer Zeitungen sehen, und wie könnte es anders sein, da sie ja persönlich weder von den betreffenden Persönlichkeiten noch Ereignissen Kenntnis haben!

Marcel Proust

Montag, 5. September 2011

doch geistlos triumphiert die Spießbürgerlichkeit

(…)
Etwas anders verhält es sich mit Spießbürgerlichkeit, Trivialität, der es auch wesentlich an Möglichkeit fehlt. Spießbürgerlichkeit ist Geistlosigkeit, während Determinismus und Fatalismus Geistesverzweiflung sind; doch auch Geistlosigkeit ist Verzweiflung. Spießbürgerlichkeit hat keinerlei Bestimmung von Geist und geht im Wahrscheinlichen auf, in dem dann das Mögliche sein bisschen Platz findet; ihr fehlt also die Möglichkeit, um aufmerksam auf Gott zu werden. Phantasielos, wie der Spießbürger immer ist, lebt er in einem gewiss trivialen Inbegriff von Erfahrungen: wie es zugeht, was da möglich ist, was zu geschehen pflegt – er mag im übrigen Bierzapfer oder Staatsminister sein. So hat der Spießbürger sich selbst und Gott verloren. Denn damit ein Mensch auf sein Selbst und auf Gott aufmerksam werde, muss ihn die Phantasie höher und über den Dunstkreis des Wahrscheinlichen tragen, sie muss ihn aus diesem herausreißen und ihn lehren, indem sie möglich macht, was das quantum satis jeglicher Erfahrung überschreitet, zu hoffen und zu fürchten oder zu fürchten und zu hoffen. Doch der Spießbürger hat keine Phantasie, will sie nicht haben, verabscheut sie. Hier gibt es also keine Hilfe. Und wenn dann das Dasein manchmal mit Schrecknissen hilft, welche die Papageien-Weisheit der trivialen Erfahrung überschreiten, dann verzweifelt die Spießbürgerlichkeit, das heißt, dann wird offenbar, dass sie Verzweiflung war; nun fehlt ihr die Möglichkeit des Glaubens, um durch Gott ein Selbst vor dem sicheren Untergang zu erretten.
Dagegen haben Fatalismus und Determinismus Phantasie genug, um an der Möglichkeit zu verzweifeln, und Möglichkeit genug, um die Unmöglichkeit zu entdecken; die Spießbürgerlichkeit beruhigt sich im Trivialen, ob es nun gut oder schief geht, gleich verzweifelt. Fatalismus und Determinismus fehlt es an Möglichkeit, um die Notwendigkeit zu entspannen und zu mildern, zu temperieren, also an Möglichkeit zur Milderung; der Spießbürgerlichkeit fehlt es an Möglichkeit als Erweckung aus der Geistlosigkeit. Denn die Spießbürgerlichkeit glaubt, sie würde über die Möglichkeit herrschen, sie hätte diese ungeheure Elastizität in die Falle oder Irrenanstalt des Wahrscheinlichen gelockt, glaubt, sie gefangen zu halten; sie führt die Möglichkeit eingesperrt im Käfig der Wahrscheinlichkeit herum, zeigt sie vor, bildet sich selber ein, der Herr zu sein, merkt nicht, dass sie gerade dadurch sich selbst gefangen hat und Sklave der Geistlosigkeit und das Erbärmlichste von allem geworden ist. Denn mit der Kühnheit der Verzweiflung schwingt sich auf, wer sich in der Möglichkeit verlief; zerknirscht in Verzweiflung verhebt sich am Dasein, wem alles zur Notwendigkeit wurde – doch geistlos triumphiert die Spießbürgerlichkeit.

Kierkegaard

Freitag, 26. August 2011

Oh, wenn ich doch nur aus Faulheit untätig wäre

Oh, wenn ich doch nur aus Faulheit untätig wäre. Herrgott, wie würde ich mich dann achten. Ich würde mich gerade deswegen achten, weil ich dann doch fähig wäre, wenigstens faul zu sein; dann besäße ich wenigstens eine gewissermaßen positive Eigenschaft, von der ich dann auch selbst überzeugt sein könnte. Frage: Wer ist das? Antwort: ein Faulpelz; aber ich bitte Sie, das hört sich doch äußerst angenehm an, das heißt, man ist definitiv bestimmt, das heißt, es gibt etwas, was sich über mich sagen läßt. „Ein Faulpelz!“ – aber das ist doch Titel und Bestimmung, das ist doch eine Karriere, meine Herrschaften. Scherz beiseite, so ist es! Dann bin ich rechtmäßiges Mitglied eines renommierten Vereins und achte mich unablässig. Ich kannte einen Herrn, der sein Leben lang stolz darauf war, sich auf Lafitte-Weine zu verstehen. Er hielt das für einen ausgesprochenen Vorzug und zweifelte nie an sich selbst. Er starb nicht nur mit ruhigem, sondern mit einem triumphierenden Gewissen und war damit vollkommen im Recht. Dann hätte ich auch Karriere gemacht, ich wäre ein Faulpelz und Vielfraß, doch beileibe kein gewöhnlicher, sondern einer mit Sinn für das Schöne und Erhabene. Was halten Sie davon? Ich träumte schon lange davon. Dieses ‚Schöne und Erhabene’ hat mir doch vierzig Jahre lang schwer im Magen gelegen; das sage ich jetzt, mit meinen vierzig Jahren, damals aber – oh, damals wäre alles ganz anders geworden! Damals hätte ich sofort eine entsprechende Tätigkeit gefunden – und zwar: auf das Wohl alles Schönen und Erhabenen zu trinken. Ich hätte jede Gelegenheit ergriffen, zuerst eine Träne in mein Glas fallen zu lassen und es dann auf das Wohl des Schönen und Erhabenen zu leeren. Alles auf der Welt würde ich dann in Schönes und Erhabenes verwandelt und noch im ekelhaftesten, unzweifelthaften Dreck Schönes und Erhabenes gefunden haben. Ich hätte die Gabe erlangt, Tränen zu vergießen wie ein nasser Schwamm. Der Maler Gay zum Beispiel malt ein Bild – sofort trinke ich auf die Gesundheit des Künstlers Gay, der das Bild gemalt hat, denn ich liebe alles Schöne und Erhabene. Ein Schriftsteller schreibt „wie es euch gefällt“; sofort trinke ich auf das Wohl dessen, „was euch gefällt“, denn ich liebe das Schöne und Erhabene. Achtung würde ich deshalb für mich heischen und jeden verfolgen, der mir nicht Achtung zollt. Ich lebe ruhig, ich sterbe feierlich – das ist ja reizend, wirklich reizend! Und was für einen Schmerbauch hätte ich mir zugelegt, welch dreifaches Doppelkinn! Über eine Schnapsnase würde ich verfügen, bei deren Anblick jeder ausrufen müsste: „Das ist aber ein Plus! Das ist mal wirklich was Positives!“ Sagen Sie, was Sie wollen, meine Herrschaften, aber solche Äußerungen klingen doch in unserem negativen Zeitalter außerordentlich angenehm.

Fjodor Dostojewskij, Auszug aus Aufzeichnungen aus dem Kellerloch

Massenvernichtungswaffen helfen...

Trennungsschmerzleidenden Kunststudenten Also Dir nicht

Offenbacher Management verbietet Theateraufführung

Theater lässt sich nicht verbieten

Massenvernichtungswaffen helfen
trennungsschmerzleidenden Kunststudenten
also dir nicht

„Ein Film trotz Theaterverbot und falschen Fakten, mit einer Horde wutentbrannter Schauspieler, einer Medea Inszenierung, einem waghalsigen Team vor und hinter der Glasfassade des Offenbacher Komm – Center auf der Suche nach der Peepshow von heute.

Schade, dass das Management so weit oben wohnt.“

Regie: Rebecca Charlotte Bussfeld
2.Kamera/Montage: Nico Elbrecht








Donnerstag, 25. August 2011

Samstag, 20. August 2011

das Medium der Verunendlichung

(...)
Das Phantastische hat gewiss das engste Verhältnis zur Phantasie; doch die Phantasie verhält sich wiederum zu Gefühl, Erkenntnis, Willen, so dass ein Mensch ein phantastisches Gefühl, eine phantastische Erkenntnis, einen phantastischen Willen haben kann. Überhaupt ist die Phantasie das Medium der Verunendlichung; sie ist keine Fähigkeit wie die anderen Fähigkeiten – wenn man so sagen will, ist sie die Fähigkeit instar omnium. Was ein Mensch an Gefühl, Erkenntnis, Willen besitzt, das hängt doch letztendlich von seiner Phantasie ab, also davon, wie sich diese reflektieren, das heißt von der Phantasie. Die Phantasie ist die unendlichmachende Reflexion, weshalb der alte Fichte ganz richtig annahm, selbst im Verhältnis zur Erkenntnis, dass die Phantasie der Ursprung der Kategorien sei. Das Selbst ist Reflexion, und die Phantasie ist Reflexion, ist Wiedergabe des Selbst, welche die Möglichkeit des Selbst ist. Die Phantasie ist die Möglichkeit aller Reflexion; und die Intensität dieses Mediums ist die Möglichkeit der Intensität des Selbst.
(...)

Kierkegaard

Freitag, 19. August 2011

Donnerstag, 18. August 2011

Dienstag, 16. August 2011

Diplomatenfrühstücke in Dumbarton Oaks

Seitdem Denken ein bloßer Sektor der Arbeitsteilung wurde, haben die Pläne der zuständigen Experten und Führer die ihr eigenes Glück planenden Individuen überflüssig gemacht. Die Irrationalität der widerstandslosen und emsigen Anpassung an die Realität wird für den Einzelnen vernünftiger als die Vernunft. Wenn vordem Bürger den Zwang als Gewissenspflicht sich selbst und den Arbeitern introjiziert hatten, so wurde inzwischen der ganze Mensch zum Subjekt-Objekt der Repression. Im Fortschritt der Industriegesellschaft, die doch das von ihr selbst gezeitigte Gesetz der Verelendung hinweggezaubert haben soll, wird nun der Begriff zuschanden, durch den das Ganze sich rechtfertige: der Mensch als Person, als Träger der Vernunft. Die Dialektik der Aufklärung schlägt objektiv in den Wahnsinn um.
Der Wahnsinn ist zugleich einer der politischen Realität. Als dichtes Gewebe neuzeitlicher Kommunikation ist die Welt so einheitlich geworden, daß die Unterschiede der Diplomatenfrühstücke in Dumbarton Oaks und Persien als nationales Timbre erst ausgesonnen werden müssen und die nationale Eigenart vornehmlich an den nach Reis hungernden Millionen erfahren wird, die durch die engen Maschen gefallen sind.

Adorno, Horkheimer

Gil Scott Heron - Your Daddy Loves You

Mittwoch, 10. August 2011

Chaim (?)

14 Jahre alt – Bauernsohn – geboren in Sedsiszow (Galizien). Wurde bei einer Razzia aufgegriffen, mit Tausenden junger Juden ins Lager Pustkow (Galizien) geschafft und hier zu unbekanntem Datum getötet.

(Der durch den Stacheldraht gesteckte Brief wurde von einem Bauern gefunden, der ihn den Eltern des Knaben zustellte.)

Meine lieben Eltern!

  Wenn der Himmel Papier und alle Meere der Welt Tinte wären, könnte ich Euch mein Leid und alles, was ich rings um mich sehe, nicht beschreiben.
  Das Lager befindet sich auf einer Lichtung. Vom frühen Morgen an treibt man uns in den Wald zur Arbeit. Meine Füße bluten, weil man mir die Schuhe weggenommen hat. Den ganzen Tag arbeiten wir, fast ohne zu essen, und nachts schlafen wir auf der Erde (auch die Mäntel hat man uns weggenommen).
  Jede Nacht kommen betrunkene Soldaten und schlagen uns mit Holzstücken, und mein Körper ist schwarz von blutunterlaufenen Flecken wie ein angekohltes Stück Holz. Bisweilen wirft man uns ein paar rohe Karotten oder eine Runkelrübe hin, und es ist eine Schande: hier prügelt man sich, um ein Stückchen oder ein Blättchen zu erwischen. Vorgestern sind zwei Buben ausgebrochen, da hat man uns in eine Reihe gestellt, und jeder Fünfte der Reihe wurde erschossen. Ich war nicht der Fünfte, aber ich weiß, daß ich nicht lebend von hier fortkomme. Ich sage allen Lebewohl, liebe Mama, lieber Papa, liebe Geschwister, und ich weine...

Letzte Briefe zum Tode Verurteilter 1939-1945

Montag, 1. August 2011

und läßt es in der Welt

Es gibt keinen so Positiven wie den Künstler, dessen Stoff das Übel ist. Er erlöst von dem Übel. Jeder andere lenkt nur davon ab und läßt es in der Welt, welche dann das schutzlose Gefühl umso härter angreift.

Karl Kraus

Sonntag, 31. Juli 2011

ich würde alles vernichten

(Vorbemerkung Célines zur französischen Ausgabe von 'Reise ans Ende der Nacht' nach dem 2. Weltkrieg)

Sieh an! Die Reise wird wieder losgeschickt. 
Das rührt mich.
In den letzten vierzehn Jahren ist so allerhand passiert ...
Wenn ich es nicht derart nötig hätte, nicht meine Brötchen verdienen müsste, dann, das sag ich ihnen gleich, dann würde ich das Ganze vernichten. Keine einzige Zeile würde ich mehr rausgeben.
Alles wird verkehrt aufgefasst. Ich habe allzu viele Bosheiten bewirkt.
Schauen Sie sich nur mal um, all die vielen Toten, der ganze Hass ringsum ... diese Niedertracht ... die reinste Kloake ist das ... diese Ungeheuer ... 
Ah, besser, man wäre blind und taub!
Sie werden zu mir sagen: Aber nein, doch nicht wegen der Reise! Wegen ihrer Verbrechen da krepieren Sie, da gibt es nichts! Das ist Ihr selbst heraufbeschworener Fluch! Ihre Bagatellen! Ihr ungeheuerliches Geschäume! Ihre bunte, ulkige Schändlichkeit! Die Justiz stellt Ihnen nach? würgt Sie? Na Scheiße warum das Gewinsel? Sie Clown!
Ah, tausend Dank! tausend Dank! Ich tobe! Toberei! Ich keuche! fluche! Scheinheilige! Falsche Fuffziger! Ihr könnt mir nichts vormachen! Wegen der Reise stellt man mir nach! Auf dem Schaffott noch schreie ich das! die Abrechnung zwischen mir und "denen"! ganz eigentlich ... nicht zu sagen ...
Eine Mordswut haben wir auf diese ganze Mystik! Was für eine Geschichte!
Wenn ich es nicht derart nötig hätte, nicht meine Brötchen verdienen müsste, dann, das sag ich Ihnen gleich, dann würde ich das Ganze vernichten. Ich habe den Schakalen die Ehre erwiesen! ... Ich bin ja guten Willens! ... Liebenswürdig! ... Zuerst die milde Gabe ... "Gottestaler" ! ... Ich habe mich vom Glück losgemacht ... seit 36 ... den Henkersknechten vorgeworfen! den Pfaffen! den kleinen Gaunern! ... Ein, zwei, drei wunderbare Bücher, mit den man mich meucheln kann! Und wie ich wimmere! Ich habe schon gegeben! Bin mildtätig gewesen, jawoll!
Die Welt der guten Absichten amüsiert mich ... hat mich mal amüsiert ... sie amüsiert mich nicht mehr ...
Wenn ich nicht derart genötigt wäre, nicht meine Brötchen verdienen müsste, dann, das sag ich Ihnen gleich, dann würde ich das Ganze vernichten ... vor allem die Reise ... das einzige wirklich böse von allen meinen Büchern ist die Reise ... Ich verstehe mich ... Der heikle Inhalt ...
Alles wird jetzt wieder losgehen! Der ewige Hexensabbatt! Sie werden es von oben zischen hören, von ferne, von namenlosen Orten: Wörter, Befehle ... 
Sie werden schon sehen, was das für Machenschaften werden! ... Sie werden mir schon was erzählen ...
Ah, denken Sie bloß nicht, ich spiele! Ich spiele nicht mehr! ... ich bin nicht mal mehr liebenswürdig.
Wenn ich dastünde, in die Enge getrieben, sozusagen aufrecht, mit dem Rücken gegen etwas ... ich würde alles vernichten.

Louis-Ferdinand Céline

Lob der Ferne

Im Quell deiner Augen
leben die Garne der Fischer der Irrsee
Im Quell deiner Augen
hält das Meer sein Versprechen

Hier werf ich
ein Herz, das geweilt unter Menschen,
die Kleider von mir und den Glanz eines Schwures:

Schwärzer im Schwarz, bin ich nackter.
Abtrünnig erst bin ich treu.
Ich bin du, wenn ich ich bin.

Im Quell deiner Augen
treib ich und träume von Raub

Ein Garn fing ein Garn ein:
wir scheiden umschlungen.

Im Quell deiner Augen
Erwürgt ein Gehenkter den Strang.

Paul Celan

Samstag, 30. Juli 2011

The Kills, Live at The Basement

Getting Down


Good Night Bad Morning


Donnerstag, 28. Juli 2011

Auszug aus A Tale Of Two Sisters

Slo-Mo-High-Definition-Full-Sound-Celebrity-Defäkation


Eines steht fest: Als Erwachsener erinnert sich fast niemand mehr an Einzelheiten oder psychische Begleiterscheinungen der eigenen Reinlichkeitserziehung. Denn bis man Grund hat, nachzufragen, ist so viel Zeit vergangen, dass man schon die eigenen Eltern fragen muss. Was aber auch nicht richtig funktioniert, weil die meisten Eltern glatt bestreiten werden, sich an diese Zeit zu erinnern oder in irgendeiner Weise daran beteiligt gewesen zu sein. Die Verdrängung hat Schutzfunktion, denn das Elterndasein ist zuweilen kein Zuckerschlecken. Alle diese Phänomene sind sattsam erforscht und dokumentiert. R. Vaughn Corliss’ bestgehütete Vision, die noch aus seiner Schlussphase bei Lifestyles of the Rich and Famous mit Robin Leach und Television Program Enterprises herrührte, sein heimlicher Traum sozusagen, sich als ernst zu nehmender Kabel-Player und –Pionier neu zu erfinden: ein Kanal, der sich ausschließlich mit Bildern von scheißenden Celebrities befasste. Reese Witherspoon beim Kacken. Juliette Lewis beim Kacken. Michael Jordan beim Kacken. Dick Gephard, Fraktionsführer der Demokraten im Abgeordnetenhaus: beim Kacken. Pamela Anderson beim Kacken. George F. Will, grimmiger Kolumnist der Washington Post, komplett mit Fliege und Strichmund: beim Kacken. Die ehemalige Golf-Legende Hale Irvin: beim Kacken. Der Stone-Bassist Ron Wood beim Kacken. Papst Johannes Paul II beim Kacken. (Allerdings müssen dabei mehrere Diener sein Gewand anheben.) Die Schauspieler Leonard Maltin und Annette Bening beim Kacken. Michael Flatley, der von Lord of the Dance: beim Kacken. Die Olson-Zwillinge, egal ob Mary-Kate oder Ashley oder alle beide: beim Kacken. Und so weiter und so fort. Helen Hunt. Bob Barker von The Price Is Right. Tom Cruise. Die Fernsehmoderatorin Jane Pauley. Talia Shire. Jassir Arafat. Der Oklahoma-Bomber Timothy McVeigh. Michael J. Fox. Der ehemalige Wohnungsbauminister Henry Cisneros. Allein die Vorstellung einer Direktübertragung aus den Privatgemächern von TV-Ikone Martha („Schöner wohnen“) Steward – Martha Steward, hingehockt zum Schiss zwischen Seifchen, Badesalz und farblich abgestimmten Heimtextilien – war derart überwältigend, dass Corliss sie sich nur selten gestattete. Kurz und gut, es war nicht nur ein schlafförderndes Konzept, sondern – verständlicherweise – auch ein höchstes privates. Tom Clancy. Margaret Atwood. Die Feministin Bell Hooks muss ebenso ran wie Dr. James Dobson von der konservativen Gegenseite. Dann George Ryan, der Todesstrafengegner und korrupte Gouverneur von Illinois, Nachrichtensprecher Peter Jennings. Talktante Oprah Winfrey. Er erzählte niemandem von diesem Traum. Und auch nicht von der begleitenden Vision, diese Museums der menschlichen Darmentleerung (digital aufbereitet) ins All zu senden, damit sich fremde Intelligenzen ein umfassendes Bild davon machen konnten, was auf dem Planeten Erde um das Jahr 2001 herum alles wichtig gewesen war.
Natürlich war er nicht verrückt; ein solches Projekt würde nie funktionieren. Aber was hieß das schon? Reality-TV gab es ja auch. Corliss selbst hatte den Grundstein dazu gelegt. Der Trend: Nicht nur Normalbürger, sondern auch Promis in die Matrix aus verletzter Privatsphäre und Enthüllung zu verstricken, aus der „Reality“ nun einmal bestand. Deswegen gab es diese Promi-Pannenshows, ließen sie ganze Kamerateams ins Haus, damit die Leute ihren begehbaren Wandschrank sehen konnten. Deswegen gab es Promi-Boxen, Promi-Polit-Gequassel, durfte die Öffentlichkeit sie zu Blind Dates oder zur Eheberatung begleiten. Schon in seiner Zeit bei Leach und TPE hatte Corliss erkannt: Die Philosophie dieser Sendungen war eine bombensichere Sache und führte unweigerlich zur ultimativen Bloßstellung. Promis unterm Messer, Promis in ihrem Promi-Sterbezimmer, am Ende die große Promi-Leichenschau. Alles nicht undenkbar, absurd schien ein solches Konzept nur außerhalb der Matrix. Und wo auf der Skala war eigentlich die Slo-Mo-High-Definition-Full-Sound-Celebrity-Defäkation? Und wie nahe war er an dem Punkt, an dem eine hirnverbrannte Idee wie diese in der Entwicklungs- und Rechtsabteilung nicht nur schallendes Gelächter auslöste? Nicht nah genug, das stand fest, aber auch nicht mehr endlos weit entfernt. Corliss wusste: Auch über Rupert Murdoch hatten sie alle mal gelacht.

David Foster Wallace, Auszug aus The Suffering Channel
Foto: Toulouse Lautrec

Mittwoch, 27. Juli 2011

Jean Luc Godard

Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung

Dienstag, 26. Juli 2011

Serengeti - Ha Ha

Oscar Wilde

Denn die Vergangenheit ist, was der Mensch nicht hätte sein dürfen. Die Gegenwart ist, was der Mensch nicht sein sollte. Die Zukunft ist, was die Künstler sind.

Montag, 25. Juli 2011

ohne das Surren der camera obscura

Das Nichtseiende in den Kunstwerken ist eine Konstellation von Seiendem. Versprechen sind die Kunstwerke durch ihre Negativität hindurch, bis zur totalen Negation, so wie der Gestus, mit dem einst eine Erzählung anheben mochte, der erste Klang, der auf einer Sitar angeschlagen ward, ein noch nie Gehörtes, noch nie Gesehenes versprach, und wäre es das Furchtbarste; und die Deckel eines jeden Buches, zwischen denen das Auge an den Text sich verliert, sind verwandt der Verheißung der camera obscura. Das Paradoxon aller neuen Kunst ist, das zu gewinnen, indem sie es wegwirft, so wie der Anfang der Recherche von Proust mit der kunstvollsten Veranstaltung in das Buch ohne das Surren der camera obscura, den Guckkasten des allwissenden Erzählers, hineingeleitet, auf den Zauber verzichtet und dadurch allein ihn realisiert. Die ästhetische Erfahrung ist die von etwas, was der Geist weder von der Welt noch von sich selbst schon hätte, Möglichkeit, verhießen von ihrer Unmöglichkeit. Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird.

Adorno, Ästhetische Theorie

Daß aber Kunstwerke da sind, deutet darauf, daß das Nichtseiende sein könnte.

Die Wirklichkeit der Kunstwerke zeugt für die Möglichkeit des Möglichen.

Adorno

Arcade Fire - Neighborhood #4 (7 Kettles)




my eyes are covered 
by the hands of my unborn kids
but my heart keeps watching 
through the skin of my eyelids

Sonntag, 24. Juli 2011

Titty Mibraine

Irgend etwas zu tun, das man ohne Freude ausführt, ist geistig und moralisch verwerflich

Sache des Staates ist es, das Nützliche zu schaffen. Sache des Individuums ist es, das Schöne hervorzubringen. Und da ich das Wort Arbeit ausgesprochen habe, möchte ich darauf hinweisen, wie viel Törichtes heutzutage über die Würde der Handarbeit geschrieben und gesagt wird. Handarbeit ist durchaus nicht etwas, das Würde verleiht, zumeist ist sie absolut erniedrigend. Irgend etwas zu tun, das man ohne Freude ausführt, ist geistig und moralisch verwerflich, und viele Arbeiten sind völlig freudlose Tätigkeiten und sollten auch als solche betrachtet werden. Eine schmutzige Straßenkreuzung während acht Stunden des Tages bei scharfem Ostwind zu fegen, ist eine widerliche Beschäftigung. Sie mit geistiger, moralischer oder körperlicher Würde zu fegen, scheint mir unmöglich. Sie mit Freude zu fegen, erscheint mir geradezu ungeheuerlich. Der Mensch ist für Besseres geschaffen, als Dreck aufzuwirbeln. Alle diese Arbeiten sollte eine Maschine ausführen.

Oscar Wilde, The Soul of Man under Socialism

Samstag, 23. Juli 2011

Das Vorwort

Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.
Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen ist Ziel der Kunst.
Kritiker ist, wer seinen Eindruck von schönen Dingen in einen anderen Stil oder ein neues Material zu übertragen vermag.
Die höchste wie die niedrigste Form von Kritik ist eine Art Autobiographie.
Wer in schönen Dingen Häßliches entdeckt ist verdorben, ohne charmant zu sein. Das ist ein Fehler.
Wer in schönen Dingen Schönes entdeckt, ist kultiviert. Für ihn besteht Hoffnung.
Auserwählt sind die, denen schöne Dinge nichts als Schönheit bedeuten.
So etwas wie ein moralisches oder ein unmoralisches Buch gibt es nicht. Bücher sind entweder gut oder schlecht geschrieben. Das ist alles.
Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen den Realismus ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel sieht.
Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen die Romantik ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht nicht im Spiegel sieht.
Das moralische Leben der Menschen gehört zum Gegenstand des Künstlers, doch die Moralität der Kunst besteht im vollkommenen Gebrauch eines unvollkommenen Mediums.
Kein Künstler will etwas beweisen. Selbst Dinge, die wahr sind, können bewiesen werden.
Kein Künstler nährt moralische Sympathien. Moralische Symphatie bei einem Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils.
Kein Künstler ist jemals morbid. Der Künstler kann alles ausdrücken.
Denken und Sprache sind für den Künstler Werkzeuge einer Kunst.
Laster und Tugend sind für den Künstler Materialien einer Kunst.
Unter dem Gesichtspunkt der Form ist die Kunst des Musikers die Urform aller Künste. Unter dem Gesichtspunkt des Gefühls ist die Schauspielkunst die Urform.
Alle Kunst ist Oberfläche und Symbol zugleich.
Wer unter die Oberfläche dringt, tut dies auf eigene Gefahr.
Wer das Symbol entschlüsselt, tut dies auf eigene Gefahr.
Den Zuschauer und nicht das Leben spiegelt die Kunst in Wirklichkeit wider.
Unterschiedliche Ansichten über ein Kunstwerk zeigen, daß das Werk neu, vielschichtig und lebendig ist. Wenn Kritiker unterschiedlicher Meinung sind, steht der Künstler im Einklang mit sich selbst.
Wir können einem Menschen verzeihen, daß er etwas Nützliches schafft, solange er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung für die Schaffung von etwas Nutzlosem besteht darin, daß man es zutiefst bewundert.
Alle Kunst ist völlig nutzlos.

Oscar Wilde

Donnerstag, 21. Juli 2011