Sonntag, 28. November 2010

die Pendelbewegungen der Seele

Er stand hinter einem der Fenster, sah durch den zartgrünen Filter der Gartenluft auf die bräunliche Straße und zählte mit der Uhr seit zehn Minuten die Autos, die Wagen, die Trambahnen und die von der Entfernung ausgewaschenen Gesichter der Fußgänger, die das Netz des Blicks mit quirlender Eile füllten; er schätzte die Geschwindigkeiten, die Winkel, die lebendige Kräfte vorüberbewegter Massen, die das Auge blitzschnell nach sich ziehen, festhalten, loslassen, die während einer Zeit, für die es kein Maß gibt, die Aufmerksamkeit zwingen, sich gegen sie zu stemmen, abzureißen, zum nächsten zu springen und sich diesem nachzuwerfen; kurz, er steckte, nachdem er eine Weile im Kopf gerechnet hatte, lachend die Uhr in die Tasche und stellte fest, daß er Unsinn getrieben habe. - Könnte man die Sprünge der Aufmerksamkeit messen, die Leistungen der Augenmuskeln, die Pendelbewegungen der Seele und alle die Anstrengungen, die ein Mensch vollbringen muß, um sich im Fluß einer Straße aufrecht zu halten, es käme vermutlich - so hatte er gedacht und spielend das Unmögliche zu berechnen versucht - eine Größe heraus, mit der verglichen die Kraft, die Atlas braucht, um die Welt zu stemmen, gering ist, und man könnte ermessen, welche ungeheure Leistung heute schon ein Mensch vollbringt, der gar nichts tut.

Robert Musil

Samstag, 27. November 2010

Falsche Träume

Wo ist es hin?
War es jemals da?
Wäre es irgendwann möglich?
Könnte es sein?
Sind unsere Träume schuld?
Weil wir sie haben?
Können wir was dafür?
Treibt sie uns aus!
Dann wäre alles gut,
so wie es ist.

Donnerstag, 25. November 2010

Kunst ist wie ein Liebesbrief, der nicht mehr weiß an wen er sich richten soll.
Es gibt nichts, was sich in den heutigen Tagen leichter ermessen läßt, als einen allgemeinen Frust...

Mittwoch, 24. November 2010

Es gibt Menschen, die putzen sogar die Peitsche ihres Peinigers.

Dienstag, 23. November 2010

Niemals findet sich ein Mensch selbst völlig feig; denn wenn er vor etwas erschrickt, so läuft er genau so weit davon, daß er sich wieder als Held vorkommt!

Robert Musil

Montag, 22. November 2010

Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben

Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muß man die Tatsache achten, daß sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz, nach dem der alte Professor immer gelebt hatte, ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.
Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. Man sieht, daß die Folgen solcher schöpferischen Anlage bemerkenswert sein können, und bedauerlicherweise lassen sie nicht selten das, was die Menschen bewundern, falsch erscheinen und das, was sie verbieten, als erlaubt oder wohl auch beides als gleichgültig. Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kinder, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwächling und Besserwisser oder Krittler.
Wenn man sie loben will, nennt man diese Narren auch Idealisten, aber offenbar ist mit alledem nur ihre schwache Spielart erfaßt, welche die Wirklichkeit nicht begreifen kann oder ihr wehleidig ausweicht, wo also das Fehlen des Wirklichkeitssinns wirklich einen Mangel bedeutet. Das Mögliche umfaßt jedoch nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes. Ein mögliches Erlebnis oder eine mögliche Wahrheit sind nicht gleich wirklichem Erlebnis und wirklicher Wahrheit weniger dem Werte des Wirklichseins, sondern sie haben, wenigstens nach Ansicht ihrer Anhänger etwas sehr Göttliches in sich, ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen und bewußten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt. Schließlich ist die Erde gar nicht alt und war scheinbar noch nie so recht in gesegneten Umständen. Wenn man nun in bequemer Weise die Menschen des Wirklichkeits- und des Möglichkeitssinns voneinander unterscheiden will, so braucht man bloß an einen bestimmten Geldbetrag zu denken. Alles, was zum Beispiel tausend Mark an Möglichkeiten überhaupt enthalten, enthalten sie doch ohne Zweifel, ob man sie besitzt oder nicht; die Tatsache, daß er Herr Ich oder Herr Du sie besitzen, fügt ihnen so wenig etwas hinzu wie einer Rose oder einer Frau. Aber ein Narr steckt sie in den Strumpf, sagen die Wirklichkeitsmenschen, und ein Tüchtiger schafft etwas mit ihnen; sogar der Schönheit einer Frau wird unleugbar von dem, der sie besitzt, etwas hinzugefügt oder genommen. Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeiten weckt, und nichts wäre so verkehrt, wie das zu leugnen. Trotzdem werden es in der Summe oder im Durchschnitt immer die gleichen Möglichkeiten bleiben, die sich wiederholen, so lange bis ein Mensch kommt, dem eine wirkliche Sache nicht mehr bedeutet als eine gedachte. Er ist es, der den neuen Möglichkeiten erst ihren Sinn und ihre Bestimmung gibt, und er erweckt sie.
Ein solcher Mann ist aber keineswegs eine sehr eindeutige Angelegenheit. Da seine Ideen, soweit sie nicht müßige Hirngespinste bedeuten, nichts als noch nicht geborene Wirklichkeiten sind, hat natürlich auch er Wirklichkeitssinn; aber es ist ein Sinn für die mögliche Wirklichkeit und kommt viel langsamer ans Ziel als der den meisten Menschen eignende Sinn für ihre wirklichen Möglichkeiten. Er will gleichsam den Wald, und der andere die Bäume; und Wald, das ist etwas schwer Ausdrückbares, wogegen Bäume soundsoviel Festmeter bestimmter Qualität bedeuten. Oder vielleicht sagt man es anders besser, und der Mensch mit gewöhnlichem Wirklichkeitssinn gleicht einem Fisch, der nach der Angel schnappt und die Schnur nicht sieht, während der Mann mit jenem Wirklichkeitssinn, den man auch Möglichkeitssinn nennen kann, eine Schnur durchs Wasser zieht und keine Ahnung hat, ob ein Köder daran sitzt. Einer außerordentlichen Gleichgültigkeit für das auf den Köder beißende Leben steht bei ihm die Gefahr gegenüber, völlig spleenige Dinge zu treiben. Ein unpraktischer Mann – und so erscheint er nicht nur, sondern ist er auch – bleibt unzuverlässig und unberechenbar im Verkehr mit Menschen. Er wird Handlungen begehen, die ihm etwas anderes bedeuten als anderen, aber beruhigt sich über alles, sobald es sich in einer außerordentlichen Idee zusammenfassen läßt. Und zudem ist er heute von Folgerichtigkeit noch weit entfernt. Es ist etwa sehr leicht möglich, daß ihm ein Verbrechen, bei dem ein anderer zu Schaden kommt, bloß als eine soziale Fehlleistung erscheint, an der nicht der Verbrecher die Schuld trägt, sondern die Einrichtung der Gesellschaft. Fraglich ist es dagegen, ob ihm eine Ohrfeige, die er selbst empfängt, als eine Schmach der Gesellschaft oder wenigstens so unpersönlich wie der Biß eines Hundes vorkommen werde; wahrscheinlich wird er da zuerst die Ohrfeige erwidern und danach die Auffassung haben, daß er das nicht hätte tun sollen. Und vollends, wenn man ihm eine Geliebte fortnimmt, wird er heute noch nicht ganz von der Wirklichkeit dieses Vorgangs absehen und sich mit einem überraschenden, neuen Gefühl entschädigen können. Diese Entwicklung ist zurzeit noch im Fluß und bedeutet für den einzelnen Menschen sowohl eine Schwäche wie eine Kraft.
Und da der Besitz von Eigenschaften eine gewisse Freude an ihrer Wirklichkeit voraussetzt, erlaubt das den Ausblick darauf, wie es jemand, der auch sich selbst gegenüber keinen Wirklichkeitssinn aufbringt, unversehens widerfahren kann, daß er sich eines Tages als ein Mann ohne Eigenschaften vorkommt.

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 4, Seite 16-18

Freitag, 19. November 2010

Bange Stunde von Karl Kraus

Gebannt steh’ ich auf diesem Fleck
und kann nicht zurück und kann nicht weg
und suche mit dreimal flehenden Händen,
ein sicheres Schicksal abzuwenden.
Alles um mich in den bangen Stunden
hat Macht über mich, der gebannt und gebunden.
Gelingt’s mir, nur dies und nicht das zu denken.
So wird mich mein Wille zum Ausgang lenken,
und ich weiß mir, der Sklave dem Herren, Dank,
entrinn’ ich nur diesmal noch meinem Zwang.
Dort wäre der Weg: wo der Zweifel steht,
ob rechts oder links es sich besser geht.
Ich könnte fliegen, ich möchte eilen,
und geschwind noch beschwör’ ich die Zeit, zu verweilen.
Ich schlage mich durch, ich krieche und hinke,
wie fass’ ich die Klinke? Wie fasst mich die Klinke!
Schnell könnten drei Wünsche mir noch verderben:
Herrgott, so laß meine Freunde nicht sterben –
Was hälst du mich, scheinbare Vorhangfalte,
was will mir das Fiebergesicht, das alte –
Gott, rette mir jenen, behüte mir diesen,
bewahr ihm das Auge für Wunder und Wiesen –
wie kränkt’ ich mich damals, ich wollte nicht warten,
denn ich war krank und die andern im Garten,
eine Spieldose hat die Gavotte gespielt,
ein Gesicht im Vorhang hat nach mir gezielt –
Gott, hilf ihnen, die die Zeit mir verwehte,
und die längst nicht glauben, daß ich für sie bete,
und jenen, die du zu dir schon entboten,
vergiß nicht die Toten, vergiß nicht die Toten!
der Einen aber hier auf dem Bilde,
es lächelt zu meinem Aufruhr so milde,
und dieser aber, o daß ich’s nicht dächte,
wenn nicht das Denken Erfüllung mir brächte,
ihr mögest du Leben und Leben und Leben
in vielfach lebendiger Fülle geben
und wirken, daß ihr in unendlichen Lenzen
wie Sonne und Mond die Züge erglänzen,
und für mich selbst, o hör den unendlichen Jammer,
bitt’ ich, daß ich in dieser Kammer,
geschmiedet in aller Erden Qual
mich zu Formen erlöse ohne Zahl,
und aus dem vorbestimmten Kreise
mir erbarmungslos und ausnahmsweise
gestattet wäre zu entrinnen,
um immer von neuem zu beginnen,
denn es lähmt mir das Herz, daß einst hinter mir
sich schließe die vorbereitete Tür,
und an dem Gedanken, mich nicht zu beerben,
würd’ ich ganz sicher noch einmal sterben!
Laß es nicht zu und lasse mich bleiben,
und bin ich erst fertig, beginn’ ich zu schreiben,
denn dem das Wort den Ursinn gelichtet,
sieh, der hat nie zu Ende gedichtet,
und war ich stets des Anfangs gewärtig,
war Leben im Wort: so werd’ ich nicht fertig!
Hier ist mir ein heiliges Räthsel gewesen,
ich habe in Hieroglyphen gelesen.
Nie lass’ ich das dreimal lebendige Wort,
verstummend in dein undenkliches Dort,
nie lass’ ich den Streit und Zweifel hiernieden
für jenen unwiderleglichen Frieden.
Nie mögst du von diesem Sessel mich heben.
Lieber den Tod als nicht mehr zu leben!
Nicht feige fleh’ ich um meine Errettung;
Doch hängen in blutig gespürter Verkettung
An meiner Gestalt die vielen Gestalten,
die du zu bewahren mir vorbehalten,
und in dem schmerzbeseligten Bund
unzählige Stimmen an meinem Mund.
Sie nachzuschaffen hast du mich gelehrt,
die von dir sich zum eigenen Abbild verkehrt;
und gleich’ ich nicht jenen, die du erschaffen,
so kannst du mich nicht zu dir entraffen.
Drum laß aus dem marschbereiten Haufen
Zurück mich in deine Ewigkeit laufen,
und gib mich mir wieder Stück um Stück!
Mit Macht reiß’ ich sonst mein Gedächtnis zurück,
um nimmer zu denken, was noch nicht geschah –
ich will ja nicht weg, ich bleibe doch da!
Was ist das nur heut, was ist das nur hier,
wie dreht sich und droht mir, wie knarrt mir die Tür,
wie rennt mir die Stunde in rasendem Lauf,
wie halten mich alle die Dinge hier auf,
und Falten und Kanten, sie starren mich an,
des Zufalls unseligsten Untertan!
Gebannt und gebunden steh’ ich auf dem Fleck,
und kann nicht zurück, und will nicht weg – .

Mittwoch, 17. November 2010

In der Welt ist immer die Lust, ein Herz zu kränken, weil eine Tasche beleidigt war.

Karl Kraus

Das Zeichen der Künstlerschaft

Das Zeichen der Künstlerschaft: Für sich aus dem Selbstverständlichen ein Problem machen und die Probleme der andern entscheiden; für andere wissen und sich selbst in die Hölle zweifeln; einen Diener fragen und einem Herrn antworten.

Karl Kraus

Samstag, 13. November 2010

The past is a grotesque animal- Of Montreal

The past is a grotesque animal
And in it's eyes you see
How completely wrong you can be..2x

The sun is out
It melts the snow that fell yesterday
Makes you wonder
Why it bothered
I fell in love
With the first cute girl that i met
Who could appreciate Georges Bataille
Standing at a Swedish festival
Discussing "story of the eye"..2x

It's so embarassing to need someone like i do you
How can i explain?
I need you here
And not here too..
How can i explain
I need you here
And not here too

I'm flunking out, i'm flunking out
I'm gone, i'm just gone
But at least i author my own disaster
At least i author my own disaster
Performance breakdown
And i don't wanna hear it
I'm just not available

Things could be different
But they're not...
Things could be different
But they're not

The mousey girl screams "violence, violence!"...2x
She gets hysterical
Cause they're both so mean
And it's my favorite scene
The cruelty's so predictable
Makes you sad on the stage

Though our love project has so much potential
But it's like we weren't made for this world
Though I wouldn't really wanna meet someone who was

Do I have to scream in your face?
I've been dodging lamps and vegetables
Throw it all in my face
I don't care-
Let's just have some fun
Let's tear the shit apart
Let's tear the fucking house apart
Let's tear our fucking bodies apart,
Let's just have some fun

Somehow you've red-rovered
The Gestapo circling my heart
And nothing can defeat you
No death, no ugly world
You've lived so brightly
You've altered everything

I find myself
Searching for old selves
While speeding forward
Through the plateglass of maturing cells

I fed the unraveler
The paw hellion
But even apocolypse is fleeting
There's no death, no ugly world
Sometimes i wonder if you're mythologizing me
Like i do you
Apologizing me like i do you

We want our film to be beautiful
Not realistic
See me in the radiance of terror dreams
You can betray me
You can, you can betray me
Teach me something wonderful

Crown my head crown my head
With your lilting effects
Project your fears onto me
I need to view them,
See there's nothing to them
I promise you there's nothing to them

I'm so touched by your goodness
You make me feel so criminal
How do you keep it together?
I'm all, all unraveled
But'cha know
No matter where we are
We're always touching by underground wires

I've explored you with the detachment
Of an analyst
But most nights
We've raided the same kingdoms
And none of our secrets are physical
None of our secrets, are physical
None of our secrets, are physical now

Freitag, 12. November 2010

Unsere bösen Wünsche sind die Schattenseiten unseres Lebens, das wir wirklich führen, und das Leben das wir wirklich führen, ist die Schattenseite unserer guten Wünsche.

Robert Musil
Was die Künstler machen müssen – und die Kritiker verteidigen und alle Demokraten in einem entschlossenen Kampf von unten unterstützen müssen -, sind Werke, die so extremistisch sind, dass sie selbst noch für die aufgeschlossensten Ansichten der neuen Macht(-haber) inakzeptabel sind.

Pier Paolo Pasolini

Mittwoch, 10. November 2010

Gibs auf!

Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, dass es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: "Von mir willst du den Weg erfahren?" "Ja", sagte ich, "da ich ihn selbst nicht finden kann." "Gibs auf, gibs auf", sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.

Kafka

Kunst ist Liebe

Kunst ist Liebe; indem sie liebt, macht sie schön, und es gibt vielleicht auf der ganzen Welt kein anderes Mittel, ein Ding oder Wesen schön zu machen, als es zu lieben.

Robert Musil

Dienstag, 9. November 2010

Es gibt ärgere Versäumnisse als ein Versäumnis der Post, und gewiß auch größere Tatsachen als eine Zeitungsbeschwerde. Aber die großen Ereignisse verdecken zu leicht das Antlitz der Zeit. Wenn's am lautesten zugeht, ist es am schwersten zu bestimmen, wo's am dümmsten ist. Erst wenn die Zeitungen Platz haben, isolieren sich die Vorkämpfer der Banalität und man erkennt die Typen, mit deren Dasein sich abzufinden nur dem geborenen Selbstmörder gelingt.

Karl Kraus

Montag, 8. November 2010

Es ist nicht notwendig, daß Du aus dem Haus gehst. Bleib bei Deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich Dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor Dir winden.

Kafka

Der Einsame

Verhaßt ist mir das Folgen und das Führen.
Gehorchen? Nein! Und aber nein - Regieren!
Wer sich nicht schrecklich ist, macht niemand Schrecken:
Und nur wer Schrecken macht, kann andre führen.
Verhaßt ist mirs schon, selber mich zu führen!
Ich liebe es, gleich Wald- und Meerestieren,
mich für ein gutes Weilchen zu verlieren,
in holder Irrnis grüblerisch zu hocken,
von ferne her mich endlich heimzulocken,
mich selber zu mir selber - zu verführen.

Nietzsche

Donnerstag, 4. November 2010

Die letzten Tage der Menschheit

von Karl Kraus
Vorwort

Die Aufführung des Dramas, dessen Umfang nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen würde, ist einem Marstheater zugedacht. Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten. Denn es ist Blut von ihrem Blute und der Inhalt ist von dem Inhalt der unwirklichen, undenkbaren, keinem wachen Sinn erreichbaren, keiner Erinnerung zugänglichen und nur in blutigem Traum verwahrten Jahre, da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten. Die Handlung, in hundert Szenen und Höllen führend, ist unmöglich, zerklüftet, heldenlos wie jene. Der Humor ist nur der Selbstvorwurf eines, der nicht wahnsinnig wurde bei dem Gedanken, mit heilem Hirn die Zeugenschaft dieser Zeitdinge bestanden zu haben. Außer ihm, der die Schmach solchen Anteils einer Nachwelt preisgibt, hat kein anderer ein Recht auf diesen Humor. Die Mitwelt, die geduldet hat, daß die Dinge geschehen, die hier aufgeschrieben sind, stelle das Recht, zu lachen, hinter die Pflicht, zu weinen. Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. Sätze, deren Wahnwitz unverlierbar dem Ohr eingeschrieben ist, wachsen zur Lebensmusik. Das Dokument ist Figur; Berichte erstehen als Gestalten, Gestalten verenden als Leitartikel; das Feuilleton bekam einen Mund, der es monologisch von sich gibt; Phrasen stehen auf zwei Beinen – Menschen behielten nur eines. Tonfälle rasen und rasseln durch die Zeit und schwellen zum Choral der unheiligen Handlung. Leute, die unter der Menschheit gelebt und sie überlebt haben, sind als Täter und Sprecher einer Gegenwart, die nicht Fleisch, doch Blut, nicht Blut, doch Tinte hat, zu Schatten und Marionetten abgezogen und auf die Formel ihrer tätigen Wesenlosigkeit gebracht. Larven und Lemuren, Masken des tragischen Karnevals, haben lebende Namen, weil dies so sein muß und weil eben in dieser vom Zufall bedingten Zeitlichkeit nichts zufällig ist. Das gibt keinem das Recht, es für eine lokale Angelegenheit zu halten. Auch Vorgänge an der Sirk-Ecke sind von einem kosmischen Punkt regiert. Wer schwache Nerven hat, wenn auch genug starke, die Zeit zu ertragen, entferne sich von dem Spiel. Es ist nicht zu erwarten, daß eine Gegenwart, in der es sein konnte, das wortgewordene Grauen für etwas anderes nehme als für einen Spaß, zumal dort, wo es ihr aus der anheimelnden Niederung der grausigsten Dialekte wiedertönt, und das eben Erlebte, Überlebte für etwas anderes als Erfindung. Für eine, deren Stoff sie verpönt. Denn über alle Schmach des Krieges geht die der Menschen, von ihm nichts mehr wissen zu wollen, indem sie zwar ertragen, daß er ist, aber nicht, daß er war. Die ihn überlebt haben, ihnen hat er sich überlebt, und gehen zwar die Masken durch den Aschermittwoch, so wollen sie doch nicht aneinander erinnert sein. Wie tief begreiflich die Ernüchterung einer Epoche, die, niemals ein Erlebnisses und keiner Vorstellung des Erlebten fähig, selbst von ihrem Zusammenbruch nicht zu erschüttern ist, von der Sühne so wenig spürt wie von der Tat, aber doch Selbstbewahrung genug hat, sich vor dem Phonographen ihrer heroischen Melodien die Ohren zuzuhalten, und genug Selbstaufopferung, um sie gegebenenfalls wieder anzustimmen. Denn daß Krieg sein wird, erscheint denen am wenigsten unfaßbar, welchen die Parole »Jetzt ist Krieg« jede Ehrlosigkeit ermöglicht und gedeckt hat, aber die Mahnung »Jetzt war Krieg!« die wohlverdiente Ruhe der Überlebenden stört. Sie haben den Weltmarkt – das Ziel, zu dem sie geboren wurden – in der Ritterrüstung zu erobern gewähnt; sie müssen mit dem schlechteren Geschäft vorlieb nehmen, sie auf dem Trödelmarkt zu verkaufen. In solcher Stimmung rede ihnen einer vom Krieg! Und es mag zu befürchten sein, daß noch eine Zukunft, die den Lenden einer so wüsten Gegenwart entsprossen ist, trotz größerer Distanz der größeren Kraft des Begreifens entbehre. Dennoch muß ein so restloses Schuldbekenntnis, dieser Menschheit anzugehören, irgendwo willkommen und irgendeinmal von Nutzen sein. Und »weil noch die Gemüter der Menschen wild sind«, sei, zum Hochgericht auf Trümmern, Horatios Botschaft an den Erneuerer bestellt:

Und laßt der Welt, die noch nicht weiß, mich sagen,
Wie alles dies geschah; so sollt ihr hören
Von Taten, fleischlich, blutig, unnatürlich,
Zufälligen Gerichten, blindem Mord;
Von Toden, durch Gewalt und List bewirkt,
Und Planen, die verfehlt, zurückgefallen
Auf der Erfinder Haupt: dies alles kann ich
Mit Wahrheit melden.

Mittwoch, 3. November 2010

Die Konsequenz allen Glaubens ist Ernüchterung und Nüchternheit ist aller Glaube Anfang.
Ausnahmsweise interessierte mich die Realität, weil sie, hervorgegangen aus der Phantasie, die mir die Liebe zu ihr einflösste, gewissermassen zu deren Rechtfertigung wurde, sie vertiefte.

Marcel Proust

Dienstag, 2. November 2010

Sie verkürzen sich die Zeit mit Kopfrechnen: er zieht die Wurzel aus ihrer Sinnlichkeit und sie erhebt ihn zur Potenz.

Karl Kraus

Montag, 1. November 2010

Liebe und Kunst

Liebe und Kunst umarmen nicht was schön ist, sondern was eben dadurch schön wird.

Karl Kraus