Sonntag, 27. Februar 2011

Dunkler Himmel des Finanzkapitals

(…)
Wird sonst nach der Wirklichkeit gedichtet, so geht hier die Dichtung der Wirklichkeit voran. In den Werken Franz Kafkas ist der verworrene menschliche Großbetrieb, dessen Entsetzlichkeit an die für Kinder hergerichteten Pappmodelle vertrackter Raubritterburgen erinnert, ist die Unerreichbarkeit der höchsten Instanz ein für allemal dargestellt. Die Klage des verarmten Kleinbürgers, die bis in die Sprache hinein Kafka entlehnt scheint, betrifft zweifelsohne einen extremen Fall, deutet aber doch haarscharf auf den typischen Ort hin, den der mittlere Vorgesetzte, also in der Regel der Abteilungsleiter, im modernen Großunternehmen einnimmt. Seine Stellung, der eines militärischen Chargierten von geringeren Graden vergleichbar, ist darum so wichtig, weil die Beziehungen zwischen den Sphären des Betriebs durch die Rationalisierung noch abstrakter geworden sind, als sie vordem schon waren. Je planvoller die Organisation ist, desto weniger haben die Menschen miteinander zu tun. Die Hochgestellten haben kaum die Möglichkeit, etwas von den Angestellten in den unteren Regionen zu wissen, aus denen der Blick erst recht nicht aufwärts dringt. Der Abteilungsleiter, der die Weisungen empfängt und weitergibt, spielt den Vermittler. Stieße er nach oben ebenso unmittelbar auf Grund wie bei seinen Untergebenen, so wären immerhin Menschen durch ihn verbunden. Aber wo sitzen denn die oberen Herren Aufsichtsführenden, die wirklich die Verantwortung haben? Auch der Direktor, von dem der Abteilungsleiter abhängt, befindet sich heute meist in einer abhängigen Position und nennt sich gern selbst einen Angestellten, wenn er sich klein machen will. Über ihn hinweg geht es zum Aufsichtsrat und zu den Vertretern der Banken, und die Spitze der Hierarchie verliert sich im dunklen Himmel des Finanzkapitals. So fern sind die Erhabenen gerückt, daß sie von dem Leben in der Tiefe nicht mehr berührt werden und ihre Beschlüsse rein auf Grund wirtschaftlicher Erwägung fassen können. Diese fordern möglicherweise, daß aus einer Abteilung eine Mehrleistung herausgepresst werde, und der Abteilungsleiter muß für die Erfüllung der Forderung sorgen. Das Geheiß mag unter Umständen eine Härte bedeuten, indessen die Oberen kennen das Personal nicht. Der Abteilungsleiter, der es kennt, will vielleicht seinerseits nicht die eigene Stellung riskieren. Man setze getrost voraus, daß nicht nur er, sondern auch die Mächtigen verhältnismäßig wohlmeinend gesinnt seien, und dennoch bleiben die inhumanen Akte nicht aus. Sie sind eine notwendige Folge der Abstraktheit des herrschenden Wirtschaftens, das von Motiven bewegt wird, die sich der realen Dialektik mit den im Betrieb umgetriebenen Menschen zu entziehen suchen.
(…)

Siegfried Kracauer, Die Angestellten (1930)

Donnerstag, 24. Februar 2011

Mittwoch, 23. Februar 2011

A Torinói ló

Anlaufnehmen fürs Altwerden

Das Wasser plätscherte zu Füßen der Angler, und ich setzte mich hin, um ihnen zuzuschauen. Nein wirklich, ich hatte es auch nicht eilig, kein bisschen eiliger als sie. Ich war an dem Zeitpunkt angelangt, in dem Alter vielleicht, in dem man genau weiß, was man mit jeder Stunde, die vorübergeht, verliert. Aber man hat noch nicht die Weisheit und Kraft erlangt, die es bräuchte, um auf dieser Bahn der Zeit urplötzlich innezuhalten, und außerdem, wenn man es könnte, dann wüßte man nicht, was tun, ohne diese Manie voranzukommen, die einen am Wickel hat und die man seit seiner Jugend so bewundert. Aber jetzt ist man schon weniger stolz darauf, auf seine Jugend, man wagt es noch nicht, öffentlich einzugestehen, dass die Jugend vielleicht nur eines ist, Anlaufnehmen fürs Altwerden nämlich.

Louis-Ferdinand Céline

Spleen und Ideal

Wie lieb ich dieser nackten Zeiten Bild
Mit Statuen, von Phöbus' Gold umspielt,
Als Mann und Weib sich aneinander freuten,
Lebhaft und ohne Falsch und Ängstlichkeiten,
Und stählten sie die Kraft der edlen Glieder,
Sah liebevoll der Himmel auf sie nieder.
Kybele, fruchtbar, voller reicher Gaben,
Schien an den Söhnen keine Last zu haben,
Das Herz der Wölfin zärtlich überging,
Das All an ihren braunen Zitzen hing.
Der Mann war stolz auf seiner Schönen Schar,
Für die er, stark und vornehm, König war,
Früchte, die makellos und rein zu preisen,
verlockend, in ihr festes Fleisch zu beißen!

Doch will der Dichter heute noch gewahren
Die Herrlichkeiten, die am Ursprung waren,
Wenn Mann und Weib ihm ihre Nacktheit zeigen,
Faßt seine Seele kaltes, finsteres Schweigen.
Ein grauenvolles Bild muß er da sehn:
O Mißgestalten, die um Kleider flehn!
O lächerliche Rümpfe, der Maskierung wert!
Arme, verkrampfte Körper, bäuchig, abgezehrt,
Vom Gott des Nutzens, heiter, ungerührt
Als Kinder schon in erzene Windeln eingeschnürt!
Und Frauen, blaß wie Kerzen anzuschauen,
Genährt, verzehrt vom Laster, und auch ihr, Jungfrauen,
Vom Fluch der Mütter seid ihr nicht befreit,
Erbt ihn mit aller Schmach der Fruchtbarkeit!

Gewiß, Schönheiten gib's in unserm Land,
Die waren alten Völkern unbekannt:
Gesichter , die von brandigen Herzen künden,
Der Sehnsucht Schönheit mag man darin finden;
Doch was die späte Muse sich erdacht,
Hat dies Geschlecht nicht davon abgebracht,
Daß es der Jugend Huldigung bezeigt,
- Der heiligen Jugend, sanft die Stirn geneigt,
Das Auge hell, wie Wasser klar, ganz schlicht,
Verströmt sie überall und sorgt sich nicht,
Wie Himmel, Vögel, Blumen, die da blühen,
Ihr Duften, Singen und ihr sanftes Glühen!

Charles Baudelaire (Übersetzung von Monika Fahrenbach-Wachendorff)

Dienstag, 22. Februar 2011

Die Geducktheit des Käfers

(…)
Praxis war der Reflex von Lebensnot; das entstellt sie noch, wo sie die Lebensnot abschaffen will. Insofern ist Kunst Kritik von Praxis als Unfreiheit; damit hebt ihre Wahrheit an. Der Abscheu vor Praxis, die heute allerorten so hoch im Kurs steht, läßt schockhaft sich nachfühlen an naturgeschichtlichen Phänomenen wie den Bauten der Biber, der Emsigkeit der Ameisen und Bienen, der grotesk mühseligen Geducktheit des Käfers, der einen Halm transportiert. Jüngstens verschränkt in Praxis sich mit einem Ältesten; sie wird abermals zum heiligen Tier, so wie es in der Vorwelt als Frevel dünken mochte, nicht mit Haut und Haaren dem selbsterhaltenden Betrieb der Gattung sich auszuliefern. Die Physiognomie von Praxis ist tierischer Ernst; er löst sich, wo das Ingenium von Praxis sich emanzipiert: das wohl war von Schillers Spieltheorie gemeint. Die meisten Aktionisten sind humorlos auf eine Weise, die nicht weniger beängstigt als der Mitlacher- Humor anderer.
(…)

Adorno, Marginalien zu Theorie und Praxis

Übereinstimmungen

Natur: ein Tempelblau, lebendige Säulen ragen,
Manchmal daraus ein wirres Wort entflieht;
Der Mensch durch Wälder von Symbolen zieht,
Die mit vertrauten Blicken ihn befragen.

Wie lang ein Hall und Widerhall von weit
In Eines dunkel tief zusammenklingen,
Ton, Duft und Farbe ineinander schwingen,
Endlos wie Nacht und wie die Helligkeit.

Und Düfte gibt es, frischer als ein Kind,
Wie Wiesen grün, süß wie Oboen tönen,
- Und andere, die verderbt und üppig sind,

Die triumphierend sich unendlich dehnen,
Wie Ambra, Moschus, Mandel, Myrrhe singen
Verzückungen, die Geist und Sinn durchdringen.

Charles Baudelaire (1861) übersetzt von Monika Fahrenbach-Wachendorff

Montag, 21. Februar 2011

Eluvium - I Will Not Forget That I Have Forgotten

Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut

und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, davon weg zu irgend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Auge schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.

Hegel 

Grabschrift für ein Hündchen (Woodie, gestorben 22. Mai 1913.)

Ein kleiner Hund mit langem Haar, den ich persönlich kannte,
er lachte, wenn man zu ihm sprach, er weinte, weil er stumm war,
sein Blick war Dank der Kreatur, für sich und für die andern.
Da kam ein Wagen ohne Pferd und tötete das Hündchen.
Wer hatte es so eilig, ach, wer hatte es so eilig.
Wie wenig Raum hat der Passant für sich gebraucht im Leben.
Wie eine Schlange konnte er, wenn du ihm pfiffst, erscheinen.
Wer füllt die schmale Stelle aus? Unwürdige sind am Leben,
sie brauchen mehr und dennoch bleibt der Würdige unersetzlich.
Und auch sein Beispiel bessert nicht, sein Opfer nicht die andern,
die immer allzu übrig sind. Der dort ging seines Weges
und starb daran. Die kleine Frau, sie sah sich um und rief ihn,
sie rief und rief und sah ihn nicht, da lag er in der Sonne.
So wenig Stelle nahm er ein. Und so viel Stille bleibet,
wo Leben keine Worte hat.

Karl Kraus

Freitag, 18. Februar 2011

Moralisch-rosa Hautfarbe

(…)
Vor allem wollen die Arbeitgeber einen netten Eindruck haben. Leute, die nett wirken – zu einer solchen Wirkung gehören natürlich die netten Manieren -, werden auch dann genommen, wenn ihre Zeugnisse schlecht sind. Der Beamte meint: „Es sollte bei uns wie bei den Amerikanern sein. Der Mann muß ein freundliches Gesicht haben.“ Um die Freundlichkeit des Mannes zu steigern, fordert das Arbeitsamt übrigens, daß er sich mit rasierten Wangen und in seinem besten Anzug bewerbe. Auch der Betriebsratsvorsitzende eines Großbetriebs empfiehlt den Angestellten bei Chefbesuchen im Kriegsschmuck ihrer Feiertagskleider aufzutreten. Außerordentlich lehrreich ist eine Auskunft, die ich in einem bekannten Berliner Warenhaus erhalte. „Wir achten bei Engagements von Verkaufs- und Büropersonal“, sagt ein maßgebender Herr der Personalabteilung, „vorwiegend auf ein angenehmes Aussehen. „ Von fern erinnert er etwas an Reinhold Schünzel in älteren Filmen. Was er unter angenehm verstehe, fragte ich ihn; ob pikant oder hübsch. „Nicht gerade hübsch. Entscheidend ist vielmehr die moralisch-rosa Hautfarbe, Sie wissen doch…“
Ich weiß. Eine moralisch-rosa Hautfarbe – diese Begriffskombination macht mit einem Schlag den Alltag transparent, der von Schaufensterdekorationen, Angestellten und illustrierten Zeitungen ausgefüllt ist. Seine Moral soll rosa gefärbt sein, sein Rosa moralisch untermalt. So wünschen es die, denen die Auslese obliegt. Sie möchten das Leben mit einem Firnis überziehen, der seine keineswegs rosige Wirklichkeit verhüllt. Wehe, wenn die Moral unter die Haut dränge und das Rosa nicht gerade noch moralisch genug wäre, um den Ausbruch der Begierden zu verhindern. Die Düsterkeit der ungeschminkten Moral brächte dem Bestehenden ebenso Gefahr wie ein Rosa, das unmoralisch zu flammen begänne. Damit beide sich aufheben, werden sie aneinander gebunden. Das gleiche System, das der Eignungsprüfung bedarf, produziert auch dieses nette und freundliche Gemenge, und je mehr die Rationalisierung fortschreitet, desto mehr nimmt die moralisch-rosa Aufmachung überhand. Die Behauptung ist kaum zu gewagt, daß sich in Berlin ein Angestelltentypus herausbildet, der sich in der Richtung auf die erstrebte Hautfarbe uniformiert. Sprache, Kleider, Gebärden und Physiognomien gleichen sich an, und das Ergebnis des Prozesses ist ebenjenes angenehme Aussehen, das mit Hilfe von Photographien umfassend wiedergegeben werden kann. Eine Zuchtwahl, die sich unter dem Druck der sozialen Verhältnisse vollzieht und zwangsläufig durch die Weckung entsprechender Konsumentenbedürfnisse von der Wirtschaft unterstützt wird.
(…)

Siegfried Kracauer, Die Angestellten (1930)

An den Leser

Torheit, Sünde, Geiz und Irrtum zehren
An unserm Leib, besetzen unsern Geist;
Und jeder seine lieben Skrupel speist,
Wie Bettelleute Ungeziefer nähren.

Verstockte sind wir, die nur lau bereun,
Doch wenn es lohnt, auch manches eingestehn,
Dann munter auf dem Sumpfweg weitergehn
Und glauben, Tränen waschen alles rein.

Satan, der Dreimalgroße, wiegt allzeit
Auf Bösem weich gebettet das Gemüt,
Und das Metall der Willenskraft verglüht
Durch dieses Alchimisten Fertigkeit.

Der Teufel hält die Fäden, die uns leiten!
Wir finden Lust an widerlichen Dingen,
Die täglich uns der Hölle näherbringen,
Furchtlos, durch üblen Dunst und Dunkelheiten.

Lüstlingen gleich, die gierig schmatzend küssen
Von alten Huren die zerquälten Brüste,
Stehlen wir hastig unerlaubte Lüste,
Die wir wie Apfelsinen pressen müssen.

Und wie von Würmern, die sich wimmelnd drängen,
Wird von Dämonen unser Hirn verschlungen,
Mit unserm Atem fließt in unsre Lungen
Der unsichtbare Tod mit Klagesängen.

Wenn die Gewalt, das Gift, der Dolch und Brand
Noch nicht das Jammerleben, das wir führen,
Auf dem Entwurf mit hübschen Mustern zieren,
So, weil die Kühnheit unsrer Seele schwand!

Doch unter Panthern und Schakalen aller Arten,
Den Affen, Geiern, Schlangen, die sich winden,
Den Ungeheuern, die wir heulend finden,
Kreischend und knurrend in des Lasters Garten,

Ist eins vor allen häßlich und gemein!
Zwar schreit es nicht und scheint sich kaum zu regen,
Doch würd es gern die Welt in Trümmer legen
Und schlänge gähnend sie in sich hinein;

Die Langeweile ist's! - Das Auge tränenreich
Raucht sie die Wasserpfeife, träumt vom Blutgericht.
Kennst du das heikle Ungeheuer nicht,
- Scheinheiliger Leser - Bruder, du - mir gleich!

Charles Baudelaire (1861) übersetzt von Monika Fahrenbach-Wachendorff

Donnerstag, 17. Februar 2011

DJ Cheeba - Revenge of The Nerd

DJ Cheeba - Revenge of The Nerd from Solid Steel on Vimeo.

KIEGIEB

Kunst ist eine Gefangene ihres eigenen Begriffes.

Walter Benjamin

Der Wirklichkeit wird so sehr zugesetzt, daß sie Farbe bekennen muß.

Mittwoch, 16. Februar 2011

Der Paragraph.

Was die Nazis den Juden antaten, war unsagbar: die Sprachen hatten kein Wort dafür, denn selbst Massenmord hätte gegenüber dem Planvollen, Systematischen und Totalen noch geklungen wie aus der guten alten Zeit des Degerlocher Hauptlehrers. Und doch mußte ein Ausdruck gefunden werden, wollte man nicht den Opfern, deren es ohnehin zu viele sind, als daß ihre Namen erinnert werden können, noch den Fluch des Nicht gedacht werden soll ihrer antun. So hat man im Englischen den Begriff genocide geprägt. Aber durch die Kodifizierung, wie sie in der internationalen Erklärung der Menschenrechte niedergelegt ist, hat man zugleich, um des Protestes willen, das Unsagbare kommensurabel gemacht. Durch die Erhebung zum Begriff ist die Möglichkeit gleichsam anerkannt: eine Institution, die man verbietet, ablehnt, diskutiert. Eines Tages mögen vorm Forum der United Nations Verhandlungen darüber stattfinden, ob irgendeine neuartige Untat unter die Definition des genocide fällt, ob die Nationen das Recht haben einzuschreiten, von dem sie ohnehin keinen Gebrauch machen wollen, und ob nicht angesichts unvorhergesehener Schwierigkeiten in der Anwendung auf die Praxis der ganze Begriff des genocide aus den Statuten zu entfernen sei. Kurz danach gibt es mittelgroße Schlagzeilen in der Zeitungssprache: Genocidmaßnahmen in Ostturkestan nahezu durchgeführt.

Adorno, Minima Moralia (1951)

Dienstag, 15. Februar 2011

Sonntag, 13. Februar 2011

Charles Baudelaire

Man soll niemandes Sensibilität verachten. Eines jeden Sensibilität ist sein Genie.

Ist die Arbeit nicht das Salz, welches die mumifizierten Seelen konserviert?

Nach einer Ausschweifung fühlt man sich immer viel einsamer, viel verlassener.

Mittwoch, 9. Februar 2011

Indem ich es aber zeige, hört das Jetzt auf zu sein;

ist im Moment des Zeigens bereits ein gewesenes ... Was aber gewesen ist, ist kein Wesen; es ist nicht mehr. Wird Bewegung ... wird ein Jetzt, ein Jetzt und noch ein Jetzt ... wird ein Jetzt als einfacher Tag, das viele Jetzt in sich hat ... Stunden ... Minuten ... viele Jetzt ... eine Vielheit von Jetzt ... Und das Hier ist, wie dieses Jetzt, nicht ein Hier, sondern ein Vorn und Hinten, ein Oben und Unten, ein Rechts und Links. Es verschwindet ... in anderen Hier, verschwindet ... in einer Komplexion aus vielen Hiers ... geht über in eine Bewegung von dem gemeinten Hier ... geht über ... durch viele Hier ... in das allgemeine Hier Zu sein, das ... wie der Tag ... eine Vielheit der Jetzt ... eine Vielheit der Hier ist ...

Hegel

Karen Blixen an Thorkild Björnvig

Die Sehnsucht selbst ist ein Unterpfand dafür, 
daß das, was wir ersehnen, existiert!

Anfang von Maxim Gorkis ‚Die Mutter’ (1906)

Tagtäglich erklangen in der rauchigen, öligen Luft über der Arbeitervorstadt die zitternden, heulenden Töne der Fabriksirene, und ihrem Ruf gehorchend, kamen aus den kleinen grauen Häusern gleich erschreckten Küchenschaben finstere Menschen auf die Straße gelaufen, die ihre Muskeln durch Schlaf nicht hatten erfrischen können. In der kalten Dämmerung gingen sie auf der ungepflasterten Straße zu den hohen Steinkäfigen der Fabrik, die sie mit gleichmütiger Sicherheit erwartete und den schmutzigen Weg durch Dutzende fettiger quadratischer Augen erleuchtete. Der Schlamm schmatzte unter den Füßen. Heisere Rufe verschlafener Stimmen ertönten, grobe, böse Schimpfreden durchschnitten die Luft, während gleichzeitig andere Geräusche, schwerer Maschinenlärm und das Zischen des Dampfes, den Menschen entgegenschollen. Düster und streng schimmerten undeutlich die hohen, schwarzen Schornsteine, die sich wie dicke Pfähle über der Vorstadt erhoben.
Abends, wenn die Sonne unterging und ihre roten Strahlen müde in den Fensterscheiben der Häuser glänzten, stieß die Fabrik die Menschen gleich übriggebliebenen Schlacken aus ihren Steinschoße aus, und verrußt, mit schwarzen Gesichtern, in denen die hungrige Zähne schimmerten, gingen sie wieder durch die Straßen und verbreiteten in der Luft den klebrigen Geruch des Maschinenöls. Jetzt klangen ihre Stimmen lebhaft und sogar freudig. Für heute war die Frontarbeit beendet, zu Hause harrten ihrer das Abendessen und die Ruhe.
Wieder war ein Tag von der Fabrik aufgezehrt, die Maschinen hatten aus den Muskeln der Menschen soviel Kraft gesogen, wie sie brauchten. Der Tag war spurlos aus dem Leben ausgelöscht, der Mensch war dem Grabe wieder einen Schritt näher gekommen, doch er sah jetzt den Genuß des Ausruhens, die Freuden der rauchigen Schenke dicht vor sich und – war zufrieden.
An Feiertagen schlief man bis gegen zehn Uhr, dann zogen die Bejahrteren und Verheirateten ihre besten Kleider an und gingen zur Messe; unterwegs schimpften sie auf die jungen Leute wegen ihrer Gleichgültigkeit gegen die Kirche. Aus der Kirche kehrten sie nach Hause zurück, aßen Piroggen und legten sich wieder schlafen – bis zum Abend.
Die durch Jahre aufgespeicherte Müdigkeit hatte den Menschen die Esslust geraubt, und um essen zu können, tranken sie viel und reizten den Magen mit scharf beizendem Branntwein.
Abends schlenderten sie durch die Straßen, und wer Galoschen hatte, zog sie an, auch wenn es trocken war, wer einen Regenschirm besaß, nahm ihn mit, selbst wenn die Sonne schien.
Begegneten sie einander, so sprachen sie über die Fabrik, über die Maschinen, schimpften auf die Meister; ihre Reden und Gedanken beschäftigten sich nur mit Dingen, die die Arbeit betrafen. Kaum daß vereinzelte Funken unbeholfener kraftloser Gedanken in dem langweiligen Einerlei der Tage aufleuchteten. Nach Hause zurückgekehrt, zankten sie sich mit ihren Frauen und schlugen sie oft, ohne die Fäuste zu schonen. Die Jugend saß in den Wirtschaften oder veranstaltete reihum abendliche Zusammenkünfte, spielte Harmonika, sang häßliche, unanständige Lieder, tanzte, führte schmutzige Reden und trank. Von der Arbeit erschöpft, wurden die Menschen schnell berauscht, und in ihrer Brust erwachte eine unverständliche, krankhafte Gereiztheit, die einen Ausweg forderte. Sie griffen krampfhaft nach jeder Möglichkeit, dieses Gefühl der Unruhe zu entladen, und fielen wegen geringfügiger Kleinigkeiten ergrimmt wie wilde Tiere übereinander her. So entstanden blutige Schlägereien. Mitunter endeten sie mit schweren Verletzungen, hin und wieder aber auch mit einem Totschlag. 
In den gegenseitigen Beziehungen der Menschen überwog das Gefühl lauernder Gehässigkeit, es war ebenso eingewurzelt, wie die unheilbare Müdigkeit ihrer Muskeln. Die Menschen wurden mit diesem Seelenleiden als Erbteil ihrer Väter geboren, es begleitete sie wie ein schwarzer Schatten bis zum Grabe und trieb sie im Laufe des Lebens zu einer Reihe von Handlungen, die durch ihre sinnlose Grausamkeit abscheulich waren.
(…)

Samstag, 5. Februar 2011

Das Fliegenpapier

Das Fliegenpapier Tangle-foot ist ungefähr sechsunddreißig Zentimeter lang und einundzwanzig Zentimeter breit; es ist mit einem gelben, vergifteten Leim bestrichen und kommt aus Kanada. Wenn sich eine Fliege darauf niederläßt - nicht besonders gierig, mehr aus Konvention, weil schon so viele andere da sind - klebt sie zuerst nur mit den äußersten, umgebogenen Gliedern aller ihrer Beinchen fest. Eine ganz leise, befremdliche Empfindung, wie wenn wir im Dunkel gingen und mit nackten Sohlen auf etwas träten, das noch nichts ist als ein weicher, warmer, unübersichtlicher Widerstand und schon etwas, in das allmählich das grauenhaft Menschliche hineinflutet, das Erkanntwerden als eine Hand, die da irgendwie liegt und uns mit fünf immer deutlicher werdenden Fingern festhält. Dann stehen sie alle forciert aufrecht, wie Tabiker, die sich nichts anmerken lassen wollen, oder wie klapprige alte Militärs (und ein wenig o-beinig, wie wenn man auf einem scharfen Grat steht). Sie geben sich Haltung und sammeln Kraft und Überlegung. Nach wenigen Sekunden sind sie entschlossen und beginnen, was sie vermögen, zu schwirren und sich abzuheben. Sie führen diese wütende Handlung so lange durch, bis die Erschöpfung sie zum Einhalten zwingt.

Es folgt eine Atempause und ein neuer Versuch. Aber die Intervalle werden immer länger. Sie stehen da, und ich fühle, wie ratlos sie sind. Von unten steigen verwirrende Dünste auf. Wie ein kleiner Hammer tastet ihre Zunge heraus. Ihr Kopf ist braun und haarig, wie aus einer Kokosnuß gemacht; wie menschenähnliche Negeridole. Sie biegen sich vor und zurück auf ihren festgeschlungenen Beinchen, beugen sich in den Knien und stemmen sich empor, wie Menschen es machen, die auf alle Weise versuchen, eine zu schwere Last zu bewegen; tragischer als Arbeiter es tun, wahrer im sportlichen Ausdruck der äußersten Anstrengung als Laokoon. Und dann kommt der immer gleich seltsame Augenblick, wo das Bedürfnis einer gegenwärtigen Sekunde über alle mächtigen Dauergefühle des Daseins siegt. Es ist der Augenblick, wo ein Kletterer wegen des Schmerzes in den Fingern freiwillig den Griff der Hand öffnet, wo ein Verirrter im Schnee sich hinlegt wie ein Kind, wo ein Verfolgter mit brennenden Flanken stehen bleibt. Sie halten sich nicht mehr mit aller Kraft ab von unten, sie sinken ein wenig ein und sind in diesem Augenblick ganz menschlich. Sofort werden sie an einer neuen Stelle gefaßt, höher oben am Bein oder hinten am Leib oder am Ende eines Flügels.

Wenn sie die seelische Erschöpfung überwunden haben und nach einer kleinen Welle den Kampf um ihr Leben wieder aufnehmen, sind sie bereits in einer ungünstigen Lage fixiert, und ihre Bewegungen werden unnatürlich. Dann liegen sie mit gestreckten Hinterbeinen auf den Ellbogen gestemmt und suchen sich zu heben. Oder sie sitzen auf der Erde, aufgebäumt, mit ausgestreckten Armen, wie Frauen, die vergeblich ihre Hände aus den Fäusten eines Mannes winden wollen. Oder sie liegen auf dem Bauch, mit Kopf und Armen voraus, wie im Lauf gefallen, und halten nur noch das Gesicht hoch. Immer aber ist der Feind bloß passiv und gewinnt bloß von ihren verzweifelten, verwirrten Augenblicken. Ein Nichts, ein Es zieht sie hinein. So langsam, daß man dem kaum zu folgen vermag, und meist mit einer jähen Beschleunigung am Ende, wenn der letzte innere Zusammenbruch über sie kommt. Sie lassen sich dann plötzlich fallen, nach vorne aufs Gesicht, über die Beine weg; oder seitlich, alle Beine von sich gestreckt; oft auch auf die Seite, mit den Beinen rückwärts rudernd. So liegen sie da. Wie gestürzte Aeroplane, die mit einem Flügel in die Luft ragen. Oder wie krepierte Pferde. Oder mit unendlichen Gebärden der Verzweiflung. Oder wie Schläfer. Noch am nächsten Tag wacht manchmal eine auf, tastet eine Weile mit einem Bein oder schwirrt mit dem Flügel. Manchmal geht solch eine Bewegung über das ganze Feld, dann sinken sie alle noch ein wenig tiefer in ihren Tod. Und nur an der Seite des Leibs, in der Gegend des Beinansatzes, haben sie irgend ein ganz kleines, flimmerndes Organ, das lebt noch lange. Es geht auf und zu, man kann es ohne Vergrößerungsglas nicht bezeichnen, es sieht wie ein winziges Menschenauge aus, das sich unaufhörlich öffnet und schließt.

Robert Musil

Freitag, 4. Februar 2011

Mittwoch, 2. Februar 2011

Der Jammer über den Verlust ordnender Formen steigt an mit deren Gewalt.

Mächtiger sind die Institutionen als je; längst haben sie etwas wie den neonbelichteten Stil der Kulturindustrie hervorgebracht, der die Welt überzieht wie einst die Barockisierung. Der ungeminderte Konflikt zwischen der Subjektivität und den Formen verkehrt sich unter deren Allherrschaft dem sich als ohnmächtig erfahrenden Bewusstsein, das nicht mehr sich zutraut, die Institution und ihre geistigen Ebenbilder zu verändern, zur Identifikation mit dem Angreifer. Die beklagte Entformung der Welt, Auftakt zum Ruf nach verbindlicher Ordnung, die das Subjekt stillschweigend von außen, heteronom erwartet, ist, soweit ihre Behauptung mehr ist als bloße Ideologie, Frucht nicht der Emanzipation des Subjekts sondern von deren Misslingen. Was als das Formlose einer einzig nach subjektiver Vernunft gemodelten Verfassung des Daseins erscheint, ist, was die Subjekte unterjocht, das reine Prinzip des Füranderesseins, des Warencharakters. Um der universalen Äquivalenz und Vergleichbarkeit willen setzt es qualitative Bestimmungen allerorten herab, nivelliert tendenziell. Derselbe Warencharakter aber, vermittelte Herrschaft von Menschen über Menschen, fixiert die Subjekte in ihrer Unmündigkeit; ihre Mündigkeit und die Freiheit zum Qualitativen würden zusammengehen. Stil offenbart unterm Scheinwerfer der modernen Kunst selber seine repressiven Momente. Das von ihm verborgte Bedürfnis nach Form betrügt über deren Schlechtes, Zwangshaftes. Form, die nicht in sich selbst vermöge ihrer durchsichtigen Funktion ihr Lebensrecht beweist, sondern nur gesetzt wird, damit Form sei, ist unwahr und damit unzulänglich auch als Form.

Adorno, Negative Dialektik

Dienstag, 1. Februar 2011