Samstag, 30. Juni 2012

Le Loup


Über Tradition - Kapitel 6

Fremd ist dem kritischen Verhältnis zur Tradition der Gestus des "Das interessiert uns nicht mehr", nicht anders als die naseweise Subsumtion von Gegenwärtigem unter allzu weite geschichtliche Begriffe wie den des Manierismus, insgeheim gehorsam der Maxime "Alles schon dagewesen". Solche Verhaltensweisen nivellieren. Sie frönen dem Aberglauben an ungebrochene historische Kontinuität und, in eins damit, ans historische Verdikt; sind konformistisch. Wo die Idiosynkrasie gegen Vergangenes sich automatisiert hat, wie Ibsen oder Wedekind gegenüber, sträubt sie sich gegen das in solchen Autoren, was unerledigt blieb, geschichtlich nicht sich entfaltete oder, wie die Emanzipation der Frau, bloß brüchig. In derlei Idiosynkrasien stößt man auf das wahrhafte Thema der Besinnung auf Tradition, das am Weg liegen Gebliebene, Vernachlässigte, Besiegte, das unter dem Namen des Veraltens sich zusammenfasst. Dort sucht das Lebendige der Tradition Zuflucht, nicht im Bestand von Werken, die da der Zeit trotzen sollen. Dem souveränen Überblick des Historismus in dem der Aberglaube ans Unvergängliche und die eifrige Angst vorm Altmodische fatal sich verschränken, entgeht es. Nach dem Lebendigen der Werke ist in ihrem Inneren zu suchen; nach Schichten, die in früheren Phasen verdeckt waren und erst sich manifestierten, wenn andere absterben und abfallen. Daß Wedekinds 'Frühlings Erwachen' Ephemeres, das Pult von Gymnasiasten und die finsteren Abtritte von Wohnungen des neunzehnten Jahrhunderts, das Unsägliche des Flusses vor der Stadt in der Dämmerung, den Tee, den die Mutter den Kindern auf dem Tablett hereinbringt, das Plappern der Backfische von der Verlobung mit Forstreferendar Pfälle zum Bild eines Unvergänglichen, von je Gewesenen bereitete, offenbart sich erst, nachdem die Wünsche des Stücks nach rechtzeitiger Aufklärung und Toleranz für Halbwüchsige längst erfüllt und gleichgültig geworden sind, ohne die doch jene Bilder sich nie formiert hätten. Gegen das Verdikt des Veralteten steht die Einsicht in den Gehalt der Sache, der sie erneuert. Rechnung trägt dem nur ein Verhalten, das Tradition ins Bewußtsein hebt, ohne ihr sich zu beugen. Sie ist ebenso vor der Furie des Verschwindens zu behüten, wie ihrer nicht minder mythischen Autorität zu entreißen.

Adorno, Ohne Leitbild

Dienstag, 26. Juni 2012

Sonntag, 24. Juni 2012

Über Tradition - Kapitel 5

Diese Antinomie schreibt die mögliche Stellung des Bewußtseins zur Tradition vor. Kants Satz, der kritische Weg sei allein noch offen, ist einer von jenen verbürgesten, deren Wahrheitsgehalt unvergleichlich viel größer ist als das an Ort und Stelle gemeinte. Er trifft nicht nur die besondere Tradition, von der Kant sich lossagte, die der rationalistischen Schule, sondern Tradition insgesamt. Sie nicht vergessen und ihr doch nicht sich anpassen heißt, sie mit dem einmal erreichten Stand des Bewußtseins, dem fortgeschrittensten, konfrontieren und fragen, was trägt und was nicht. Es gibt keinen ewigen Vorrat, kein auch nur in der Idee noch denkbares deutsches Lesebuch. Wohl aber eine Beziehung  zur Vergangenheit, die nicht konserviert, doch manchem durch Unbestechlichkeit zum Überleben verhilft. Bedeutende Traditionalisten der vergangenen Generation wie die Georgeschule und wie Hoffmannsthal, Borchardt und Schröder haben, bei aller restaurativen Absicht, davon etwas gefühlt, wofern sie dem Nüchternen, Gedrungenen den Vorzug gaben vor dem Idealischen. Sie schon klopften die Texte ab nach dem, was hohl klingt und was nicht. Sie haben den Übergang von Tradition ans Unscheinbare, nicht sich selbst setzende registriert, liebten mehr Gebilde, in denen der Wahrheitsgehalt tief dem Stoffgehalt eingesenkt ward, als solche, in denen er als Ideologie darüber schwebt und deshalb keiner ist. An nichts Traditionales ist besser anzuknüpfen als daran, den Zug der in Deutschland verratenen und geschmähten Aufklärung, eine unterirdische Tradition des Antitraditionellen. Aber auch der integre Wille zur Wiederherstellung hatte seinen Zoll zu entrichten. Seine Positivität wurde einer ganzen gehobenen Literatur zum Vorwand. Das Körnige, Gediegenen von Srifter-Imitatoren und Hebel-Auslegern ist heute so billig wie die hochtrabende Geste. In die allgemeine Manipulation sanktionierter Kulturgüter ist das vermeintlich Unverschandelte unterdessen einverleibt; auch bedeutende ältere Gebilde wurden durch Rettung zerstört. Sie weigern sich der Restauration dessen, was sie einmal waren. Objektiv, nicht erst im reflektierenden Bewußtsein lösen kraft ihrer eigenen Dynamik wechselnden Schichten von ihnen sich ab. Das jedoch stiftet eine Tradition, der allein noch zu folgen wäre. Ihr Kriterium ist correspondance. Sie wirft, als neue Hervortretenden, Licht aufs Gegenwärtige und empfängt vom Gegenwärtigen ihr Licht. Solche correspondance ist keine der Einfühlung und unmittelbaren Verwandschaft, sondern bedarf der Distanz. Schlechter Traditionalismus scheidet vom Wahrheitsmoment der sich dadurch, daß er Distanzen herabsetzt, frevelnd nach Unwiederbringlichem greift, während er beredt wird allein im Bewußtsein der Unwiederbringlichkeit. Ein Modell genuiner Beziehung durch Distanz ist Becketts Bewunderung der 'Effi Briest'. Es lehrt, wie wenig die unter dem Begriff der correspondance zu denkende Tradition das Traditionelle als Vorbild duldet.

Adorno, Über Tradition

Freitag, 22. Juni 2012

Dienstag, 19. Juni 2012

Über Tradition - Kapitel 4

Während jedoch subjektiv Tradition zerrüttet ist oder ideologisch verdorben, hat objektiv die Geschichte weiter Macht über alles, was ist und worin sie einsickerte. Daß die Welt aus bloßen Gegebenheiten, ohne die Tiefendimension des Gewordenen, sich zusammenaddierte, das positivistische Dogma, das von ästhetischer Sachlichkeit zu unterscheiden mitunter schwerfällt, ist so illusionär wie die autoritätsgläubige Berufung auf Tradition. Was sich geschichtslos, reiner Anfang dünkt, ist erst recht Beute der Geschichte, bewußtlos und darum verhängnisvoll; an den archaisierenden ontologischen Richtungen der Philosophie ist das mittlerweile dargetan worden. Der Schriftsteller, der des scheinhaften Moments an der Tradition sich erwehrt, und der sich selbst in keiner mehr empfindet, ist doch in sie eingespannt, vorab durch die Sprache. Die schriftstellerische  ist kein Agglomerat von Spielmarken, sondern die Valeurs eines jeden Worts und einer jeden Wortverbindung empfangen objektiv ihren Ausdruck aus ihrer Geschichte, und in dieser steckt der geschichtliche Prozeß überhaupt. Das Vergessen, von dem einmal Brecht das Rettende sich versprach, ist unterdessen ins mechanisch Leere übergegangen; die Armut des reinen Jetzt und Hier hat sich als abstrakte Verneinung des falschen Reichtum herausgestellt, vielfach als Apotheose des bürgerlichen Puritanismus. Der jeglicher Erinnerungsspur entäußerte Augenblick ist ganz hinfällig in dem Wahn, gesellschaftlich Vermitteltes sei natürliche Form oder Naturmaterial. Was in den Verfahrungsweisen das geschichtlich einmal Errungene opfert, regrediert. Verzicht hat seinen Wahrheitsgehalt nur, wo er als verzweifelter sich gestaltet, nicht wo er stur triumphiert. Das Glück der Tradition, das reaktionäre preisen, ist nicht nur die Ideologie, die es ist. Wer leidet unter der Allherrschaft des bloß Seienden und Sehnsucht hat nach dem, was noch nie war, der mag mehr Wahlverwandschaft zu einem süddeutschen Marktplatz spüren als zu einem Staudamm, obwohl er weiß, wie sehr das Fachwerk zur Konservierung von Muff herhält, dem Komplement technifizierten Unheils. Wie die in sich verbissene Tradition ist das absolut Traditionslose naiv: ohne Ahnung von dem, was an Vergangenen in der vermeintlich reinen, vom Staub des Zerfallenen ungetrübten Beziehung zu den Sachen steckt. Inhuman aber ist das Vergessen, weil das akkumulierte Leiden vergessen wird; denn die geschichtliche Spur an den Dingen, Worten, Farben und Tönen ist immer die vergangenen Leidens. Darum stellt Tradition heute vor einen unauflöslichen Widerspruch. Keine ist gegenwärtig und zu beschwören; ist aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit. 

Adorno, Über Tradition

Ernest Ranglin - Below The Bassline

Montag, 18. Juni 2012

Er ist noch nicht fertig, sage ich dir!

CLOV: Deine Hunde sind da.
Er gibt den Hund Hamm, der ihn auf seine Knie stellt, ihn betastet und streichelt.
HAMM: Er ist weiß, nicht wahr?
CLOV: Beinahe.
HAMM: gereizt Wieso beinahe? Ist er weiß oder ist er es nicht?
CLOV: Er ist es nicht.
Pause.
HAMM: Du hast das Geschlecht vergessen.
CLOV: verärgert Er ist doch noch nicht fertig. Das Geschlecht kommt zuletzt dran. Pause.
HAMM: Du hast ihm sein Halsband nicht angelegt.
CLOV: wütend Er ist noch nicht fertig, sage ich dir! Man macht seinen Hund zuerst fertig, dann legt man ihm sein Halsband an. Pause.

Samuel Beckett, Auszug aus Endspiel

Donnerstag, 14. Juni 2012

The Postal Service vs. The Shins - We Will Become Silhouettes

 

I've got a cupboard with cans of food, filtered water,
And pictures of you and I'm not coming out
Until this is all over
And I'm looking through the glass where the light bends
At the cracks
And I'm screaming at the top of my lungs pretending
The echoes belong to someone
Someone I used to know

And we become silhouettes when our bodies finally go

I want to walk through the empty streets
With something constant under my feet,
But all the news reports recommend that
I stay indoors
Because the air outside will make our cells
Divide at an alarming rate until our shells
Simply cannot hold all our insides in,
And (that's when), (That's when) That's when we'll explode
(and it won't be a pretty sight)

And we'll become silhouettes when our bodies finally go

Römische Elegien : * I *


Saget, Steine, mir an, o sprecht, ihr hohen Paläste!
Straßen, redet ein Wort! Genius, regst du dich nicht?
Ja, es ist alles beseelt in deinen heiligen Mauern,
ewige Roma! Nur mir schweiget noch alles so still.
Oh, wer flüstert mir zu, an welchem Fenster erblick ich
einst das holde Geschöpf, das mich versengend erquickt?
Ahn ich die Wege noch nicht, durch die ich immer und immer,
zu ihr und von ihr zu gehn, opfre die köstliche Zeit?
Noch betracht ich Kirch und Palast, Ruinen und Säulen,
wie ein bedächtiger Mann schicklich die Reise benutzt.
Doch bald ist es vorbei! Dann wird ein einziger Tempel,
Amors Tempel, nur sein, der den Geweihten empfängt.
Eine Welt zwar bist du, o Rom! Doch ohne die Liebe
wäre die Welt nicht die Welt, wäre denn Rom auch nicht Rom.

Johann Wolfgang Goethe

Samstag, 9. Juni 2012

Liebet die Kunst

Liebet die Kunst um der Kunst willen und euch wird alles gegeben was ihr braucht.

Oscar Wilde

Stars | Celebration Guns



So tomorrow there will be another number
For the one who had a name
Desert wind and a perverse desire to win
History buried in shame

Are the beating drums
Celebration guns
The thunder and the laughter
The last thing they remember x2

Then the next day
How will you know your enemy
By their colour or your fear
One by one
We can cage them in your freedom
Make them all disappear

Six hundred sixty-six hundred sixty days
Two guards, one uncharged
This morning's paper's ink stains my fingers
My hands grow darker every day

Are the beating drums
Celebration guns
The thunder and the laughter
The last thing they remember x2

Are the beating drums
Celebration guns
The thunder and the laughter
The last thing they remember x2

Goodnight, sleep light, stranger x3

Freitag, 8. Juni 2012

Jende ri Palenque




"San Basilio de Palenque:
Ein Dorf ehemaliger entlaufener Sklaven in Kolumbien die ihre afrikanischen Wurzeln und Sprache bis heute bewahrt haben"

"San Basilio de Palenque:
Un pueblo fundado por negros cimarrones en Colombia, que conserva las raíces y lengua africanas"

Donnerstag, 7. Juni 2012

Christoph Schlingensief


 

"Ich glaube, dass in der Anhäufung von Schwachsinn mehr Wahrheit liegt als in der Anhäufung von Wahrheit."

"Das einzig herrschende System, das ich kenne, ist das System Mensch. Und da bin ich selber Mitglied." 

Freitag, 1. Juni 2012

Angst

Was mit Vorliebe Angst genannt und zum Existential veredelt wird, ist Klaustrophobie in der Welt: dem geschlossenen System: Sie perpetuiert den Bann als die Kälte zwischen den Menschen, ohne die das Unheil nicht sich wiederholen könnte. Wer nicht kalt ist, sich kalt macht wie nach der vulgären Sprachfigur der Mörder das Opfer, muß sich verurteilt fühlen. Mit der Angst und ihrem Grund verginge vielleicht auch die Kälte. Angst ist in der universalen Kälte die notwendige Gestalt des Fluchs über denen, die an ihr leiden.

Adorno