Montag, 3. Dezember 2012

Montag, 26. November 2012

die genuine Kunst

Doch Werbung, die vorgibt, Kunst zu sein, gleicht im günstigsten Fall dem gewinnenden Lächeln dessen, der etwas von einem will. Das ist nicht nur unaufrichtig, die dubiose Ausstrahlung solcher Erzeugnisse kann sich in uns anreichern wie ein Umweltgift. Die aus Berechnung unternommene Simulation zweckfreier Freundlichkeit bringt langfristig alle unsere Maßstäbe durcheinander und führt dazu, dass irgendwann auch das echte Lächeln, die genuine Kunst, die wahre Freundlichkeit unter Kommerzverdacht stehen. Andauernder Vertrauensbruch macht ratlos und einsam, hilflos und wütend und ängstlich. Es ist die Ursache von Verzweiflung.

David Foster Wallace

Donnerstag, 20. September 2012

Unvereinbar

Kunst wird human in dem Augenblick, da sie den Dienst kündigt. Unvereinbar ist ihre Humanität mit jeglicher Ideologie des Dienstes am Menschen. Treue hält sie den Menschen allein durch Inhumanität gegen sie.

Adorno, Ästhetische Theorie

Montag, 10. September 2012

Dienstag, 4. September 2012

James Murphy

you forget what you meant when you read what you said

Mittwoch, 29. August 2012

Samstag, 25. August 2012

Freitag, 17. August 2012

Sonntag, 12. August 2012

René Clair - Entr'acte

Marcel Duchamp: "Ernst mit Humor getränkt"

Zu guter Letzt müssen wir diese sogenannten Gesetze, die die Wissenschaft aufstellt, akzeptieren, da sie das Leben erleichtern, aber im Hinblick auf ihre tatsächliche Gültigkeit hat das nichts zu besagen. Vielleicht sind sie alle nur Illusionen. Wir sind so stolz auf uns selbst, wir glauben, wir seien kleine Götter auf Erden – ich zweifle sehr daran, daß wir das sind; das ist alles. Das Wort 'Gesetz' ist gegen meine Prinzipien. Die Wissenschaft dreht sich doch so offensichtlich im Kreise, alle fünzig Jahre wird ein neues 'Gesetz' entdeckt, das alles ändert. Ich vermochte einfach nicht einzusehen, weshalb wir vor der Wissenschaft eine solche Achtung hegen sollten, und daher mußte ich den Dingen eine andere Erklärung geben, eine Art Pseudoerklärung. Ich bin Pseudo in allem. Das ist mein Charakteristikum. Ich konnte nie den Ernst des Lebens ausstehen, doch wenn der Ernst mit Humor getränkt ist, bekommt das Ganze einen angenehmeren Ton.

Dienstag, 24. Juli 2012

Honoré de Balzac: Das Künstlerleben

Der Künstler ist die Ausnahme. Sein Müßiggang ist Arbeit, seine Arbeit Erholung. Er ist elegant oder nachlässig, wie's gerade kommt. Er zieht nach seinem Belieben die Arbeiterbluse an oder entschließt sich zu dem Frack, den der Weltmann trägt. Er beugt sich nicht den Gesetzen, er zwingt sie den Menschen auf. Ob er sich damit beschäftigt, nichts zu tun oder ein Meisterwerk erwägt, ohne dabei beschäftigt zu erscheinen, ob er, meinetwegen mit einem Stück Holz, ein Pferd lenkt oder mit großen Zügeln die vier Pferde einer Britschka, ob er keine fünfundzwanzig Centimes in der Tasche hat oder das Gold mit vollen Händen von sich wirft – er ist immer Ausdruck eines großen Gedankens und beherrscht die Gesellschaft.
Als Mr. Peel zum Grafen Chateuabriand ins Zimmer trat, fand er ein Arbeitszimmer, in dem alle Möbel aus Eichenholz waren. Der Gesandte, der dreißigfacher Millionär war, spürte sofort, daß alle goldenen und silbernen, noch so massiven Möbel, die England besitzt, an dieser Einfachheit gemessen, gar nichts mehr bedeuteten.
Der Künstler ist immer groß. Er hat seine eigene Eleganz und sein eigenes Leben, denn alles an ihm zeigt den Reflex seiner Geisteskräfte und seines Ruhmes. Soviel Künstler es gibt, so viel Leben gibt es, die von neuen Ideen durchsetzt sind. In ihrer Existenz hat die fashion keine Macht: diese ungezähmten Wesen ändern alles nach ihrem Geschmack. Wenn sie sich einer Pagode bemächtigen, dann tun sie das, um sie eben nach ihrem Sinn zu ändern. Aus dieser Lehre ergibt sich ein Aphorismus von Gültigkeit für ganz Europa: Ein Künstler lebt wie er mag, oder . . . wie er eben kann.

Freitag, 6. Juli 2012

enttäuschte Eltern, bipolare Kinder

Die Generation einer wirtschaftlichen Depression kann die Generation des Wirtschaftswunders nur enttäuschen

Donnerstag, 5. Juli 2012

Über Tradition - Kapitel 8/8

Nicht minder dialektisch als die Stellung der authentischen Gebilde zur Kritik ist die der Autoren. So wenig wie je muß ein Dichter Philosoph sein; so wenig wie je darf er es, wenn damit die Verwechslung des hineingepumpten Sinngehalts, für den mit Recht nur noch das grauslige Wort Aussage übrig ist, mit dem Wahrheitsgehalt der Sache gemeint wird. Leidenschaftlich wehrt Beckett jede Besinnung über den vermeintlichen Symbolgehalt seines Schaffens von sich ab: der Gehalt ist, daß kein Gehalt positiv vor Augen steht. Gleichwohl hat in der Stellung der Autoren zu dem, was sie tun, etwas Konstitutives sich geändert. Daß sie weder in Tradition mehr sich finden, noch im Vakuum operieren können, zerschlägt den mit Tradition so innig verwachsenen Begriff künstlerischer Naivetät. In der unumgänglichen Reflexion, was möglich, was nicht mehr möglich sei; in der hellen Einsicht in Techniken und Materialien und die Stimmigkeit ihres Verhältnisses konzentriert sich geschichtliches Bewußtsein. Es räumt radikal mit der Schlamperei auf, der Mahler die Tradition gleichsetzte. Aber im traditionsfeindlichen Bewußtsein des Fälligen überlebt auch die Tradition. Das Verhältnis des Künstlers zu seinem Werk ist ganz blind geworden und ganz durchsichtig in eins. Wer traditionell derart sich verhält, daß er spricht, wie er sich einbildet, daß der Schnabel ihm gewachsen sei, wird im Wahn der Unmittelbarkeit seiner Individualität erst recht schreiben, was nicht mehr geht. Damit jedoch triumphiert nicht der sentimentalisch reflektierende Künstler, dessen Typus das ästhetische Selbstverständnis seit Klassizismus und Romantik der Naivetät kontrastiert hatte. Er wird Gegenstand einer zweiten Reflexion, die ihm das sinnsetzende Recht, das auf die "Idee", entzieht, welches der Idealismus ihm zugesprochenen hatte. Insofern kovergiert das fortgeschrittene ästhetische Bewußtsein mit dem naiven, dessen begriffslose Anschauung keinen Sinn sich anmaßte und vielleicht darum zuzeiten ihn gewann. Aber auch auf diese Hoffnung ist kein Verlaß mehr. Dichtung errettet ihren Wahrheitsgehalt nur, wo sie in engstem Kontakt mit der Tradition diese vons ich abstößt. Wer die Seligkeit, die sie in manchen ihrer Bilder stets noch verheißt, nicht verraten will, die verschüttete Möglichkeit, die unter ihren Trümmern sich birgt, der muß von der Tradtition sich abkehren, welche Möglichkeit und Sinn zur Lüge mißbraucht. Wiederzukehren vermag Tradition einzig in dem, was unerbittlich ihr sich versagt. 

Adorno, Ohne Leitbild

Mittwoch, 4. Juli 2012

Dienstag, 3. Juli 2012

Rainer Werner Fassbinder

"Im Moment kann ich mir das immer
nur vorstellen als Gegenmodell, und
dann ist es falsch. Das ist klar. Bei
einem Gegenmodell hat es eben auch 
das in sich, wogegen es ist."

Über Tradition - Kapitel 7

Das kritische Verhältnis zur Tradition als Medium ihrer Bewahrung betrifft keineswegs bloß das Vergangene, sondern ebenso die der Qualität nach gegenwärtige Produktion. Soweit sie authentisch ist, beginnt sie nicht frisch-fröhlich von vorn, übertrumpft nicht eine ersonne Verfahrensweise durch die nächste. Vielmehr ist sie bestimmte Negation. Die Bühnenwerke Becketts bilden in all ihren Perspektiven die traditionelle dramatische Form parodisch um. Die furchtbaren Spiele, in denen mit tierisch-komischen Ernst Gummigewichte gestemmt werden und an deren Schluß alles bleibt, wie es von Anfang an war, replizieren auf die Vorstellungen von steigender und fallender Handlung, Peripetie, Katastrophe, Entwicklung der Charaktere. Solche Kategorien sind scheinhafter Überbau über dem geworden, was wirklich Mitleid und Furcht erregt, dem Immergleichen. Der Zusammensturz jenes Überbaus in seiner leibhaft gegenwärtigen Kritik gibt Stoff und Gehalt einer Dramatik ab, die nicht wissen will, was es ist, was sie sagt. Insofern ist der sei's auch clichéhafte Begriff Antidrama nicht schlecht gewählt, auch nicht der des Antihelden. Die Zentralfiguren bei Beckett sind nur schlotternde Vogelscheuchen des Subjekts, das einmal die Szene beherrschte. Die Clownerie, die sie betreiben, hält Gericht über das Ideal der selbstherrlichen Persönlichkeit, die bei Beckett verdientermaßen zugrunde geht. Das Wort absurd, das für seine Dramatik und die ihr verpflichtete sich eingebürgert hat, ist gewiß inferior. Dem konventionellen gesunden Menschenverstand, dem hier der Prozeß gemacht wird, konzediert es allzuviel; tut so, als sei das Absurde die Gesinnung solcher Kunst, nicht das objektive Unwesen, das sie entblößt. Einverstandenes Bewußtsein versucht, noch das ihm Unversöhnliche zu verschlucken. Dennoch ist selbst die peinliche Parole nicht durchaus falsch. Sie designiert die fortgeschrittene Literatur als konkret durchgeführte Kritik des traditionellen Begriffs von Sinn, dem des Weltlaufs, den bis dahin die sogenannte hohe Kunst, auch und gerade wo sie Tragik als ihr Gesetz erkor, bestätigte. Das affirmative Wesen der Tradition bricht zusammen. Tradtition selbst behauptet durch ihre pure Existenz, daß im zeitlich aufeinander Folgenden Sinn sich erhalt, forterbe. Soweit die neue Literatur zählt, rüttelt sie, analog übrigens zur Musik und Malerei, an der Ideologie des Sinns dessen, was in der Katastrophe dessen Schein so gründlich abwarf, daß der Zweifel daran auch den vergangenen in sich hineinreißt. Sie kündigt die Tradition und folgt ihr doch: Hamlets Frage nach Sein oder Nichtsein nimmt sie so buchstäblich, daß sie die Anwort Nichtsein sich zutraut, die in der Tradition so wenig ihren Ort hatte wie im Märchen der Sieg des Ungeheuers über den Prinzen. Derlei produktive Kritik bedarf nicht erst der philosophischen Reflexion. Sie wird geübt von den exakt reagierenden Nerven der Künstler und ihrer technischen Kontrolle. Beides ist gesättigt mit geschichtlicher Erfahrung. Jede von Becketts Reduktionen setzt die äußerste Fülle und Differenziertheit voraus, die er verweigert und die er in den Müllkästen, Sandhaufen und Urnen krepieren läßt, bis in die Sprachform und die beschädigten Witze hinein. Dem verwandt ist das Ungenügen der neuen Romanciers an der Fiktion jenes Guckkastens, in den sie hineinschauen und über den sie alles wissen. All das reibt sich an der Tradition, ärgert sich an ihr als an dem Ornament, der täuschenden Herstellung eines Sinns, der nicht ist. Ihm halten sie die Treue, indem sie es verschmähen, ihn vorzuspiegeln.

Adorno, Prismen ohne Leitbild

Samstag, 30. Juni 2012

Le Loup


Über Tradition - Kapitel 6

Fremd ist dem kritischen Verhältnis zur Tradition der Gestus des "Das interessiert uns nicht mehr", nicht anders als die naseweise Subsumtion von Gegenwärtigem unter allzu weite geschichtliche Begriffe wie den des Manierismus, insgeheim gehorsam der Maxime "Alles schon dagewesen". Solche Verhaltensweisen nivellieren. Sie frönen dem Aberglauben an ungebrochene historische Kontinuität und, in eins damit, ans historische Verdikt; sind konformistisch. Wo die Idiosynkrasie gegen Vergangenes sich automatisiert hat, wie Ibsen oder Wedekind gegenüber, sträubt sie sich gegen das in solchen Autoren, was unerledigt blieb, geschichtlich nicht sich entfaltete oder, wie die Emanzipation der Frau, bloß brüchig. In derlei Idiosynkrasien stößt man auf das wahrhafte Thema der Besinnung auf Tradition, das am Weg liegen Gebliebene, Vernachlässigte, Besiegte, das unter dem Namen des Veraltens sich zusammenfasst. Dort sucht das Lebendige der Tradition Zuflucht, nicht im Bestand von Werken, die da der Zeit trotzen sollen. Dem souveränen Überblick des Historismus in dem der Aberglaube ans Unvergängliche und die eifrige Angst vorm Altmodische fatal sich verschränken, entgeht es. Nach dem Lebendigen der Werke ist in ihrem Inneren zu suchen; nach Schichten, die in früheren Phasen verdeckt waren und erst sich manifestierten, wenn andere absterben und abfallen. Daß Wedekinds 'Frühlings Erwachen' Ephemeres, das Pult von Gymnasiasten und die finsteren Abtritte von Wohnungen des neunzehnten Jahrhunderts, das Unsägliche des Flusses vor der Stadt in der Dämmerung, den Tee, den die Mutter den Kindern auf dem Tablett hereinbringt, das Plappern der Backfische von der Verlobung mit Forstreferendar Pfälle zum Bild eines Unvergänglichen, von je Gewesenen bereitete, offenbart sich erst, nachdem die Wünsche des Stücks nach rechtzeitiger Aufklärung und Toleranz für Halbwüchsige längst erfüllt und gleichgültig geworden sind, ohne die doch jene Bilder sich nie formiert hätten. Gegen das Verdikt des Veralteten steht die Einsicht in den Gehalt der Sache, der sie erneuert. Rechnung trägt dem nur ein Verhalten, das Tradition ins Bewußtsein hebt, ohne ihr sich zu beugen. Sie ist ebenso vor der Furie des Verschwindens zu behüten, wie ihrer nicht minder mythischen Autorität zu entreißen.

Adorno, Ohne Leitbild

Dienstag, 26. Juni 2012

Sonntag, 24. Juni 2012

Über Tradition - Kapitel 5

Diese Antinomie schreibt die mögliche Stellung des Bewußtseins zur Tradition vor. Kants Satz, der kritische Weg sei allein noch offen, ist einer von jenen verbürgesten, deren Wahrheitsgehalt unvergleichlich viel größer ist als das an Ort und Stelle gemeinte. Er trifft nicht nur die besondere Tradition, von der Kant sich lossagte, die der rationalistischen Schule, sondern Tradition insgesamt. Sie nicht vergessen und ihr doch nicht sich anpassen heißt, sie mit dem einmal erreichten Stand des Bewußtseins, dem fortgeschrittensten, konfrontieren und fragen, was trägt und was nicht. Es gibt keinen ewigen Vorrat, kein auch nur in der Idee noch denkbares deutsches Lesebuch. Wohl aber eine Beziehung  zur Vergangenheit, die nicht konserviert, doch manchem durch Unbestechlichkeit zum Überleben verhilft. Bedeutende Traditionalisten der vergangenen Generation wie die Georgeschule und wie Hoffmannsthal, Borchardt und Schröder haben, bei aller restaurativen Absicht, davon etwas gefühlt, wofern sie dem Nüchternen, Gedrungenen den Vorzug gaben vor dem Idealischen. Sie schon klopften die Texte ab nach dem, was hohl klingt und was nicht. Sie haben den Übergang von Tradition ans Unscheinbare, nicht sich selbst setzende registriert, liebten mehr Gebilde, in denen der Wahrheitsgehalt tief dem Stoffgehalt eingesenkt ward, als solche, in denen er als Ideologie darüber schwebt und deshalb keiner ist. An nichts Traditionales ist besser anzuknüpfen als daran, den Zug der in Deutschland verratenen und geschmähten Aufklärung, eine unterirdische Tradition des Antitraditionellen. Aber auch der integre Wille zur Wiederherstellung hatte seinen Zoll zu entrichten. Seine Positivität wurde einer ganzen gehobenen Literatur zum Vorwand. Das Körnige, Gediegenen von Srifter-Imitatoren und Hebel-Auslegern ist heute so billig wie die hochtrabende Geste. In die allgemeine Manipulation sanktionierter Kulturgüter ist das vermeintlich Unverschandelte unterdessen einverleibt; auch bedeutende ältere Gebilde wurden durch Rettung zerstört. Sie weigern sich der Restauration dessen, was sie einmal waren. Objektiv, nicht erst im reflektierenden Bewußtsein lösen kraft ihrer eigenen Dynamik wechselnden Schichten von ihnen sich ab. Das jedoch stiftet eine Tradition, der allein noch zu folgen wäre. Ihr Kriterium ist correspondance. Sie wirft, als neue Hervortretenden, Licht aufs Gegenwärtige und empfängt vom Gegenwärtigen ihr Licht. Solche correspondance ist keine der Einfühlung und unmittelbaren Verwandschaft, sondern bedarf der Distanz. Schlechter Traditionalismus scheidet vom Wahrheitsmoment der sich dadurch, daß er Distanzen herabsetzt, frevelnd nach Unwiederbringlichem greift, während er beredt wird allein im Bewußtsein der Unwiederbringlichkeit. Ein Modell genuiner Beziehung durch Distanz ist Becketts Bewunderung der 'Effi Briest'. Es lehrt, wie wenig die unter dem Begriff der correspondance zu denkende Tradition das Traditionelle als Vorbild duldet.

Adorno, Über Tradition

Freitag, 22. Juni 2012

Dienstag, 19. Juni 2012

Über Tradition - Kapitel 4

Während jedoch subjektiv Tradition zerrüttet ist oder ideologisch verdorben, hat objektiv die Geschichte weiter Macht über alles, was ist und worin sie einsickerte. Daß die Welt aus bloßen Gegebenheiten, ohne die Tiefendimension des Gewordenen, sich zusammenaddierte, das positivistische Dogma, das von ästhetischer Sachlichkeit zu unterscheiden mitunter schwerfällt, ist so illusionär wie die autoritätsgläubige Berufung auf Tradition. Was sich geschichtslos, reiner Anfang dünkt, ist erst recht Beute der Geschichte, bewußtlos und darum verhängnisvoll; an den archaisierenden ontologischen Richtungen der Philosophie ist das mittlerweile dargetan worden. Der Schriftsteller, der des scheinhaften Moments an der Tradition sich erwehrt, und der sich selbst in keiner mehr empfindet, ist doch in sie eingespannt, vorab durch die Sprache. Die schriftstellerische  ist kein Agglomerat von Spielmarken, sondern die Valeurs eines jeden Worts und einer jeden Wortverbindung empfangen objektiv ihren Ausdruck aus ihrer Geschichte, und in dieser steckt der geschichtliche Prozeß überhaupt. Das Vergessen, von dem einmal Brecht das Rettende sich versprach, ist unterdessen ins mechanisch Leere übergegangen; die Armut des reinen Jetzt und Hier hat sich als abstrakte Verneinung des falschen Reichtum herausgestellt, vielfach als Apotheose des bürgerlichen Puritanismus. Der jeglicher Erinnerungsspur entäußerte Augenblick ist ganz hinfällig in dem Wahn, gesellschaftlich Vermitteltes sei natürliche Form oder Naturmaterial. Was in den Verfahrungsweisen das geschichtlich einmal Errungene opfert, regrediert. Verzicht hat seinen Wahrheitsgehalt nur, wo er als verzweifelter sich gestaltet, nicht wo er stur triumphiert. Das Glück der Tradition, das reaktionäre preisen, ist nicht nur die Ideologie, die es ist. Wer leidet unter der Allherrschaft des bloß Seienden und Sehnsucht hat nach dem, was noch nie war, der mag mehr Wahlverwandschaft zu einem süddeutschen Marktplatz spüren als zu einem Staudamm, obwohl er weiß, wie sehr das Fachwerk zur Konservierung von Muff herhält, dem Komplement technifizierten Unheils. Wie die in sich verbissene Tradition ist das absolut Traditionslose naiv: ohne Ahnung von dem, was an Vergangenen in der vermeintlich reinen, vom Staub des Zerfallenen ungetrübten Beziehung zu den Sachen steckt. Inhuman aber ist das Vergessen, weil das akkumulierte Leiden vergessen wird; denn die geschichtliche Spur an den Dingen, Worten, Farben und Tönen ist immer die vergangenen Leidens. Darum stellt Tradition heute vor einen unauflöslichen Widerspruch. Keine ist gegenwärtig und zu beschwören; ist aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit. 

Adorno, Über Tradition

Ernest Ranglin - Below The Bassline

Montag, 18. Juni 2012

Er ist noch nicht fertig, sage ich dir!

CLOV: Deine Hunde sind da.
Er gibt den Hund Hamm, der ihn auf seine Knie stellt, ihn betastet und streichelt.
HAMM: Er ist weiß, nicht wahr?
CLOV: Beinahe.
HAMM: gereizt Wieso beinahe? Ist er weiß oder ist er es nicht?
CLOV: Er ist es nicht.
Pause.
HAMM: Du hast das Geschlecht vergessen.
CLOV: verärgert Er ist doch noch nicht fertig. Das Geschlecht kommt zuletzt dran. Pause.
HAMM: Du hast ihm sein Halsband nicht angelegt.
CLOV: wütend Er ist noch nicht fertig, sage ich dir! Man macht seinen Hund zuerst fertig, dann legt man ihm sein Halsband an. Pause.

Samuel Beckett, Auszug aus Endspiel

Donnerstag, 14. Juni 2012

The Postal Service vs. The Shins - We Will Become Silhouettes

 

I've got a cupboard with cans of food, filtered water,
And pictures of you and I'm not coming out
Until this is all over
And I'm looking through the glass where the light bends
At the cracks
And I'm screaming at the top of my lungs pretending
The echoes belong to someone
Someone I used to know

And we become silhouettes when our bodies finally go

I want to walk through the empty streets
With something constant under my feet,
But all the news reports recommend that
I stay indoors
Because the air outside will make our cells
Divide at an alarming rate until our shells
Simply cannot hold all our insides in,
And (that's when), (That's when) That's when we'll explode
(and it won't be a pretty sight)

And we'll become silhouettes when our bodies finally go

Römische Elegien : * I *


Saget, Steine, mir an, o sprecht, ihr hohen Paläste!
Straßen, redet ein Wort! Genius, regst du dich nicht?
Ja, es ist alles beseelt in deinen heiligen Mauern,
ewige Roma! Nur mir schweiget noch alles so still.
Oh, wer flüstert mir zu, an welchem Fenster erblick ich
einst das holde Geschöpf, das mich versengend erquickt?
Ahn ich die Wege noch nicht, durch die ich immer und immer,
zu ihr und von ihr zu gehn, opfre die köstliche Zeit?
Noch betracht ich Kirch und Palast, Ruinen und Säulen,
wie ein bedächtiger Mann schicklich die Reise benutzt.
Doch bald ist es vorbei! Dann wird ein einziger Tempel,
Amors Tempel, nur sein, der den Geweihten empfängt.
Eine Welt zwar bist du, o Rom! Doch ohne die Liebe
wäre die Welt nicht die Welt, wäre denn Rom auch nicht Rom.

Johann Wolfgang Goethe

Samstag, 9. Juni 2012

Liebet die Kunst

Liebet die Kunst um der Kunst willen und euch wird alles gegeben was ihr braucht.

Oscar Wilde

Stars | Celebration Guns



So tomorrow there will be another number
For the one who had a name
Desert wind and a perverse desire to win
History buried in shame

Are the beating drums
Celebration guns
The thunder and the laughter
The last thing they remember x2

Then the next day
How will you know your enemy
By their colour or your fear
One by one
We can cage them in your freedom
Make them all disappear

Six hundred sixty-six hundred sixty days
Two guards, one uncharged
This morning's paper's ink stains my fingers
My hands grow darker every day

Are the beating drums
Celebration guns
The thunder and the laughter
The last thing they remember x2

Are the beating drums
Celebration guns
The thunder and the laughter
The last thing they remember x2

Goodnight, sleep light, stranger x3

Freitag, 8. Juni 2012

Jende ri Palenque




"San Basilio de Palenque:
Ein Dorf ehemaliger entlaufener Sklaven in Kolumbien die ihre afrikanischen Wurzeln und Sprache bis heute bewahrt haben"

"San Basilio de Palenque:
Un pueblo fundado por negros cimarrones en Colombia, que conserva las raíces y lengua africanas"

Donnerstag, 7. Juni 2012

Christoph Schlingensief


 

"Ich glaube, dass in der Anhäufung von Schwachsinn mehr Wahrheit liegt als in der Anhäufung von Wahrheit."

"Das einzig herrschende System, das ich kenne, ist das System Mensch. Und da bin ich selber Mitglied." 

Freitag, 1. Juni 2012

Angst

Was mit Vorliebe Angst genannt und zum Existential veredelt wird, ist Klaustrophobie in der Welt: dem geschlossenen System: Sie perpetuiert den Bann als die Kälte zwischen den Menschen, ohne die das Unheil nicht sich wiederholen könnte. Wer nicht kalt ist, sich kalt macht wie nach der vulgären Sprachfigur der Mörder das Opfer, muß sich verurteilt fühlen. Mit der Angst und ihrem Grund verginge vielleicht auch die Kälte. Angst ist in der universalen Kälte die notwendige Gestalt des Fluchs über denen, die an ihr leiden.

Adorno

Sonntag, 13. Mai 2012

Hölderlin

Wie unvermögend ist doch der gutwilligste Fleiß der Menschen gegen die Allmacht der ungeteilten Begeisterung.

Dienstag, 8. Mai 2012

Vidas Ambulantes

Vidas Ambulantes - 3 Translation(s) | dotSUB

Mos Def - Quiet Dog Bite Hard

Entfesselung aller Sinne

Ich sage, daß man Seher sein, sich zum Seher machen muß. Der Dichter macht sich zum Seher durch eine lange, gewaltige und überlegte Entfesselung aller Sinne. Alle Formen der Liebe, des Leidens, des Wahnsinns; er sucht eigens, er verarbeitet alle Gifte in sich, um nur deren Quintessenzen zurückzubehalten. Unsägliche Qual, bei der er des ganzen Glaubens bedarf, der ganzen übermenschlichen Kraft, bei der er unter allen der große Kranke wird, der große Gesetzesbrecher, der große Verdammte – und der höchste Wissende! – Denn er kommt an im Unbekannten! Weil er seine ohnehin reiche Seele weiter ausgebildet hat als irgendeiner! Er kommt an im Unbekannten, und wenn er dabei, überwältigt, schließlich die Klarheit seiner Visionen verlöre, so hat er sie doch gehabt! Soll er bei seinem Aufprall nur zerbrechen an den unerhörten und unnennbaren Dingen: andere entsetzliche Arbeiter werden kommen, werden bei den Horizonten beginnen, an denen sich jener erschöpft hat!

Arthur Rimbaud

Montag, 7. Mai 2012

das, mein Bellarmin!

Barbaren von Alters her, durch Fleiss und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glük der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit belaidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefässes - das, mein Bellarmin! waren meine Tröster.

Hölderlin

Dienstag, 24. April 2012

Mittwoch, 18. April 2012

Sonntag, 15. April 2012

alle neue Kunst

Das Gefädel, das organizistische Ineinander wird durchschnitten, der Glaube zerstört, eins füge lebendig sich zum anderen, es sei denn, daß das Ineinander so dicht und kraus wird, daß es erst recht gegen Sinn sich verdunkelt. Das ästhetische Konstruktionsprinzip, der schroffe Primat des planvollen Ganzen über die Details und ihren Zusammenhang in der Mikrostruktur bildet dazu das Komplement; der Mikrostruktur nach dürfte alle neue Kunst Montage heißen.

Adorno, Ästhetische Theorie

35 Traumlose für 5 Euro

Donnerstag, 12. April 2012

Work Hard Play Hard - Trailer

Als wäre das Unmögliche ihnen möglich

Die Kunstwerke müssen auftreten, als wäre das Unmögliche ihnen möglich; die Idee der Vollkommenheit der Werke, von der keines, bei der Strafe seiner Nichtigkeit, sich dispensieren kann, war fragwürdig. Künstler haben es schwer nicht nur wegen ihres nach wie vor ungewissen Schicksals in der Welt, sondern weil sie der ästhetischen Wahrheit, der sie nachhängen zwangshaft durch die eigene Anstrengung zuwider handeln.

Adorno, Ästhetische Theorie

Montag, 9. April 2012

Je unverfälschter um so banaler

Der Ausdruck eines unverfälschten Gefühls ist immer banal. Je unverfälschter um so banaler. Um es nicht zu sein, muß man sich anstrengen.

Paul Valéry

Michel Gondry - Three Dead People

Idealzustand

Entropie steigern - Enthalpie verringern

Mittwoch, 4. April 2012

der traum schlechthin


alles was wirklich ist steht für einen traum und kann ihn doch nicht erfüllen, es sei den man genießt die realität den traum schlechthin

Rest in Peace Rimbaud

in meinem Kopf züngeln sich Engel und Dämonen

Montag, 2. April 2012

Samstag, 31. März 2012

Arabic Culture-Songs

Fuck The God Of The Weed


I Hope That I Am From Palestin

Freitag, 30. März 2012

Gustav Klimt - Birkenwald

Pochen

Ein leichtes Pochen auf dem Pflaster, gefolgt von dem weitläufigeren Fall von etwas Sandkörnerleichtem, das man etwa aus dem oberen Fenster schüttelte, darauf das zunehmende, regelmäßige, dann rhythmische, endlich plätschernde, klangvolle, musikalische, unübersehbare, allumfassende Rauschen: das war der Regen. 

Marcel Proust

Mittwoch, 28. März 2012

Montag, 26. März 2012

Sonntag, 25. März 2012

quält dich der gedanke dann denk ihn weg
schlingensief

Samstag, 24. März 2012

The Suburbs (Continued)

If I could have it back
All the time that we wasted
I'd only waste it again
If I could have it back
You know I would love to waste it again
Waste it again and again and again
Well, I've got to ask

Sometimes I can't believe it
I'm moving past the feeling again
(Sometimes I can't believe it
I'm moving past the feeling again)

Arcade Fire

Freitag, 23. März 2012

Bloch aber hatte meinen Eltern aus anderen Gründen mißfallen.

Zunächst hatte er meinen Vater gereizt, der ihn regennaß bei uns eintreffen sah und daraufhin interessiert fragte:
– Ja aber, Herr Bloch, was ist denn für Wetter? Hat es geregnet? Ich verstehe das gar nicht, das Barometer stand doch so hoch.
– Ich kann ihnen absolut nicht sagen, Monsieur, ob es geregnet hat. Ich lebe so entschieden außerhalb all dieser physischen Bedingungen, daß meine Sinne sich nicht mehr die Mühe machen, sie auch nur zu registrieren.

Marcel Proust, Combray

Träume

"Ideen trennen, Träume bringen zusammen"
Godard

Montag, 5. März 2012

alles ist künstlich nur die Kunst nicht

Mittwoch, 29. Februar 2012

Oscar Wilde:

"Life imitates art"

Samstag, 25. Februar 2012

Chemical Brothers

'Let Forever Be' directed by Michel Gondry


'The Golden Path' directed by Chris Milk

Freitag, 24. Februar 2012

Rot ist mein Name

Nachdem Firdevsi, Dichter des Buchs der Könige, nach Gazne gekommen war, wo ihn die Poeten im Palast des Schah Mahmut als Provinzler verspotteten, war ich dabei, war auf seinem Kaftan, als er augenblicklich die vierte Zeile eines Doppelverses hersagte, die niemand hatte vollenden können, weil dessen erste drei Halbverse auf einen sehr schwierigen Reim endeten. Als Rüstem, der legendäre Held des Schahname, seinem verlorenen Pferd in ferne Länder folgte, war ich auf seinem Köcher, als er den sagenhaften Riesen mit seinem wunderwirkenden Schwert in zwei Teile zerschlug, in dem fließenden Blut, als er mit der schönen Tochter des Schahs, bei dem er zu Gast war, eine Liebesnacht verbrachte, in den Falten ihrer Decke. Ich war überall und bin überall. Ich war dabei, als der treulose Tur seinem Bruder Iretsch den Kopf abtrennte, als die sagenhaften Traumheere in den Steppen aufeinander einschlugen, als nach einem Sonnenstich das Blut unaufhörlich aus Alexanders hübscher Nase rann und dabei strahlend funkelte. Ich bin in dem Kleid der schönen Besucherin des Sassaniden-Schahs Behram Gür, in deren Bildnis er sich verliebt hatte und die er dienstags empfing, jenes Schahs, der jede einzelne Nacht in der Woche mit einer herrlichen, jeweils aus einem anderen Landstrich kommenden Schönheit unter einer jeweils andersfarbigen Kuppel verbrachte und ihrer Erzählung lauschte, und ich bin, von der Krone bis zum Kaftan, in jedem Kleidungsstück des Hüsrev, in den sich Şirin, sein Bildnis betrachtend verliebt hatte. Ich war auf den Fahnen der die Festungen belagernden Heere, beim Festmahl auf der Tafeldecke, auf den samtenen Kaftanen der Gesandten, die den Sultanen die Füße küssen, und dort, wo das Schwert abgebildet war, dessen Geschichten die Kinder so innig lieben. Unter den Blicken der Buchmalermeister von schönäugigen Lehrbuben auf die dicken Papiere aus Indien und Buchara mit zartem Pinsel aufgetragen, habe ich die Teppiche von Uşak, den Schmuck der Wände, die Hemden schöner Frauen, die gebeugt durch den Fensterspalt auf die Straße blickten, die Kämme der aufeinander einhackenden Kampfhähne, die sagenhaften Früchte und Granatäpfel sagenhafter Länder, den Rachen des Satans, die feine Linie in den Umrahmungen, die krausen Ornamente der Zelte, die vom Illustrator zum eigenen Ergötzen gemalten, mit bloßem Auge kaum erkennbaren Blumen, die Kirschenaugen der Vögel aus Zuckerwerk, die Strümpfe der Schafhirten, die Morgenröten aus den Legenden und die Leichen und Wunden Tausender, Zehntausender Krieger, Schahs und Liebender gezeigt. Ich liebe es, in kriegerischen Szenen aufgetragen zu werden, wo das Blut blütengleich aufspringt, oder auf den Kaftan des Meisters der Poeten, während schöne Knaben und Dichter im Grünen beim Wein der Musik lauschen, oder auf die Flügel der Engel, auf die Lippen der Frauen, auf die Wunden der Toten und auf die abgeschlagenen blutigen Köpfe.
Ich höre euch fragen: Wie ist das, wenn man eine Farbe ist?
Farbe ist die Berührung des Auges, die Musik der Taubstummen, ein Wort in der Dunkelheit. Meine Berührung, würde ich sagen, gleicht der Berührung der Engel, da ich seit Zehntausenden von Jahren dem Raunen der Geister von Buch zu Buch, von einem Gegenstand zum anderen wie dem Sausen des Windes gelauscht habe. Ein Teil von mir spricht hier zu euren Augen, das ist meine schwere Seite. Ein Teil von mir wird in der Luft durch eure Blicke beflügelt, das ist meine leichte Seite.
Und wie glücklich bin ich, Rot zu sein! Mein Inneres brennt. Ich bin stark; ich weiß, daß ich wahrgenommen werde, und auch, daß ihr mir nicht widerstehen könnt.
Ich verberge mich nicht: Für mich verwirklicht sich Feinheit nicht durch Schwäche oder Kraftlosigkeit, sondern nur durch Entschlossenheit und Willenskraft. Ich zeige mich offen. Ich fürchte mich nicht vor anderen Farben, Schatten, vor Massengedränge oder gar Einsamkeit. Wie herrlich, eine mich erwartende Oberfläche mit dem Feuer meines Sieges auszufüllen! Wo ich mich verbreite, glänzen die Augen, erstarken die Leidenschaften, heben sich die Brauen, schlagen die Herzen schneller. Seht mich an, wie schön ist es zu sehen! Leben ist sehen. Ich bin überall sichtbar. Glaubt mir nur, mit mir beginnt das Leben, zu mir kehrt alles zurück.
Seid still und hört zu, wie ich ein so wundervolles Rot geworden bin. Ein Altmeistern, der sich auf Farben gut verstand, zerstieß höchst eigenhändig den rötesten der getrockneten Käfer aus der heißesten Gegend Indiens in seinem Mörser zu feinstem Pulver und wog fünf Dirhem Lotuswurz ab. Dann tat er Lotuswurz ins Wasser und rührte gut um. Schließlich ließ er alles so lange kochen, wie man zum Trinken eines guten Kaffees braucht. Während er seinen Kaffee trank, wurde ich ungeduldig wie ein Kind kurz vor der Geburt. Während der Kaffee seinen Verstand weitete und seine Augen blitzen ließ, warf er das rote Pulver in den Kessel und rührte gut um. Schließlich ließ er alles so lange kochen, wie man zum Trinken eines guten Kaffees braucht. Während er seinen Kaffee trank, wurde ich ungeduldig wie ein Kind kurz vor der Geburt. Während der Kaffee seinen Verstand weitete und seine Augen blitzen ließ, warf er das rote Pulver in den Kessel und rührte mit einem dünnen, sauberen, dafür bestimmten Stab alles gründlich durch. Jetzt würde ich ein wahres Rot sein, doch es kam auf meine Konsistenz an, weswegen das Wasser nicht unnötig lange, aber natürlich lange genug kochen musste. Mit der Spitze des Stabes holte er ein wenig von mir aus dem Kessel und trug es auf seinen Daumennagel (andere Finger kamen nicht in Frage!). Oh, wie schön es war, Rot zu sein! Ich färbte seinen Nagel rot, lief nicht wie Wasser über die Ränder hinaus. Ich hatte die richtige Konsistenz, doch gab es noch Bodensatz. Er nahm den Kessel vom Herd und filterte mich durch ein sauberes Tuch, so dass ich noch reiner wurde. Dann setzte er mich aufs Feuer, ließ mich zweimal aufkochen und schäumen, tat ein wenig zerstoßenes Alaun hinzu und ließ mich abkühlen. Einige Tage vergingen, und ich blieb in dem Kessel, ohne mich mit irgend etwas anderem zu vermischen. Das Stillhalten brach mir das Herz, brannte ich doch darauf, auf allen Seiten an jeder Stelle aufgestrichen zu werden. Und in dieser Stille dachte ich darüber nach, was es heißt, Rot zu sein.
Ich habe einmal in einer persischen Stadt dem Zwiegespräch zwei blinder Altmeister gelauscht, während ich mit dem Pinsel eines Lehrlings auf die Stickereien an der Satteldecke des Pferdes aufgetragen  wurde, das einer der Blinden aus dem Kopf gezeichnet hatte. „Nach einem ganzen Leben gläubiger Hingabe an unsere Arbeit, die uns am Ende natürlich erblinden ließ, wissen wir und erinnern uns daran, was für eine Farbe, was für ein Gefühl das Rot ist“, sagte derjenige, der das Pferd aus dem Kopf gemalt hatte. „Wie aber könnten wir dieses Rot begreifen, das unser schöner Lehrling gerade aufträgt, wenn wir blind geboren worden wären?“
„Eine gute Frage“, meinte der andere, „doch Farben begreift man nicht, man erfühlt sie.“
„Erklärt einem, der die Farbe niemals sah, was Rot ist, großer Meister.“
„Würden wir es mit der Fingerspitze berühren wäre es etwas zwischen Eisen und Kupfer. Auf die Handfläche gelegt, würde es brennen. Würden wir es kosten, wäre es kräftig wie gesalzenes Fleisch. Nähmen wir es in den Mund, würde der ausgefüllt sein. Würden wir daran riechen, gliche es dem Geruch eines Pferdes. Und wäre sein Duft der einer Blume, dann gliche er dem der Kamille, nicht aber dem der roten Rose.“
Damals vor einhundertzehn Jahren war die fränkische Malerei noch keine wirkliche Gefahr, zu der sich die Schahs hingezogen fühlten, und da die legendären Altmeister an ihre eigenen Methoden wie an Allah glaubten, betrachteten sie die verschiedenen roten Zwischentöne, welche die fränkischen Meister sogar für die einfachste Schwertwunde oder den gewöhnlichsten Wollstoff verwendeten, als unwürdige Stümperei und gingen lachend darüber hinweg. Nur der unerfahrene, entschlusslose und willensschwache Illustrator benutzt verschiedene Töne für das Rot eines Kaftans, sagten sie. Und der Schatten kann kein Vorwand sein. Ohnehin gibt es nur ein einziges Rot, und nur daran glaubt man.
„Welche Bedeutung hat dieses Rot?“ fragte wiederum der blinde Illustrator, der das Pferd aus dem Kopf gezeichnet hatte.
„Die Bedeutung der Farben liegt darin, daß sie dort vor uns sind und daß wir sie sehen“, sagte der andere. „Wer nicht sieht, dem kann man das Rot nicht erklären.“
„Auch die Gottesleugner, Ketzer und Ungläubigen sagen, um Allahs Sein in Abrede zu stellen, daß er nicht in Erscheinung trete“, meinte der blinde Pferdemaler.
„Während Er doch dem erscheint, der sieht“, sagte der andere Meister. „ Aus diesem Grund spricht der Koran davon, daß der Sehende und der Nichtsehende niemals eins sein werden.“
Der schöne Lehrling hatte mich nach und nach auf die Satteldecke des Pferdes aufgetragen. Es ist ein so wunderbares Gefühl, mich mit meiner eigenen Fülle, Kraft und Lebendigkeit auf dem Schwarzweiß einer schönen Illustration niederzulassen, daß ich vor Freude kitzlig werde, wenn mich der Pinsel aus Katzenhaaren auf dem Papier verbreitet. So ist es, während ich Farbe gebe, als ob ich zur Welt sagte: „Sei“, und die Welt entsteht aus meiner Blutfarbe. Wer nicht sieht, leugnet ab, dennoch bin ich überall.

Orhan Pamuk
Auszug aus „Rot ist mein Name“

Donnerstag, 23. Februar 2012

Hypostase Me!

Hypostase Me!
Nicolas Elbrecht
Bildmontage 45*30

Donnerstag, 16. Februar 2012

DeVotchka

We're Leaving

Sonntag, 12. Februar 2012

Windrose des Erfolgs

Don Quichotte und Sancho Pansa von Honoré Daumier

Es ist ein eingewurzeltes Vorurteil, daß es der Wille sei, der zum Erfolge der Schlüssel ist. Ja, läge der Erfolg nur in der Linie des Einzeldaseins, wäre er nicht auch der Ausdruck dafür, wie dieses Dasein in das Weltgefüge eingreift. Ein Ausdruck freilich, voller Vorbehalte .Doch sind denn Vorbehalte etwa weniger gegenüber dem Einzeldasein und dem Weltgefüge selbst am Platz? Daher ist der Erfolg, den man so gerne als blindes Spiel des Zufalls beiseite schiebt, der tiefste Ausdruck für die Kontingenzen dieser Welt. Der Erfolg ist die Marotte des Weltgeschehens. Somit hat er am wenigsten zu schaffen mit dem Willen, der ihm nachjagt. Überhaupt sind es nicht die Gründe, die ihn herbeiführen, an denen seine wahre Natur sich dartut, sondern die Figuren der Menschen, die er bestimmt. Es sind seine Lieblinge, an denen er sich zu erkennen gibt. Seine Schoßkinder – und seine Stiefkinder. Der Marotte des Weltgeschehens entspricht die Idiosynkrasie im Einzeldasein. Davon sich Rechenschaft zu geben, war von jeher das Vorrecht des Komischen, dessen Gerechtigkeit kein Werk des Himmels, sondern das unzählige Versehen ist, die endlich, infolge eines letzten kleinen Fehlers, doch das genaue Resultat ergeben. Wo aber sitzt die Idiosynkrasie des Subjekts? In der Überzeugung. Der Nüchterne, der keine Idiosynkrasien hat, lebt, ohne Überzeugungen zu kennen; Leben und Denken haben sie ihm längst zu Weisheit, wie Mühlsteine das Korn zu Mehl, zerrieben. Die komische Figur jedoch ist niemals weise. Sie ist ein Schelm, ein Tropf, ein Narr, ein armer Schlucker, aber was sie auch sei: diese Welt passt ihr wie angegossen. Ihr ist Erfolg kein Stern und Mißerfolg kein Unstern. Sie fragt nach Schicksal, Mythos und Verhängnis überhaupt nicht. Ihr Schlüssel ist eine mathematische Figur, die um die Achsen des Erfolges und der Überzeugung konstruiert ist. Die Windrose des Erfolges:

Erfolg bei Preisgabe jedweder Überzeugung. Normalfall des Erfolges: Chlestakoff oder der Hochstapler. – Der Hochstapler läßt sich von der Situation wie ein Medium leiten. Mundus vult decipi. Er wählt sogar seine Namen der Welt zu Gefallen.
Erfolg bei Annahme jedweder Überzeugung. Geniefall des Erfolges. Schweyk oder der Glückspilz. – Der Glückspilz ist ein ehrliche Haut, die es allen recht machen will. Hans im Glück tauscht mit jedem, der Lust dazu hat.
Erfolglosigkeit bei Annahme jedweder Überzeugung. Normalfall der Erfolglosigkeit: Bouvard und Pécuchet oder der Spießer. – Der Spießer ist der Märtyrer jedweder Überzeugung von Laotse bis Rudolf Steiner. Für jede aber "nur ein viertel Stündchen".
Erfolglosigkeit bei Preisgabe jedweder Überzeugung. Geniefall der Erfolglosigkeit: Chaplin oder der Schlemihl. – DerSchlemihl nimmt an nichts Anstoß; er stolpert nur über seine eigenen Füße. Er ist der einzige Friedensengel, der auf die Erde paßt.

Dies die Windrose zur Bestimmung aller guten und widrigen Winde, die mit dem menschlichen Dasein ihr Spiel treiben. Nichts bleibt als ihre Mitte zu bestimmen, den Schnittpunkt der Achsen, den Ort völliger Indifferenz von Erfolg und von Mißerfolg. In dieser Mitte ist der Don Quichotte, der Mann einer einzigen Überzeugung, dessen Geschichte lehrt, daß in dieser besten oder schlechtesten aller denkbaren Welten, – nur ist sie eben nicht denkbar – die Überzeugung, es sei wahr, was in den Ritterbüchern steht, einen geprügelten Narren selig macht, wenn sie nur seine einzige ist.

Walter Benjamin

Donnerstag, 2. Februar 2012

Ich bin ein Baum

von nicoosi
Collage, 41cm × 31cm

"Nein, ich will kein Baum, will nur der Inbegriff eines Baumes sein."
Orhan Pamuk

Sonntag, 29. Januar 2012

Max Weber

Es ist durchaus richtig und alle geschichtliche Erfahrung bestätigt es, daß man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre.

Freitag, 27. Januar 2012

Donnerstag, 26. Januar 2012

Shakespeare

My bounty is as boundless as the sea, 
my love as deep; the more I give to thee, 
the more I have, for both are infinite.

Dienstag, 24. Januar 2012

Freitag, 13. Januar 2012

Mittwoch, 11. Januar 2012

Inkarnation gebrannter Kinder


David Foster Wallace (1962-2008)

Daddy war an der Seite des Hauses und montierte gerade die Eingangstür für den Untermieter, als er die Schreie des Kindes hörte und dazwischen, nicht weniger gellend, die Stimme der Mutter. Er war sofort zur Stelle, denn die rückwärtige Veranda führte direkt in die Küche. Noch ehe die Fliegengitter-Tür hinter im zugefallen war, hatte er sich ein Bild der Lage verschafft: der umgestoßene Topf auf den Fliesen vor dem Herd, die blaue Gasflamme, der dampfende See auf dem Boden, der sich krakenartig ausgebreitet hatte, und mittendrin, völlig erstarrt, das kleine Kind in der unförmigen Höschenwindel, das kleine Kind mit dem dampfenden Haar, Brust und Schulter scharlachrot, es hat die Augen verdreht, sein Mund steht sehr weit offen und scheint nicht verantwortlich für die Laute, die aus diesem Mund dringen. Unterdessen kniete Mommy daneben, tupfte ihn planlos mit einem Spültuch ab und schrie nicht minder, auch sie beinahe erstarrt in ihrer Hysterie. Ihr eines Knie und die beiden nackten zarten Kinderfüße befanden sich noch immer in dem dampfenden See, und die erste Handlung von Daddy bestand nun darin, dass er sich das Kind schnappte und aus dem See zog und zur Spüle brachte, aus der vorher die Teller warf, und dann den Hahn aufdrehte, um kaltes Brunnenwasser über die Füße des Knaben rinnen zu lassen, während er mit der hohlen Hand Wasser über Kopf, Schulter und Brust goss oder vielmehr spritzte, da er zuerst die Dampfentwicklung beenden wollte, während Mommy hinter ihm den Herrgott anflehte, bis er sich nach Handtüchern und Verbandsmull losschickte, falls sie so etwas im Haus hatten. Daddy handelte schnell, und er machte seine Sache gut, sein Männerverstand war leer bis auf den einen Zweck seines Handelns. Er wusste selbst noch nicht, wie geschmeidig er sich bewegte oder dass er das Schreien des Kindes ausgeblendet hatte, weil es ihm lähmen und dadurch verhindern würde, dass er tat, was getan werden musste, um seinem Kind beizustehen, dessen Schreie inzwischen so regelmäßig kamen wie Atemzüge und so beständig waren, dass sie anscheinend bereits zum Inventar gehörten, um das man immer herumgehen musste. Die Tür des Untermieters hing lediglich an einem Teil des oberen Scharniers und schaukelte leicht im Wind, und ein Vogel in einer Eiche jenseits der Auffahrt schien die Tür mit zur Seite gelegtem Kopf zu mustern, während aus dem Haus die Schreie drangen. Die Verbrennungen am rechten Arm und an den Schultern waren offenbar am schwersten, die roten Stellen an Brust und Bauch hingegen wurden unter dem kalten Wasser rosa, und auch an den Fußsohlen waren, soweit Daddy erkennen konnte, keine Blasen. Trotzdem ballte der kleine Kerl die Fäuste und schrie wie am Spieß, aber vielleicht nur aus einem Angstreflex heraus, und Daddy hielt es nicht für ausgeschlossen, dass sie später alle schlauer waren, auch wenn sich das kleine Gesichtchen vorerst noch sehr in die Breite zog und das Gefaser der Schläfenvenen extrem hervorstand und Daddy immerzu sagte, dass er ja da sei, dass er ja da sei,, wodurch der Adrenalinspiegel erst einmal sank, aber in seinem hintersten Hinterkopf braute sich eine Wut zusammen, die noch längst nicht formuliert war, die Wut über Mommy, die zugelassen hatte, dass so etwas passierte. Und als Mommy zurückkam, war er unschlüssig, ob er das Kind in ein Handtuch wickeln sollte oder nicht, aber dann hielt er es unter den Wasserhahn (das Handtuch), bis es schwer nass war, und machte es einfach, schlug das Kind fest darin ein und nahm es aus der Spüle und legte es auf den Küchentisch, um es zu trösten, während die Mutter die Fußsohlen untersuchte und dabei fächelnde Bewegungen vor ihrem Mund ausführte und lauter gegenstandslose Wörter von sich gab. Unterdessen beugte sich Daddy über das Gesicht des Kindes auf dem karierten Tischtuch und wiederholte die Tatsache, dass er ja da sei, wovon er hoffte, dass es den Kleinen beruhigte, aber noch immer schrie das Kind wie am Spieß, ein hoher, reiner, gellender Laut, der ihm schier das Herz zerriss, zumal die klitzekleinen Lippen und das Zahnfleisch hellblau angelaufen waren – wie eine niedrige Gasflamme, dachte Daddy – und das Schreien so schlimm war, als läge der Kleine immer noch unter dem brühheißen Topf. So verstrichen ein, zwei, jedoch viel länger erscheinende Minuten, in den Mommy kindgerecht auf das Gesichtchen einsang und die Lerche auf dem Ast den Kopf zur Seite neigte und das Scharnier unter dem Gewicht der verkanteten Tür einen weißen Ermüdungsstreifen zeigte, ehe sich der erste winzige Dampfstoß unter dem Handtuch einen Weg ins Freie suchte, worauf sich die Augen der Eltern trafen und weiteten: die Höschenwindel. Als sie die Windel aufmachten und den kleinen Jungen wieder auf das karierte Tischtuch legten und den durchweichten Klettverschluss lösten, wollte es erst gar nicht gehen, zumal bei dem erneut einsetzenden Geschrei, und alles war auch ganz heiß, so heiß, dass sie sich die Finger verbrannten und endlich sahen, wohin der Hauptteil des Wassers geflossen war und wo es sich auslaufgeschützt gesammelt hatte und die ganze Zeit ihr Liebstes auf der Welt verbrannte, das natürlich, natürlich nach ihnen schrie, damit sie zu Hilfe kamen, aber genau das hatten sie nicht getan, hatten nicht nachgedacht, und als sie die Windel schließlich abhatten und den Zustand dessen, was sich ihnen darunter darbot, erkannten, da rief sie den Namen des Herrn an, wobei sie sich aber an der Tischkante festhalten musste, um nicht umzufallen, während der Vater einen wütenden Aufwärtshaken gen Zimmerdecke schleuderte und nicht zum letzten Mal die Welt und sich selbst verfluchte, weil sein Kind genauso gut hätte schlafen können, wäre da nicht die erhöhte Atemfrequenz gewesen und die zuckenden Händchen in der Luft über seinem Ablageort, Händchen so groß oder so klein wie der Daumen eines erwachsenen Mannes, die Daddys Daumen in der Wiege immer in die Hand genommen hatten, während Daddys Mund singenderweise gar schöne Spiele spielte, und er den Kopf zur Seite legte und an Daddy vorbei in eine Ferne schaute mit einem Blick, der Daddy indirekt einsam machte. Wer nie geweint hat, es aber gerne würde, der schaffe sich ein Kind an. Brich dein Herz mittendurch, und genau das wird geschehen. Ein Kind ist ein Ohrwurm, dem Daddy nicht entrinnt – so, als stünde die Radiolady direkt neben ihm und schaute sich mit ihm an, was sie hier an Leid getan. Was sich Daddy allerdings am meisten nicht verzeihen kann: wie sehr er nach einer Zigarette gierte, als sie den Knaben so gut als möglich in Verbandsmull und über Kreuz geschlagene Handtücher windelten, worauf Daddy es wie ein Neugeborenes fasste (wohl in dem Arm: Eine Hand stützte das Köpfchen) und es in den glühend heißen Truck legte und anständig Gummi gab, bis er mit Mühe und Not die Stadt erreichte und die Notaufnahme der Klinik, während die Tür des Untermieters den ganzen Tag sozusagen an einem Faden hing, bis das Scharnier endlich nachgab, aber da war es schon zu spät, weil es sich nicht mehr aufhalten ließ und weil sie nicht mehr die Kurve kriegten, weil das Kind einen Weg aus dem eigenen Körper gefunden hatte und sich die weitere Entwicklung von oben betrachtete und das, was verloren war, im strengen Sinne irrelevant war. So kam es, dass der Kinderkörper schließlich expandierte und seiner Wege ging und an jedem 1. seinen Gehaltsscheck kassierte und ein Leben führte ganz ohne Untermieter, ein Ding unter vielen, dessen tiefste Seele hoch droben dunstete und als Regen niederging und erneut zum Himmel aufstieg, während die Sonne auf und nieder schnellte wie ein Jojo.

David Foster Wallace

Montag, 9. Januar 2012

LCD Soundsystem - I'm Losing My Edge

Dieser Reiz der Liebe ist 1789 erloschen!

„Das sind nun“, so sagte er sich, „die elegantesten, die reichsten, die höchstgestellten Frauen von Paris. Hier sehe ich die Berühmtheiten des Tages, Politiker, Aristokraten, Literaten von Rang und Namen: Dort stehen Künstler, dort hohe Staatsmänner. Und dennoch gewahre ich nur kleine Intrigen, totgeborene Liebschaften, mechanisch lächelnde Gesichter, erloschene Blicke, grundlose Verachtung und viel sprühenden Geist, den man jedoch ziellos verschwendet. All diese weißen und rosigen Gesichter sind weniger auf ihr Vergnügen als auf Ablenkung bedacht. Kein Gefühl ist hier aufrichtig. Wenn ein Mensch sich nur luftige Gaze, hübsch aufgesteckte Federn, reizende Toiletten, zierliche Frauen wünscht, wenn er nur über die Oberfläche des Lebens dahingleiten will, so hat er hier seine Welt. Er möge sich mit diesen belanglosen Phrasen, mit diesen enttäuschten Grimassen begnügen und nicht vergeblich eine Regung in diesen Herzen suchen. Ich für mein Teil verabscheue diese seichten Liebesaffären, die auf eine Heirat, auf das Amt eines Unterpräfekten oder Generalsteuereinnehmers hinauslaufen oder, wenn Liebe im Spiel ist, mit einem heimlichen Arrangement enden, so sehr beschämt schon der Schein einer Leidenschaft die Leute. Ich sehe kein einziges jener vielsagenden Gesichter, aus denen eine Seele spricht, die einem Gedanken nachhängt oder von Reue geplagt wird. Hier verbergen sich Trauer und Unglück voller Scham hinter lustigen Scherzen. Ich erblicke keine jener Frauen, mit denen es mich zu kämpfen gelüstete und die den Mann in einen Abgrund hinabzuziehen vermöchte. Wo könnte man in Paris noch Lebensenergie finden? Ein Dolch ist hier eine Kuriosität, die man zur Zierde in eine hübsche Scheide steckt und an einem goldenen Nagel aufhängt. Frauen, Gedanken, Gefühle, alles ähnelt sich. Es gibt hier keine Leidenschaften mehr, weil die wahren Persönlichkeiten verschwunden sind. Rang, Geist, Vermögen, alles ist eingeebnet worden, und alle kleiden wir uns schwarz, als ob wir um das tote Frankreich Trauer trügen. Man liebt nicht seinesgleichen. Zwischen zwei Liebenden muß es Unterschiede, die auszugleichen, Entfernungen, die zu überwinden sind, geben. Dieser Reiz der Liebe ist 1789 erloschen! Unsere Langeweile, unsere abgeschmackten Sitten sind das Ergebnis des politischen Systems. In Italien ist wenigstens alles scharf gegeneinander abgegrenzt. Die Frauen sind dort noch bösartige Tiere, gefährliche Sirenen, die keinen Verstand, keine Logik haben außer der ihrer Neigungen und Begierden, und denen man mißtrauen muß, wie man Tigern mißtraut…“
Madame Firmani trat heran und unterbrach dieses Selbstgespräch, dessen tausend widersprüchliche, unvollendete, wirre Gedanken sich der Beschreibung entziehen. Das Verdienst einer Träumerei liegt gänzlich in ihrer Unbestimmtheit; ist sie nicht eine Art geistiger Nebel?
„Ich will Sie“, sagte sie und nahm ihn beim Arm, „einer Frau vorstellen, die Sie, nach allem, was sie von Ihnen gehört hat, unbedingt kennenzulernen wünscht.“

Honoré de Balzac
Auszug aus „Die Frau von dreißig Jahren“

Sonntag, 8. Januar 2012

Revolution des Künstlertums 1/∞


*

 was ein Künstler nicht kann, lernt er
was ein Künstler nicht weiß, erfindet er

was ein Künstler weiß, vergißt er 
was ein Künstler kann, verlernt er

*

Instinkt des Künstlers ist die Reflexion seines Instinkts

The Sonics - Psycho a Go-Go

Samstag, 7. Januar 2012

Drugstore Cowboy - Trailer

Karl Kraus über den Krieg

Klerus und Krieg: man kann auch den Mantel der Nächstenliebe nach dem Winde hängen.

"Den Weltmarkt erobern": weil Händler so sprachen, mußten Krieger so handeln. Seitdem wird erobert, wenngleich nicht der Weltmarkt

Sollte "Schlachtbank" nicht vielmehr von der Verbindung der Schlacht mit der Bank herkommen?

Es mag Kriege gegeben haben, in denen Körperliches für Geistiges eingesetzt wurde. Aber nie zuvor hat es einen gegeben, in dem nur die Abwesenheit des Geistigen verhindert hat, dieses für Körperliches einzusetzen.

Dreifachem Reim entziehe sich die Welt: dem Reim auf Feld und Geld und Held.

Wenn Mut überhaupt im Bereich physischer Auseinandersetzungen denkbar ist, so könnte er wohl eher dem Unbewaffneten zuzuschreiben sein, der dem Bewaffneten gegenübersteht, als umgekehrt. Die so entwickelte Waffe bedingt es nun, daß der Mensch in neuen Kriege zugleich bewaffnet und unbewaffnet ist, indem er doch eine Waffe gebraucht, gegen die er persönlich wehrlos ist, zugleich ein Feigling und ein Held. Es sollte in diesem Stadium der Entwicklung, wenn nichts anderes, das ornamentale Wesen des Säbels auffallen, einer Waffe, die etwa noch im Frieden Verwendung finden könnte. So mag dereinst ein Flammenwerfer zur Montur gehören, wenn anders der Fortschritt der Menschheit weiter auf das Ingenium des Ingenieurs angewiesen bleibt. Aber es ist wohl zu hoffen, daß die Menschheit, wenn sie den Ehrgeiz hat, sich die Rauflust zu erhalten, sich eines Tages entwaffnen und versuchen wird, wieder ohne die Ingenieure Krieg zu führen.

Karl Kraus

Donnerstag, 5. Januar 2012

La Jetée von Chris Marker

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Dienstag, 3. Januar 2012

nur das Gesicht

Aber im Geist muß noch die Klage darüber sich reflektieren, daß nicht mehr sich klagen läßt. Kein Weinen schmilzt den Panzer, übrig ist nur das Gesicht, dem die Tränen versiegten.

Adorno

The Way You Move

The Kills - No No No

Robert Musil



Aus sehr naheliegenden Gründen behandelt jede Generation das Leben, das sie vorfindet, als fest gegeben, bis auf das wenige, an dessen Veränderung sie interessiert ist. Das ist nützlich, aber falsch.