Montag, 26. April 2010

Das Lied von der Presse

Im Anfang war die Presse
und dann erschien die Welt.
Im eigenen Interesse
hat sie sich uns gesellt.
Nach unserer Vorbereitung
sieht Gott, daß es gelingt,
und so die Welt zur Zeitung
er bringt […]
Sie lesen, was erschienen,
sie denken, was man meint.
Noch mehr lässt sich verdienen,
wenn etwas nicht erscheint.

Karl Kraus

Mittwoch, 21. April 2010

Klaus Kinski:

Ich bin gekommen, die erregendste Geschichte der Menschheit zu erzählen: Das Leben von Jesus Christus.
Ich spreche nicht von diesem Jesus auf den gräßlich bunten Drucken. Nicht von dem Jesus mit der gelben leberkranken Haut - den eine irrsinnige menschliche Gesellschaft zur größten Hure aller Zeiten macht. Dessen Kadaver sie pervers mit sich herumschleppt an infamen Kreuzen. Ich spreche nicht von göttlichem Geschwätz und von geplärrten Kirchenliedern. Nicht von dem Jesus, der mit modrigem Kuß die kleinen Mädchen von der ersten Kommunion aus geilen Träumen schreckt und sie dann sterben läßt vor Ekel und vor Scham, wenn sie auf den Latrinen schäumen.
Ich spreche von dem Mann: dem ruhelosen, der sagt, daß wir uns ändern müssen, immerzu, jetzt! Ich spreche von dem Abenteurer, dem furchtlosesten, freiesten, modernsten aller Menschen, der sich lieber massakrieren läßt, als lebendig mit den anderen zu verfaulen. Ich spreche von dem Mann, der so ist, wie wir alle sein wollen. Du und ich.

John Cassavetes:

Filme sind für mich unwichtig. Menschen sind sehr wichtig. Am Ende gehen alle mit dem Wissen nach Hause, dass es möglich ist. Nicht so sehr, dass der Film gut oder schlecht oder mittelmäßig ist, sondern dass es möglich ist, dass Leute mit Nichts anfangen können und durch ihren Willen und ihre Entschlossenheit aus dem Nichts etwas machen, ohne technisches Know-how, ohne Ausrüstung. Bei dem ganzen Film war kein einziger Techniker dabei. Keiner von uns wusste, wie man eine Kamera bedient. Sie kamen an, studierten die Bedienungsanleitung, wie man den Film einlegt, besorgten sich eine Moviola und sahen sich das Ding an, taten alles Menschenmögliche, wir machten 8 Millionen Fehler, aber es war aufregend und machte Spaß. (...) Das Ganze war mehr als ein Film; es wurde zu einer Lebensform. Einem Widerstand gegen die Mächte, die die Menschen daran hinderten, sich so auszudrücken, wie sie es wollen. Wir wollten beweisen: 'So was ist in Amerika möglich. Und ohne Geld. Wir schaffen es.' Wie lange haben wir im Vietnamkrieg gekämpft? Wenn es solange dauert, etwas so Destruktives zu tun, warum können wir uns nicht vier Jahre Zeit lassen, etwas Konstruktives zu tun?

Donnerstag, 15. April 2010

Zur Genese der Dummheit

Das Wahrzeichen der Intelligenz ist das Fühlhorn der Schnecke »mit dem tastenden Gesicht«, mit dem sie, wenn man Mephistopheles glauben darf, auch riecht. Das Fühlhorn wird vor dem Hindernis sogleich in die schützende Hut des Körpers zurückgezogen, es wird mit dem Ganzen wieder eins und wagt als Selbständiges erst zaghaft wieder sich hervor. Wenn die Gefahr noch da ist, verschwindet es aufs neue, und der Abstand bis zur Wiederholung des Versuchs vergrößert sich. Das geistige Leben ist in den Anfängen unendlich zart. Der Sinn der Schnecke ist auf den Muskel angewiesen, und Muskeln werden schlaff mit der Beeinträchtigung ihres Spiels. Den Körper lähmt die physische Verletzung, den Geist der Schrecken. Beides ist im Ursprung gar nicht zu trennen.
Die entfalteteren Tiere verdanken sich selbst der größeren Freiheit, ihr Dasein bezeugt, daß einstmals Fühler nach neuen Richtungen ausgestreckt waren und nicht zurückgeschlagen wurden. Jede ihrer Arten ist das Denkmal ungezählter anderer, deren Versuch zu werden schon im Beginn vereitelt wurde; die dem Schrecken schon erlagen, als nur ein Fühler sich in der Richtung ihres Werdens regte. Die Unterdrückung der Möglichkeiten durch unmittelbaren Widerstand der umgebenden Natur ist nach innen fortgesetzt, durch die Verkümmerung der Organe durch den Schrecken. In jedem Blick der Neugier eines Tieres dämmert eine neue Gestalt des Lebendigen, die aus der geprägten Art, der das individuelle Wesen angehört, hervorgehen könnte. Nicht bloß die Prägung hält es in der Hut des alten Seins zurück, die Gewalt, die jenem Blick begegnet, ist die jahrmillionenalte, die es seit je auf seine Stufe bannte und in stets erneutem Widerstand die ersten Schritte, sie zu überschreiten, hemmt. Solcher erste tastende Blick ist immer leicht zu brechen, hinter ihm steht der gute Wille, die fragile Hoffnung, aber keine konstante Energie. Das Tier wird in der Richtung, aus der es endgültig verscheucht ist, scheu und dumm.
Dummheit ist ein Wundmal. Sie kann sich auf eine Leistung unter vielen oder auf alle, praktische und geistige, beziehen. Jede partielle Dummheit eines Menschen bezeichnet eine Stelle, wo das Spiel der Muskeln beim Erwachen gehemmt anstatt gefördert wurde. Mit der Hemmung setzte ursprünglich die vergebliche Wiederholung der unorganisierten und täppischen Versuche ein. Die endlosen Fragen des Kindes sind je schon Zeichen eines geheimen Schmerzes, einer ersten Frage, auf die es keine Antwort fand und die es nicht in rechter Form zu stellen weiß. Die Wiederholung gleicht halb dem spielerischen Willen, wie wenn der Hund endlos an der Türe hochspringt, die er noch nicht zu öffnen weiß, und schließlich davon absteht, wenn die Klinke zu hoch ist, halb gehorcht sie hoffnungslosem Zwang, wie wenn der Löwe im Käfig endlos auf und ab geht und der Neurotiker die Reaktion der Abwehr wiederholt, die schon einmal vergeblich war. Sind die Wiederholungen beim Kind erlahmt, oder war die Hemmung zu brutal, so kann die Aufmerksamkeit nach einer anderen Richtung gehen, das Kind ist an Erfahrung reicher, wie es heißt, doch leicht bleibt an der Stelle, an der die Lust getroffen wurde, eine unmerkliche Narbe zurück, eine kleine Verhärtung, an der die Oberfläche stumpf ist. Solche Narben bilden Deformationen. Sie können Charaktere machen, hart und tüchtig, sie können dumm machen - im Sinn der Ausfallserscheinung, der Blindheit und Ohnmacht, wenn sie bloß stagnieren, im Sinn der Bosheit, des Trotzes und Fanatismus, wenn sie nach innen den Krebs erzeugen. Der gute Wille wird zum bösen durch erlittene Gewalt. Und nicht bloß die verbotene Frage, auch die verpönte Nachahmung, das verbotene Weinen, das verbotene waghalsige Spiel, können zu solchen Narben führen. Wie die Arten der Tierreihe, so bezeichnen die geistigen Stufen innerhalb der Menschengattung, ja die blinden Stellen in demselben Individuum Stationen, auf denen die Hoffnung zum Stillstand kam, und die in ihrer Versteinerung bezeugen, daß alles Lebendige unter einem Bann steht.

Adorno, Horkheimer, Dialektik der Aufklärung