Mittwoch, 29. Juni 2011

Karl Kraus über den Künstler, Kunstwerke, Snobs und Philister

Die Kunst ist so eigenwillig, daß sie das Können der Finger und Ellbogen nicht als Befähigungsnachweis gelten läßt.

Künstler haben das Recht, bescheiden, und die Pflicht, eitel zu sein.

Wer das Lob der Menge gern entbehrt, wird sich die Gelegenheit, sein eigener Anhänger zu werden, nicht versagen.

Der Philister langweilt sich und sucht die Dinge, die ihn nicht langweilen. Den Künstler langweilen die Dinge, aber er langweilt sich nie.

Der Philister möchte immer, daß ihm die Zeit vergeht. Dem Künstler besteht sie.

Ein Snob ist unverläßlich. Das Werk, das er lobt, kann gut sein.

Kunstwerke sind überflüssig. Es ist zwar notwendig, sie zu schaffen, aber nicht, sie zu zeigen. Wer Kunst in sich hat, braucht den fremden Anlaß nicht. Wer sie nicht hat, sieht nur den Anlaß. Dem einen drängt sich der Künstler auf, dem andern prostitiuiert er sich. In jedem Fall sollte er sich schämen.

Die Kunst dient dazu, uns die Augen auszuwischen.

Karl Kraus

Faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne

Nehmen wir den einfachsten Fall: die sogenannten "Vermischten Meldungen", seit jeher der Tummelplatz der Sensationspresse. Blut und Sex, Tragödien und Verbrechen haben immer schon Verkaufsziffern in die Höhe getrieben, und so mußte die Diktatur der Einschaltquote derartige Ingredienzen an die vorderste Stelle, an den Beginn der Fernsehnachrichten spülen, die früher ausgeklammert oder auf die hinteren Ränge verwiesen wurden, weil man sich bemühte, nach dem Vorbild der seriösen Tagespresse als respektabel zu erscheinen. Die "Vermischten Meldungen" sind aber auch die Meldungen, die alles vermischen. Das Grundprinzip von Zauberern besteht darin, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken als auf das, was sie gerade tun. Die symbolische Aktion des Fernsehens zum Beispiel auf der Ebene der Nachrichten besteht darin, die Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, die alle Welt interessieren, die omnibus – für alle – da sind. Omnibus-Meldungen sind solche, die, wie es heißt, niemanden schockieren dürfen, bei denen es um nichts geht, die nicht spalten, die Konsens herstellen, die alle interessieren, aber so, daß sie nichts Wichtiges berühren. Die "Vermischte Meldung" stellt jenen Grundbaustein der Nachrichten dar, der sehr wichtig, weil für alle von Interesse ist, ohne zu irgendwelchen Konsequenzen Anlaß zu geben, und der Zeit beansprucht, Zeit, die dazu verwendet werden könnte, über andere Dinge zu sprechen. Zeit aber ist im Fernsehen ein äußerst knappes Gut. Und wenn wertvolle Minuten verschleudert, um derart Unwichtiges zu sagen, so deswegen, weil diese unwichtigen Dinge in Wirklichkeit sehr wichtig sind, und zwar insofern, als sie Wichtiges verbergen. Ich hebe dies hervor, weil wir aus anderen Untersuchungen wissen, daß weite Teile der Bevölkerung keinerlei Tageszeitung lesen, daß sie den Fernsehen als einziger Informationsquelle völlig ausgeliefert sind. Das Fernsehen hat eine Art faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne eines Großteil der Menschen. Legt das Fernsehen den Akzent auf die "Vermischten Meldungen", so füllt es die Zeit mit Leere, mit nichts oder fast nichts, und klammert relevante Informationen aus, über die der Staatsbürger zur Wahrnehmung seiner demokratischen Rechte verfügen sollte. Damit ist die Tendenz zu einer Spaltung gegeben, einer Spaltung zwischen denen, die die sogenannte seriöse Presse lesen können (soweit diese angesichts der Konkurrenz des Fernsehens seriös bleibt), die zur internationalen Presse, zu fremdsprachigen Rundfunknachrichten Zugang haben auf der einen Seite – und auf der anderen Seite denen, deren ganzes politisches Rüstzeug in den vom Fernsehen gelieferten Nachrichten, also in fast gar nichts besteht (abgesehen von der Information, die im puren Kennenlernen der meistgezeigten Männer und Frauen besteht, im Kennen ihrer Gesichter, ihrer Ausdruckweisen, Dingen, die noch die kulturell Hilflosesten entziffern können – wodurch ihnen übrigens große Teile des politischen Führungspersonals suspekt werden).


Pierre Bourdieu
Auszug aus Über das Fernsehen (1996)

Sonntag, 26. Juni 2011

Wesen der kritischen Theorie?

Genau das Negative war das Positive, dieses Bewußtsein des Nichtmitmachens, des Verweigerns; die unerbittliche Analyse des Bestehenden, das ist eigentlich das Wesen der kritischen Theorie.

Leo Löwenthal

Samstag, 25. Juni 2011

der Künstler seines Lebens

Im kleinen Zimmer herrscht Stille; Einsamkeit und Müßigkeit umschleichen die Einbildung; leise, ganz leise entflammt sie sich und brodelt auf, wie das Wasser in der Kaffeemaschine der alten Matronja, die nebenan in der Küche geräuschlos hantiert und sich ihren Köchinnenkaffee kocht. Nach und nach steigen die heißen Blasen auf, und schon fällt das Buch, das auf gut Glück und ohne Absicht ergriffen wurde, aus der Hand meines Träumers, der nicht einmal bis zur dritten Seite gelangt ist. Seine Einbildungskraft ist aufs neue gestimmt und erregt, und plötzlich glänzt eine neue Welt voll von neuem bezauberndem Leben in einer schimmernden Perspektive vor ihm auf. Ein neuer Traum – ein neues Glück! Eine neue Dosis des verfeinerten süßen Giftes! Oh, was soll ihm noch unser wirkliches Leben! Für seinen bestochenen Blick leben wir, Sie und ich, Nastjenka, so langsam, so träge und welk; seiner Ansicht nach sind wir alle so unzufrieden mit unseren Losen und so sehr von unserem Leben gequält! Und ist es nicht auch tatsächlich wahr, schauen Sie nur, wie in der Tat auf den ersten Blick alles bei uns so kalt und finster, ja fast böse ist... Die Ärmsten! denkt mein Träumer dabei. Es ist kein Wunder, daß er das denkt. Schauen Sie doch nur diese zauberische Gesichte an, die sich so reizend, so launisch, so uferlos und frei vor ihm zu dem zauberhaften und beseelten Bilde vereinigen, auf dessen vorderstem Plan als bedeutendste Person natürlich er selber, unser Phantast, in eigner werter Person steht. Schauen Sie doch nur, wieviel verschiedenartige Abenteuer es dort gibt, welch einen unendlichen Schwarm begeisterter Phantasien. Sie werden mich vielleicht fragen, wovon er träumt? Wozu die Frage? Er träumt ja von allem... von der Rolle des Poeten, der anfangs nicht anerkannt und später bekränzt ward; von einer Freundschaft mit Hoffmann, von der Bartholomäusnacht, von Diana Vernon, von den heroischen Taten bei der Einnahme Kasans durch Iwan Wassiljewitsch, von Clara Mowbray, von dem Konzil der Prälaten, vor denen Hus stand, vom Auferstehen der Toten im Robert (erinnern sie sich an die Musik? Sie riecht ordentlich nach dem Friedhof!), von Minna und Brenda, von der Schlacht an der Beresina, vom Vortrag einer Verserzählung bei der Gräfin W.D., von Danton, von Cleopatra ed i suoi amanti, vom Häuschen in Kolomna und von seinem eigenen Winkel, und zwar, daß dort neben ihm ein liebliches Wesen säße, das ihm an Winterabenden mit geöffnetem Mündchen und offenen Äuglein zuhört, genauso, wie Sie mir soeben zuhören, mein kleines Engelchen...
Nein, Nastjenka, was soll ihm, dem wollüstigen Müßiggänger, jenes Leben, in das Sie und ich jetzt so gern eintreten wollen? Er denkt, daß das Leben nur arm und erbärmlich sei, und ahnt nicht, daß auch für ihn vielleicht die traurige Stunde einmal schlagen wird, da er um einen Tag dieses erbärmlichen Lebens all seine phantastischen Jahre hingeben wird, und nicht etwa um Freude oder Glück hingeben wird, denn in jener Stunde der Trauer, der Reue und des erlaubten Grames wird er nicht einmal mehr wählen dürfen. Allein, solange sie noch nicht da ist, diese drohende Zeit – wünscht er nichts, denn er steht über allen Wünschen, da er alles besitzt, da er von allem übersättigt ist, da er selber der Künstler seines Lebens ist und es zu jeder Stunde nach neuer Laune sich erschaffen kann. Wie leicht und wie selbstverständlich wird diese märchenhafte, phantastische Welt erschaffen! Es ist fast so, als wäre sie tatsächlich gar kein Gespenst! Und wahrhaftig, man könnte in mancher Minute fast glauben, daß dieses Leben nicht etwa nur eine Erregung der Gefühle sei, kein Gaukelspiel, kein Trug der Einbildung, sondern daß es geradezu das wirkliche, wahrhaftige und rechte Leben ist! Warum denn, sagen Sie es mir, Nastjenka, warum kommt in solchen Augenblicken eine Beklemmung über den Geist? Warum, durch welch eine Zauberei, durch welch ein unbekanntes Geschick kommt es, daß der Puls beschleunigt schlägt und aus den Augen Tränen quellen, warum brennen dann die bleichen, feuchten Wangen und warum erfüllt sich das ganze Dasein mit unabwendlicher Freude? Warum vergehen die langen, schlaflosen Nächte in unerschöpflicher Heiterkeit und Glück wie ein einziger Augenblick, und wenn dann der rosige Strahl des Morgenrotes durchs Fenster blitzt und die Morgendämmerung das finstere Zimmer mit ihrem unzweifelhaften, phantastischen Lichte erhellt, wie das nur bei uns in Petersburg geschehen kann, warum wirft sich unser ermatteter und zerquälter Träumer erst um diese Stunde auf sein Bett und schläft in den letzten Wellen der Begeisterung seines krankhaft erschütterten Geistes ein, mit einem quälend  süßen Brennen im Herzen? Ja, Nastjenka, da läßt man sich leicht täuschen und glaubt unwillkürlich, daß eine echte und wahre Leidenschaft die Seele bewege, daß in den körperlosen Träumerein etwas Lebendiges und Greifbares sei. Und doch ist es nichts als Betrug – schauen Sie, zum Beispiel, in seine Brust drang die Liebe mit ihrer ganzen unerschöpflichen Freude und all ihren peinigenden Qualen... Schauen Sie ihn nur an und überzeugen Sie sich davon! Werden Sie, liebe Nastjenka, bei diesem Anblick glauben, daß er jene in Wahrheit noch nie gekannt hat, die er in seinen entrückten Träumen so sehr geliebt? Ist es wirklich möglich, daß die beiden nicht Hand in Hand durch viele Jahre des Lebens gegangen sind – allein zu zweit, die ganze Welt hinter sich lassend und jeder die eigene Welt und das eigene Leben mit dem Leben des Freundes vereinigend? Ist es wirklich möglich, daß in jener späten Stunde, da sie Abschied nehmen mußten, nicht sie es war, nicht sie, die weinend und verzehrt von Sehnsucht an seiner Brust lag, ohne den Sturm zu hören, der über ihnen am finsteren Himmel tobte, ohne des Windes zu achten, der die Tränen von ihren schwarzen Wimpern riß und mit sich forttrug? Und ist es wirklich möglich, daß das alles nur ein Traum war –

Auszug aus Weiße Nächte von Fjordor Dostojewskij

Verkannt als bloßes Exemplar

Ein Atom wird nicht in Stellvertretung sondern als Spezimen der Materie zertrümmert, und das Kaninchen geht nicht in Stellvertretung sondern verkannt als bloßes Exemplar durch die Passion des Laboratoriums.

Adorno, Horkheimer

Donnerstag, 23. Juni 2011

Mittwoch, 22. Juni 2011

Big Spider's Back - Dead Channel

das Sollizitieren wie das Sollizitiertsein

Es ergibt sich hieraus, daß der Begriff der Kraft durch die Verdopplung in zwei Kräfte wirklich wird, und wie er dies wird. Diese zwei Kräfte existieren als für sich seiende Wesen; aber ihre Existenz ist eine solche Bewegung gegeneinander, daß ihr Sein vielmehr ein reines Gesetztsein durch ein Anderes ist, das heißt, daß ihr Sein vielmehr die reine Bedeutung des Verschwindens hat. Sie sind nicht als Extreme, die etwas Festes für sich behielten, und nur eine äußere Eigenschaft gegeneinander in die Mitte und in ihre Berührung schickten; sondern was sie sind, sind sie nur in dieser Mitte und Berührung. Es ist darin unmittelbar ebensowohl das In-sich-zurückgedrängt- oder- oder das Für-sich-sein der Kraft wie die Äußerung, das Sollizitieren wie das Sollizitiertsein; diese Momente hiemit nicht an zwei selbständige Extreme verteilt, welche sich nur eine entgegengesetzte Spitze böten, sondern ihr Wesen ist dies schlechthin, jedes nur durchs andere, und was jede so durchs andre ist, unmittelbar nicht mehr zu sein, indem sie es ist. Sie haben hiemit in der Tat keine eignen Substanzen, welche sie trügen und erhielten. Der Begriff der Kraft erhält sich vielmehr als das Wesen in seiner Wirklichkeit selbst; die Kraft als wirkliche ist schlechthin nur in der Äußerung, welche zugleich nichts anders als ein Sich-selbst-aufheben ist. Diese wirkliche Kraft vorgestellt als frei von ihrer Äußerung und für sich seiend, ist sie die in sich zurückgedrängte Kraft, aber diese Bestimmtheit ist in der Tat, wie sich ergeben hat, selbst nur ein Moment der Äußerung. Die Wahrheit der Kraft bleibt also nur der Gedanke derselben; und haltungslos stürzen die Momente ihrer Wirklichkeit, ihre Substanzen und ihre Bewegung in eine ununterschiedene Einheit zusammen, welche nicht die in sich zurückgedrängte Kraft ist, denn diese ist selbst nur ein solches Moment, sondern diese Einheit ist ihr Begriff, als Begriff. Die Realisierung der Kraft ist also zugleich Verlust der Realität; sie ist darin vielmehr ein ganz Anderes geworden, nämlich diese Allgemeinheit, welche der Verstand zuerst oder unmittelbar als ihr Wesen erkennt, und welche sich auch als ihr Wesen an ihrer seinsollenden Realität, an den wirklichen Substanzen erweist.

Hegel, Kraft und Verstand

Montag, 20. Juni 2011

Sonntag, 19. Juni 2011

The Figurines - The Air We Breathe

Über Tradition - Kapitel 3

Die falsche Tradition, die fast gleichzeitig mit der Konsolidierung der bürgerlichen Gesellschaft aufkam, wühlt im falschen Reichtum. Er stand der alten, erst recht der neuen Romantik lockend vor Augen. Auch der Begriff der Weltliteratur, der gewiß von der Enge der nationalen befreite, verleitete von Anbeginn dazu. Falsch ist der Reichtum darum, weil er, im bürgerlichen Geist des Disponierens über Besitz, verwertet wurde, als stünde dem Künstler alles zu Gebote, was je an künstlerischen Stoffen und Formen hoch und teuer war, nachdem einmal die Historie seiner sich versicherte. Gerade weil keine Tradition dem Künstler mehr substantiell, verbindlich ist, falle eine jegliche ihm kampflos als Beute zu. Hegel hat die neuere Kunst, die er die romantische nannte, in diesem Sinn bestimmt; Goethe war nicht spröde dagegen, erst die Allergie gegen Tradition heute ist es. Während scheinbar dem autonom gewordenen Künstler alles gleich offen steht, schlagen ihm ausgegrabene Schätze keineswegs zum Guten an, wie es zuletzt noch, bereits gebrochen, die neoklassizistischen Richtungen, in der Literatur etwa der spätere Gide und Cocteau, verhießen. Macht er davon Gebrauch, so verfertigt er Kunstgewerbe, erborgt sich aus Bildung, was seinem eigenen Stand widerspricht, Leerformen, die nicht sich füllen lassen: denn keine authentische Kunst hat je ihre Form gefüllt. Der Künstler nach dem Zerfall der Tradition erfährt diese vielmehr an dem Widerstand, den das Traditionale ihm entgegensetzt, wo immer er seiner sich bemächtigen will. Was in den verschiedenen künstlerischen Medien heute Reduktion heißt, gehorcht der Erfahrung, nichts mehr ließe sich verwenden als das von der Gestalt jetzt und hier Geforderte. Die Beschleunigung im Wechsel ästhetischer Programme und Richtung, die der Philister als Modeunwesen begrinst, rührt her vor dem unablässig sich steigernden Zwang zum Refus, den Valéry, als erster notierte. Das Verhältnis zur Tradition setzt sich um in einen Kanon des Verbotenen. Er saugt, mit anwachsendem selbstkritischen Bewußtsein, immer mehr in sich hinein, auch scheinbar Ewiges, Normen, die, direkt oder indirekt der Antike entlehnt, im bürgerlichen Zeitalter wider die Auflösung der traditionalen Momente mobilisiert wurden.

Adorno

Donnerstag, 16. Juni 2011

Überlebens- Kunst

Je mehr das Überleben wieder zu einer Kunst werden muss, desto mehr stirbt Sie.

nicoosi

An was aber Erkenntnis nicht heranreicht

Was einer für eine Meinung hat, wird als sein Besitz zu einem Bestandstück seiner Person, und was die Meinung entkräftet, wird vom Unbewußten und Vorbewußten registriert, als werde ihm selber geschadet. Rechthaberei, der Hang der Menschen, törichte Meinungen selbst dann hartnäckig zu verteidigen, wenn ihre Falschheit rational einsichtig geworden ist, bezeugt die Verbreitung des Sachverhalts. Der Rechthaber entwickelt, um nur ja die narzißtische Schädigung von sich fern zu halten, die ihm durch die Preisgabe der Meinung widerfährt, einen Scharfsinn, der oft weit seine intellektuellen Verhältnisse übersteigt. Die Klugheit, die in der Welt aufgewandt wird, um narzißtisch Unsinn zu verteidigen, reichte wahrscheinlich aus, das Verteidigte zu verändern.
(...)
Ohne festgehaltene Meinung, ohne Hypostasis eines nicht ganz Erkannten, ohne Hinnahme von etwas als Wahrheit, von dem man gar nicht durchaus weiß, ob es die Wahrheit sei, ist Erfahrung, ja die Erhaltung des Lebens kaum möglich. Der verängstigte Fußgänger, der eine Straße überschreitet und, bei gelbem Licht, urteilt, wenn er jetzt noch hinübergehe, werde er überfahren werden, ist nicht ganz sicher ob das wirklich geschehen wird. Das nächste Auto könnte einmal einen humanen Fahrer haben, der noch nicht auf den Gashebel tritt. Aber im Augenblick, in dem der Fußgänger sich darauf verließe und gegen das Licht die Straße überschritte, nur weil er kein Prophet sei, würde er mit größter Wahrscheinlichkeit getötet. Um so sich zu verhalten, wie es der gesunde Menschenverstand der Selbsterhaltung von ihm verlangt, muß er gleichsam übertreiben. Alles Denken ist Übertreibung, insofern als jeder Gedanke, der überhaupt einer ist, über seine Einlösung durch gegebene Tatsachen hinausschießt. In dieser Differenz zwischen Gedanken und Einlösung nistet aber wie das Potential der Wahrheit so auch das des Wahns.
(...)
Über das, was wahr und was bloße Meinung, nämlich Zufall und Willkür sein soll entscheidet nicht, wie die Ideologie es will, die Evidenz sondern die gesellschaftliche Macht, die das als bloße Willkür denunziert, was mit ihrer eigenen Willkür nicht zusammenstimmt. Die Grenze zwischen der gesunden und der pathogenen Meinung wird in praxi von der geltenden Autorität gezogen, nicht von sachlicher Einsicht.
(...)
Zugleich aber ist die permanente Wucherung des Meinens vom Objekt her motiviert. Die Undurchsichtigkeit der Welt  nimmt offenbar für das naive Bewußtsein zu, während sie in so vielem durchsichtiger wird. Ihre Übermacht, welche es verwehrt, die dünne Fassade zu durchstoßen, verstärkt solche Naivetät, anstatt daß sie, wie der arglose Bildungsglaube es möchte, geringer würde.
An was aber Erkenntnis nicht heranreicht, dessen bemächtigt sich die Meinung als deren Ersatz. Trügend räumt sie die Fremdheit zwischen dem erkennenden Subjekt und der ihm entgleitenden Realität weg. Dabei verrät sich in der Inadäquanz der bloßen Meinung jene Entfremdung selber. Weil dies nicht unsere Welt, weil sie heteronom ist, deshalb kann sie in der verbissenen und hartnäckigen Meinung nur verzerrt sich ausdrücken, und solcher Wahn in der Meinung tendiert dann wiederrum dazu, schließlich in totalitären System die Übermacht des Entfremdeten zu vermehren.
(...)

Adorno, Auszug aus Meinung Wahn Gesellschaft

Mittwoch, 15. Juni 2011

Michaël Borremans

The German I
The Skirt

Dienstag, 14. Juni 2011

Eine gerechte Welt – in uns

Die Privilegierten benutzen Ideale, um sich zu rechtfertigen,
die Unprivilegierten brauchen sie, zum träumen,
und die Poeten – in uns – erschaffen sie,
um nicht zu ersticken.

Sittlichkeit und Kriminalität

Wir können ruhig schlafen,
weil man ins freie Feld
der Lust den Paragraphen
als Vogelscheuche stellt.

Doch Warnung lockt den Flieger,
die Scheuche schreckt den Schlaf;
die Lust bleibt immer Sieger,
ihr Schmuck der Paragraph!

Karl Kraus

LCD Soundsystem - Home

Sonntag, 12. Juni 2011

Philosophie und Dichtung

Der Philosoph denkt aus der Ewigkeit in den Tag, der Dichter aus dem Tag in die Ewigkeit.

Karl Kraus

2 * Gil Scott Heron

We Almost Lost Detroit


The Bottle

Samstag, 11. Juni 2011

rosig vor Glück

(...) In unserem Volk kennt man keine Jugend, kaum eine winzige Kinderzeit. Es treten zwar regelmäßige Forderungen auf, man möge den Kindern eine besondere Freiheit, eine besondere Schonung gewährleisten, ihr Recht auf ein wenig Sorglosigkeit, ein wenig sinnloses Sichherumtummeln, auf ein wenig Spiel, dieses Recht möge man anerkennen und ihm zur Erfüllung verhelfen; solche Forderungen treten auf und fast jedermann billigt sie, es gibt nichts, was mehr zu billigen wäre, aber es gibt auch nichts, was in der Wirklichkeit unseres Lebens weniger zugestanden werden könnte, man billigt die Forderungen, man macht Versuche in ihrem Sinn, aber bald ist wieder alles beim Alten. Unser Leben ist eben derart, daß ein Kind, sobald es nur ein wenig läuft und die Umwelt ein wenig unterscheiden kann, ebenso für sich sorgen muß wie ein Erwachsener; die Gebiete, auf denen wir aus wirtschaftlichen Rücksichten zerstreut leben müssen, sind zu groß, unserer Feinde sind zu viele, die uns überall bereiteten Gefahren zu unberechenbar – wir können die Kinder vom Existenzkampfe nicht fernhalten, täten wir es, es wäre ihr vorzeitiges Ende. Zu diesen traurigen Gründen kommt freilich auch ein erhebender: die Fruchtbarkeit unseres Stammes. Eine Generation – und jede ist zahlreich – drängt die andere, die Kinder haben nicht Zeit, Kinder zu sein. Mögen bei anderen Völkern die Kinder sorgfältig gepflegt werden, mögen dort Schulen für die Kleinen errichtet sein, mögen dort aus diesen Schulen täglich die Kinder strömen, die Zukunft des Volkes, so sind es doch immer lange Zeit Tag für Tag die gleichen Kinder, die dort hervorkommen. Wir haben keine Schulen, aber aus unserem Volke strömen in allerkürzesten Zwischenräumen die unübersehbaren Scharen unserer Kinder, fröhlich zischend oder piepsend, solange sie noch nicht pfeifen können, sich wälzend oder kraft des Druckes weiterrollend, solange sie noch nicht laufen können, täppisch durch ihre Masse alles mit sich fortreißend, solange sie noch nicht sehen können, unsere Kinder! Und nicht wie in jenen Schulen die gleichen Kinder, nein, immer, immer wieder neue, ohne Ende, ohne Unterbrechung, kaum erscheint ein Kind, ist es nicht mehr Kind, aber schon drängen hinter ihm die neuen Kindergesichter ununterscheidbar in ihrer Menge und Eile, rosig vor Glück. Freilich, wie schön dies auch sein mag und wie sehr uns andere darum auch mit Recht beneiden mögen, eine wirkliche Kinderzeit können wir eben unseren Kindern nicht geben. Und das hat seine Folgewirkungen. Eine gewisse unerstorbene, unausrottbare Kindlichkeit durchdringt unser Volk; im geraden Widerspruch zu unserem Besten, dem untrüglichen praktischen Verstande, handeln wir manchmal ganz und gar töricht, und zwar eben in der Art, wie Kinder töricht handeln, sinnlos, verschwenderisch, großzügig, leichtsinnig und dies alles oft einem kleinen Spaß zuliebe. Und wenn unsere Freude darüber natürlich nicht mehr die volle Kraft der Kinderfreude haben kann, etwas von dieser lebt darin noch gewiß. Von dieser Kindlichkeit unseres Volkes profitiert seit jeher auch Josefine.
Aber unser Volk ist nicht nur kindlich, es ist gewissermaßen auch vorzeitig alt, Kindheit und Alter machen sich bei uns anders als bei anderen. Wir haben keine Jugend, wir sind gleich Erwachsene, und Erwachsene sind wir dann zu lange, eine gewisse Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit durchzieht von da aus mit breiter Spur das im ganzen doch so zähe und hoffnungsstarke Wesen unseres Volkes. Damit hängt wohl auch unsere Unmusikalität zusammen; wir sind zu alt für Musik, ihre Erregung, ihr Aufschwung paßt nicht für unsere Schwere, müde winken wir ihr ab; wir haben uns auf das Pfeifen zurückgezogen; ein wenig Pfeifen hie und da, das ist das Richtige für uns. Wer weiß, ob es nicht Musiktalente unter uns gibt; wenn es sie aber gäbe, der Charakter der Volksgenossen müßte sie noch vor ihrer Entfaltung unterdrücken. Dagegen mag Josefine nach ihrem Belieben pfeifen oder singen oder wie sie es nennen will, das stört uns nicht, das entspricht uns, das können wir wohl vertragen; wenn darin etwas von Musik enthalten sein sollte, so ist es auf die möglichste Nichtigkeit reduziert; eine gewisse Musiktradition wird gewahrt, aber ohne daß uns dies im geringsten beschweren würde. (...)

Franz Kafka,
Auszug aus Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse

Donnerstag, 9. Juni 2011

The Chemical Brothers - Hanna's Theme

Moral und Zeitordnung.

– Während die Literatur alle psychologischen Arten erotischer Konflikte behandelt hat, ist der einfachste auswendige Konfliktstoff unbeachtet geblieben um seiner Selbstverständlichkeit willen. Das ist das Phänomen des Besetztseins: daß ein geliebter Mensch sich uns versagt nicht wegen innerer Antagonismen und Hemmungen, wegen zuviel Kälte oder zuviel verdrängter Wärme, sondern weil bereits eine Beziehung besteht, die eine neue ausschließt. Die abstrakte Zeitordnung spielt in Wahrheit die Rolle, die man der Hierarchie der Gefühle zuschreiben möchte. Es liegt im Vergebensein, außer der Freiheit von Wahl und Entschluß, auch ein ganz Zufälliges, das den Anspruch der Freiheit durchaus zu widersprechen scheint. Selbst und gerade in einer von der Anarchie der Warenproduktion geheilten Gesellschaft würden schwerlich Regeln darüber wachen, in welcher Reihenfolge man Menschen kennenlernt. Wäre es anders, so müßte ein solches Arrangement dem unerträglichsten Eingriff in die Freiheit gleichkommen. Daher hat denn auch die Priorität des Zufälligen mächtige Gründe auf ihrer Seite: wird einem Menschen ein neuer vorgezogen, so tut man jenem allemal Böses an, indem die Vergangenheit des gemeinsamen Lebens annuliert, Ehrfahrung selber gleichsam durchstrichen wird. Die Irreversibiltät der Zeit gibt ein objektives moralisches Kriterium ab. Aber es ist dem Mythos verschwistert wie die abstrakte Zeit selbst. Die in ihr gesetzte Ausschließlichkeit entfaltet sich ihrem eigenen Begriff nach zur ausschließenden Herrschaft hermetisch dichter Gruppen, schließlich der großen Industrie. Nichts rührender als das Bangen der Liebenden, die Neue könnte Liebe und Zärtlichkeit, ihren besten Besitz, eben weil sie sich nicht besitzen lassen, auf sich ziehen, gerade vermöge jener Neuheit, die vom Vorrecht des Älteren selber hervorgebracht wird. Aber von diesem Rührenden, mit dem zugleich alle Wärme und alles Geborgensein zerginge, führt ein unaufhaltsamer Weg über die Abneigung des Brüderchens gegen den Nachgeborenen und die Verachtung des Verbindungsstudenten für seinen Fuchs zu den Immigrationsgesetzen, die im sozialdemokratischen Australien alle Nichtkaukasier draußen halten, bis zur faschistischen Ausrottung der Rasseminorität, womit dann in der Tat Wärme und Geborgensein ins Nichts explodieren. Nicht nur sind, wie Nietzsche es wußte, alle guten Dinge einmal böse Dinge gewesen: die zartesten, ihrer eigenen Schwerkraft überlassen, haben die Tendenz, in der unausdenkbaren Roheit sich zu vollenden.
Es wäre müßig, aus solcher Verstrickung den Ausweg weisen zu wollen. Doch läßt sich wohl das unheilvolle Moment benennen, das jene ganze Dialektik ins Spiel bringt. Es liegt beim ausschließenden Charakter des Ersten. Die ursprüngliche Beziehung, in ihrer bloßen Unmittelbarkeit, setzt bereits eben jene abstrakte Zeitordnung voraus. Historisch ist der Zeitbegriff selber auf Grund der Eigentumsordnung gebildet. Aber das Besitzenwollen reflektiert die Zeit als Angst vor dem Verlieren, der Unwiederbringlichkeit. Was ist, wird in Beziehung zu seinem möglichen Nichtsein erfahren. Damit wird es erst recht zum Besitz gemacht und gerade in solcher Starrheit zu einem Funktionellen, das für anderen äquivalenten Besitz sich austauschen ließe. Einmal ganz Besitz geworden, wird der geliebte Mensch eigentlich gar nicht mehr angesehen. Abstraktheit in der Liebe ist das Komplement der Auschließlichkeit, die trügerisch als das Gegenteil, als das sich Anklammern an dies eine so Seiende in Erscheinung tritt. Dies Festhalten verliert gerade sein Objekt aus den Händen, indem es zum Objekt gemacht wird, und verfehlt den Menschen, den es auf "meinen Menschen" herunterbringt. Wären Menschen kein Besitz mehr, so könnten sie auch nicht mehr vertauscht werden. Die wahre Neigung wäre eine, die den anderen spezifisch anspricht, an geliebte Züge sich heftet und nicht ans Idol der Persönlichkeit, die Spiegelung von Besitz. Das Spezifische ist nicht ausschließlich: ihm fehlt der Zug zur Totalität. Aber in anderem Sinne ist es doch ausschließlich: indem es die Substitution der unlösbar an ihm haftenden Ehrfahrung – zwar nicht verbietet, aber durch seinen reinen Begriff gar nicht erst aufkommen läßt. Der Schutz des ganz Bestimmten ist, daß es nicht wiederholt werden kann, und eben darum duldet es das andere. Zum Besitzverhältnis am Menschen, zum ausschließenden Prioritätsrecht, gehört genau die Weisheit: Gott, es sind alles doch nur Menschen, und welcher es ist, darauf kommt es gar nicht so sehr an. Neigung, die von solcher Weisheit nichts wüßte, brauchte Untreue nicht zu fürchten, weil sie gefeit wäre vor der Treulosigkeit.

Theodor Wiesengrund Adorno

Brief von Theodor Adorno an Leo Löwenthal

Der Brief von Theodor W. Adorno vom 16. Juli 1924 bezieht sich u. a. auf seine Vorbereitungen zum mündlichen Doktorexamen.

Frankfurt, den 16. 7. 1924.

Mein lieber Leo!
Verzeih mir, dass ich heut erst schreibe und auch diesmal nur kurz; es ist nicht die Unfähigkeit zum schreiben – wäre ich frei genug, Dir zu schreiben, was ich Dir zu schreiben habe – sondern bloß purer Zeitmangel und Examenszwang, der mich jetzt noch still-legt. Ich will Dir die äußeren Daten des Halbjahres berichten. Die zweite Aprilhälfte war ich in Ammerbach, in einem Trubel von Menschen und arbeitete Husserl. Mitte Mai disponierte ich meine Dissertation und trug am 26. den Gedankengang Cornelius vor, der die Arbeit annahm. Am 6. Juni war die Arbeit fertig, am 11. diktiert, am 14. abgegeben. Zugleich begann das große Frankfurter Musikfest, das musikalisch mir zwar keine um so mehr menschliche Erschütterungen brachte, für die indessen ein hastiger Brief nicht der beste Seismograph ist. Du hast mir einmal in den Anlagen, als ich Dir vorjammerte von meiner Not, nicht richtig leben zu können, gesagt, vielleicht sei das ganze Leben nichts anderes als der vergebliche Versuch, richtig zu leben. Wenn das zutrifft, habe ich in jenen Wochen doch recht intensiv gelebt, denn von allen meinen vergeblichen Versuchen geschah damals wohl mein vergeblichster. Genug, Ende Juni landete ich schiffbrüchig mit leidlich heilen Gliedern beim Friedel (D. H. Kracauer). Zugleich dann gab es Schwierigkeiten mit der Promotion. Mein eines Nebenfach war Soziologie. Wie Du weißt, hängt die Genehmigung eines Faches aus anderer Fakultät vom Fakultätbeschluß der Philosophischen Fakultät ab, und die lehnte Soziologie ab, vermutlich aus antisemitischer Ranküne gegen Oppenheimer und Salomon. Da außerdem eine Bestimmung besteht, daß, wer Philosophie als Hauptfach hat, ein Nebenfach aus naturwissenschaftlichen Fakultät nehmen muß, habe ich Soziologie mit Psychologie vertauscht, das heißt der Psychologie des Professor Schumann, die wirklich noch eine trostlosere Wissenschaft ist als selbst  die Salomonische Soziologie, ergiebig nur als unterkitschige Quelle. Doch fehlt mir die Zeit, solche auszuschöpfen. Um mir den Stoff anzueignen – ich hatte bei Schumann gehört – und Ebbinghaus konnte ich nicht mehr lernen, setzte ich mich hier für 10 Tage nach Kronberg, wo Max Horkheimer und sein Freund Pollock, beides sehr ungewöhnliche Menschen, mich aufs liebevollste aufnahmen und aufs strengste schumannpsychologisch drillten. Beide sind übrigens Kommunisten und wir hatten langwierige und leidenschaftliche Gespräche über materialistische Geschichtsauffassung, in denen wir uns gegenseitig viel zugestanden. Nach Frankfurt zurückgekehrt fand ich Deinen Brief vor, dessen symbolisch fremde Schreibmaschinenschrift und kurze Freundlichkeit ich wohl verstand, ohne mich indessen so schuldig zu fühlen, schuldig im Sinne unserer Beziehung wie Du mich sehen mußt. Nicht, daß ich so naiv wäre zu glauben, man müsse sich nur liebhaben, wie es herauskäme, sei gleichgültig, ich weiß, daß kein Verhältnis ohne Mitteilung Dauer haben kann. Aber ich war in diesem halben Jahr zugeschlossen von allzu Schwerem und fühle, daß ich zu Dir reden kann, sobald ich nur selber zu atmen vermag. Ich bitte Dich also noch um ein wenig Geduld und darum, die Konkretheit nicht so prinzipiell zu treiben, daß Dir mit den Monaten ohne Brief das Geheimnis unserer Freundschaft schon definitiv wird. Nun habe ich allbereits wieder terminologisch geredet, aber nimm's, wie es Dir gemeint ist. Um mit den Fakten zu Ende zu kommen – Cornelius hat meine Arbeit anstandslos und ohne die Änderung eines Wortes zu verlangen angenommen und der Korreferent Schumann hat sich seinem Referat ageschlossen, und vermutlich werde ich am 2. August mündliches Examen haben. Ich muß noch viel ochsen bis dahin, vor allem Musikgeschichte. Anfang August fahre ich mit dem Friedel nach Süden, nach Südtirol, Hochapennin. Deine Exmatrikulation habe ich betrieben und bekomme morgen die Exmatrikel, die ich Dir umgehend zustelle. Die Gebühr macht 18 Mark, außerdem mußte ich, um den Stempel der sozialwissenschaftlichen Bibliothek zu bekommen, 10 Mark hinterlegen für einen Schlüssel, den Du noch haben sollst, den ich Dich bitte mir möglichst bald zu schicken, da er ansonst neu gemacht werden muß. Ist der Schlüssel verloren oder bei Deinen Eltern, benachrichtige mich. Ich muß aufhören, ehe ich angefangen habe um in die Universität zu gehen, wo ein Scheler- Referat von mir diskutiert wird. Magst Du mir noch schreiben? Über den Stand meiner Terminologie gibt der Straussaufsatz Auskunft. Von meiner Disseration habe ich kein Exemplar verfügbar, obwohl sie uneigentlicher ist, als es sich selbst für mich gehört, nämlich cornelianisch, freilich gut zu transponieren. Einstweilen, sind wir nicht alle Schreibende.
Teddy

Mittwoch, 8. Juni 2011

...

Hast Du jemals... Unsicherheit gekannt, gesehen, wie sich für dich allein, ohne Rücksicht auf andere, verschiedene Möglichkeiten hierhin und dorthin eröffnen und damit eigentlich ein Verbot entsteht, Dich überhaupt zu rühren...

Franz Kafka

Can - Mother Upduff

Dienstag, 7. Juni 2011

sich auf den Seiten eines Buchs begegnen

"Was tun Sie da? Ich will gleich die Antwort geben: Ihre Auffassung läßt aus, was ihnen nicht paßt. Das gleiche hat schon der Autor getan. Ebenso lassen Sie im Traum oder in der Phantasie aus. Ich stelle also fest: Schönheit oder Erregung kommt in die Welt, indem man fortläßt. Offenbar ist unsere Haltung inmitten der Wirklichkeit ein Kompromiß, ein mittlerer Zustand, worin sich die Gefühle gegenseitig an ihrer leidenschaftlichen Entfaltung hindern und ein wenig zu Grau mischen. Kinder, denen diese Haltung noch fehlt, sind darum glücklicher und unglücklicher als Erwachsene. Und ich will gleich hinzufügen, auch die Dummen lassen aus; Dummheit macht ja glücklich. Ich schlage also als erstes vor: Versuchen wir einander zu lieben, als ob Sie und ich die Figuren eines Dichters wären, die sich auf den Seiten eines Buchs begegnen. Lassen wir also das ganze Fettgerüst fort, das die Wirklichkeit rund macht. "

Robert Musil

Montag, 6. Juni 2011

Das Umfangensein

Mit dem Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit: Man hat es nicht, sondern ist darin. Ja, Glück ist nichts anderes als das Umfangensein, Nachbild der Geborgenheit in der Mutter. Darum aber kann kein Glücklicher, je wissen, daß er es ist. Um das Glück zu sehen, müßte er aus ihm heraustreten: er wäre wie ein Geborener. Wer sagt, er sei glücklich, lügt, indem er es beschwört, und sündigt so an dem Glück. Treue hält ihm bloß, der spricht: ich war glücklich. Das einzige Verhältnis des Bewußtseins zum Glück ist der Dank: das macht dessen unvergleichliche Würde aus.

Adorno

ich agnosziere das Urgesicht

Und aus dem letzten Eckchen eines Zeitungsblatts, das noch unter meiner Lektüre liegt, lugt mir, da ich sie durchfliege, schon die Judasfratze des Jahrhunderts hervor, immer dieselbe, ob es sich um den Journalisten oder den Mediziner, den Hausierer oder den Sozialpolitiker, den Spezereikommis oder den Ästheten handelt. Immer derselbe Stupor, vom Geschmack gekräuselt und mit Bildung gefettet. Im Frisiermantel der Zeit sind alle Dummköpfe gleich, aber wenn sie sich dann erheben und von ihrem Fach zu reden beginnen, ist der eine ein Philosoph und der andere ein Börsenagent. Ich habe diese unselige Fähigkeit, sie nicht unterscheiden zu können, und ich agnosziere das Urgesicht, ohne daß ich mich um die Entlarvung bemühe.

Karl Kraus

Mad World

All around me are familiar faces
Worn out places, worn out faces
Bright and early for their daily races
Going nowhere, going nowhere
And their tears are filling up their glasses
No expression, no expression
Hide my head I want to drown my sorrow
No tomorrow, no tomorrow

And I find it kind of funny
I find it kind of sad
The dreams in which I'm dying
Are the best I've ever had
I find it hard to tell you
'Cos I find it hard to take
When people run in circles
It's a very, very
Mad World

Children waiting for the day they feel good
Happy Birthday, Happy Birthday
Made to feel the way that every child should
Sit and listen, sit and listen
Went to school and I was very nervous
No one knew me, no one knew me
Hello teacher tell me what's my lesson
Look right through me, look right through me

Tears for Fears

Sonntag, 5. Juni 2011

Xiu Xiu – F. T. W.

Exhibitionist.

 – Künstler sublimieren nicht. Daß sie ihre Begierde weder befriedigen noch verdrängen, sondern in sozial wünschbare Leistungen, ihre Gebilde, verwandeln, ist eine psychoanalytische Illusion; übrigens sind legitime Kunstwerke ohne Ausnahme heute sozial unerwünscht. Vielmehr zeigen Künstler heftige, frei flutende und zugleich mit der Realität kollidierende, neurotisch gezeichnete Instinkte. Noch der Spießertraum vom Schauspieler oder Geiger als einer Synthese aus Nervenbündel und Herzensbrecher trifft eher zu als die nicht minder spießbürgerliche Triebökonomie, der zufolge die Sonntagskinder der Versagung es in Symphonien und Romanen loswerden. Ihr Teil ist vielmehr hysterisch outrierte Hemmungslosigkeit über allen erdenklichen Ängsten; Narzißmus, bis an die paranoische Grenze getrieben. Gegen das Sublimierte haben sie Idiosynkrasien. Unversöhnlich sind sie den Ästheten, gleichgültig gegen gepflegte Milieus, und in geschmackvoller Lebensführung erkennen sie so sicher die mindere Reaktionsbildung gegen den Hang zum Minderen wie die Psychologen, von denen sie selber verkannt werden. Sie lassen seit den Briefen Mozarts an das Augsburger Bäsle bis zu den Wortwitzen des verbitterten Korrepetitors vom Derben, Albernen, Unanständigen sich verlocken. In die Freudische Theorie passen sie nicht, weil es jener an einem zureichenden Begriff des Ausdrucks mangelt, trotz aller Einsicht ins Funktionieren der Symbolik von Traum und Neurose. Daß eine unzensiert ausgedrückte Triebregung auch dann nicht verdrängt heißen kann, wenn sie das Ziel, das sie nicht findet, gar nicht mehr erlangen will, leuchtet gewiß ein. Andererseits liegt die analytische Unterscheidung motorischer – „realer“ – und halluzinatorischer Befriedigung in der Richtung auf die Differenz von Befriedigung und unverstelltem Ausdruck. Aber Ausdruck ist nicht Halluzination. Er ist Schein, gemessen am Realitätsprinzip und mag es umgehen. Nie jedoch versucht durch ihn, so wie durchs Symptom, Subjektives anstelle der Realität wahnhaft sich zu substituieren. Ausdruck negiert die Realität, indem er ihr vorhält, was ihr nicht gleicht, aber er verleugnet sie nicht; er sieht dem Konflikt ins Auge, der im Symptom blind resultiert. Soviel bleibt dem Ausdruck mit der Verdrängung gemeinsam, daß in ihm die Regung durch die Realität blockiert sich findet. Jener Regung, und dem gesamten Ehrfahrungszusammenhang, dem sie zugehört, ist die unmittelbare Kommunikation mit dem Objekt verwehrt. Als Ausdruck kommt sie zur unverfälschten Erscheinung ihrer selbst und damit des Widerstandes, in sinnlicher Nachahmung. Sie ist so stark, daß ihr die Modifikation zum bloßen Bild, Preis des Überlebens, widerfährt, ohne sie auf dem Wege nach außen zu verstümmeln. Anstelle des Ziels wie der eigenen subjektiv zensorischen „Bearbeitung“ setzt sie die objektive: ihre polemische Offenbarung. Das unterscheidet sie von der Sublimierung: jeder gelungene Ausdruck des Subjekts, ließe sich sagen, ist ein kleiner Sieg über das Kräftespiel seiner eigenen Psychologie. Das Pathos von Kunst haftet daran, daß sie, gerade durch Zurücktreten in die Imagination, der Übermacht der Realität das Ihre gibt, und doch nicht zur Anpassung resigniert, nicht die Gewalt des Auswendigen in der Deformation des Inwendigen forsetzt. Die das vollbringen, haben dafür als Individuen ausnahmslos teuer zu zahlen, hilfslos  zurückgeblieben hinter dem eigenen Ausdruck, der ihrer Psychologie entrann. Damit aber wecken sie nicht weniger als ihre Produkte Zweifel an der Einordnung der Kunstwerke unter die kulturellen Leistungen ex definitione. Kein Kunstwerk kann, in der gesellschaftlichen Organisation, seiner  Zugehörigkeit zur Kultur sich entziehen, aber keines, das mehr als Kunstgewerbe ist, existiert, das nicht der Kultur die abweisende Geste zukehrte: daß etwas zum  Kunstwerk ward. Kunst ist so kunstfeindlich wie die Künstler. Im Verzicht aufs Triebziel hält sie diesem die Treue, die das gesellschaftlich Erwünschte demaskiert, welches Freud naiv als die Sublimierung verherrlicht, die es wahrscheinlich gar nicht gibt.

Theodor Wiesengrund Adorno

Samstag, 4. Juni 2011

Ich kannte einen Mann, der sah aus wie das Gerücht.

Das Gerücht ist grau und hat einen jugendlichen Gang, das Gerücht läuft und braucht dennoch zwanzig Jahre, um aus einem Zimmer ins andere zu kommen, wo es Dinge, die sich schon damals nicht ereignet haben, als Neuigkeiten auftischt. Das Gerücht verdichtet eine Hinrichtung, die abgesagt wurde, mit einer Frühgeburt, die nicht stattgefunden hat, pflanzt einen fremden Tonfall in das Mistbeet eigener Erfindung, hat mit eigenen Augen gehört, was niemand gesehen, und mit fremden Ohren gesehen, was niemand gehört hat. Das Gerücht hat eine profunde Stimme und eine hohe Miene. Es hat Phantasie ohne Persönlichkeit. Ist es ruhig, so sieht es aus, als ob das Problem der Entstehung der Septuaginta bereits gelöst wäre. Ist es bewegt, so muß man mit einer neuen Version über den bethlehemitischen Kindermord rechnen. Das Gerücht ist der ältere Stiefbruder der Wissenschaft und ein Schwippschwager der Information. Von den Veden bis zu den Kochbüchern ist ihm nichts Unverbürgtes fremd. Das Gerücht, welches nur tote Schriftsteller liebt, läßt auch den zeitgenössischen Autor gelten, sobald er antiquarisch zu haben ist, weil es dann einen Erstdruck mit einem Zweitdruck verwechseln kann. Das Gerücht hat den Humor, der sich aus der Distanz von den Tatsachen ergibt. Es entäuscht den, der an Gerüchte glaubt, und spielt dem, der an Gerüchte nicht glaubt, gern einen Possen. Es sagt etwas. Verleumdet’s, gehe man mit ihm nicht ins Gericht. Es taugt nicht zum Zeugen, es taugt nicht zum Angeklagten. Es leugnet sich selbst. Es weiß allerlei, es sagt noch mehr, aber es ist nicht verläßlich.

Karl Kraus

Freitag, 3. Juni 2011

Donnie Darko – Soundtrack # 1

INXS – Never Tear Us Apart
Giulio Caccini & Paul Pritchard – Ave Maria
Echo and The Bunnymen – The Killing Moon

Allégorie

C'est und femme belle et de riche encolure,
Qui laisse dans son vin traîner sa cheveleur.
Les griffes de l'amour, les poisson des tripot,
Tout glisse et tout s'émousse au granit de sa peau.
Elle rit à la Mort et nargue la Débauche,
Ces monstres dont le main, qui toujours gratte et fauche,
Dans ses jeux destructeurs a pourtant respecté
De ce corps ferme et droit la rude majesté.
Elle marche en déesse et repose en sultane;
Elle a dans le plaisir la foi mahométane,
Et dans ses bras ouverts, que remplissent ses seins,
Elle appelle des yeux la race des humains.
Elle croit, elle sait, cette vierge inféconde
Et pourtant nécessaire à la marche du monde,
Que la beauté du corps est un sublime don
Qui de toute infamie arrache le pardon.
Elle ignore l'ignore l'Enfer comme le Purgatoire,
Et quand l'heure viendra d'entrer dans la Nuit noire,
Elle regardera la face de la Mort,
Ainsi qu'un nouveau-né, – sans haine et sans remords.

Allegorie

Ein schönes Weib ist sie von üppiger Gestalt,
Im Weine schleift ihr Haar, das reich herniederwallt.
Der Kneipen Gifte und der Liebe Tatzen
Können die Haut aus Marmor nicht zerkratzen.
Sie höhnt den Tod, kein Laster kann sie schänden,
Von dieser Ungeheuer raffgierigen Händen,
Die ein zerstörerisches Spiel gewohnt,
Blieb ihres festen Leibes Majestät verschont.
Sultanin, wenn sie ruht, Göttin, wenn sie sich regt;
Den Glauben an die Lust wie ein Moslem sie hegt,
Die ganze Menschheit lockt ihr Auge unverhüllt
In ihre offenen Arme, die ihr Busen füllt.
Die unfruchtbare Jungfrau glaubt und denkt,
Da sie den Lauf der Welt gleichwohl beschenkt,
Daß, wer erhabene Leibesschönheit hat,
Verzeihung findet für die schlimmste Tat.
Sie kennt kein Fegefeuer, keine Höllenpein,
Führt ihre Stunde sie in schwarze Nacht hinein,
Wird sie des Todes Antlitz frei ins Auge fassen,
Wie neugeboren – ohne Reu und Hassen.

Charles Baudelaire, übersetzt von Monika Fahrenbach- Wachendorff

Mittwoch, 1. Juni 2011