Mittwoch, 21. Juli 2010

Jenseits von Gut und Böse

Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske.

Nietzsche

Donnerstag, 1. Juli 2010

Rasenbank.

- Das Verhältnis zu den Eltern beginnt traurig, schattenhaft sich zu verwandeln. Durch ihre ökonomische Ohnmacht haben sie ihre Schrecken verloren. Einmal rebellierten wir gegen ihre Insistenz auf dem Realitätsprinzip, die Nüchternheit, die stets bereit war, in Wut gegen den Nicht-Entsagenden umzuschlagen. Heute aber finden wir uns einer angeblich jungen Generation gegenüber, die in jeder ihrer Regungen unerträglich viel erwachsener ist, als je die Eltern es waren; die entsagt hat, schon ehe es zum Konflikt überhaupt kam, und daraus ihre Macht zieht, verbissen autoritär und unerschütterlich. Vielleicht hat man zu allen Zeiten die Generation der Eltern als harmlos und entmächtigt erfahren, wenn ihre physische Kraft nachließ, während die eigene selber schon von der Jugend bedroht schien: in der antagonistischen Gesellschaft ist auch das Generationsverhältnis eines von Konkurrenz, hinter der die nackte Gewalt steht. Heute aber beginnt es auf einen Zustand zu regredieren, der zwar keinen Ödipuskomplex kennt, aber den Vatermord. Es gehört zu den symbolischen Untaten der Nazis, uralte Leute umzubringen. In solchem Klima stellt ein spätes und wissendes Einverständnis mit den Eltern sich her, das von Verurteilten untereinander, gestört nur von der Angst, wir möchten, selber ohnmächtig, einmal nicht fähig sein, so gut für sie zu sorgen, wie sie für uns sorgten, als sie etwas besaßen. Die Gewalt, die ihnen angetan wird, macht die Gewalt vergessen, die sie übten. Noch ihre Rationalisierungen, die ehemals verhaßten Lügen, mit denen sie ihr partikulares Interesse als allgemeines zu rechtfertigen suchten, zeigen die Ahnung der Wahrheit an, den Drang zur Versöhnung des Konflikts, den die positive Nachkommenschaft fröhlich verleugnet. Noch der verblasene, inkonsequente und sich selbst mißtrauende Geist der Älteren ist eher ansprechbar als die gewitzigte Stupidität von Junior. Noch die neurotischen Absonderlichkeiten und Mißbildungen der alten Erwachsenen repräsentieren den Charakter, das menschlich Gelungene, verglichen mit der pathischen Gesundheit, dem zur Norm erhobenen Infantilismus. Mit Schrecken muß man einsehen, daß man oft früher schon, wenn man den Eltern opponierte, weil sie die Welt vertraten, insgeheim das Sprachrohr der schlechteren Welt gegen die schlechte war. Unpolitische Ausbruchsversuche aus der bürgerlichen Familie führen in deren Verstrickung meist nur um so tiefer hinein, und manchmal will es scheinen, als wäre die unselige Keimzelle der Gesellschaft, die Familie, zugleich auch die hegende Keimzelle des kompromißlosen Willens zur anderen. Mit der Familie zerging, während das System fortbesteht, nicht nur die wirksamste Agentur des Bürgertums, sondern der Widerstand, der das Individuum zwar unterdrückte, aber auch stärkte, wenn nicht gar hervorbrachte. Das Ende der Familie lähmt die Gegenkräfte. Die heraufziehende kollektivistische Ordnung ist der Hohn auf die ohne Klasse: im Bürger liquidiert sie zugleich die Utopie, die einmal von der Liebe der Mutter zehrte. 

Adorno, Minima Moralia, Seiten 22-23