Donnerstag, 29. Dezember 2011

Mittwoch, 28. Dezember 2011

Dienstag, 27. Dezember 2011

Die Begegnung (Bonjour Monsieur Courbet)

Gemälde von Gustave Courbet


(…)
Das Formieren hat aber nicht nur diese positive Bedeutung, daß das dienende Bewußtsein sich darin als reines Für-sich-sein zum Seienden wird; sondern auch die negative, gegen sein erstes Moment, die Furcht. Denn in dem Bilden des Dinges wird ihm die eigne Negativität, sein Für-sich-sein, nur dadurch zum Gegenstande, daß es die entgegengesetzte seiende Form aufhebt. Aber dies gegenständliche Negative ist gerade das fremde Wesen, vor welchem es gezittert hat. Nun aber zerstört es dies fremde Negative, setzt sich als ein solches in das Element des Bleibens; und wird hiedurch für sich selbst, ein für sich Seiendes. Im Herrn ist ihm das Für-sich-sein ein Anderes oder nur für es; in der Furcht ist das Für-sich-sein an ihm selbst; in dem Bilden wird das Für-sich-sein als sein eigenes für es, und es kömmt zum Bewußtsein, daß es selbst an und für sich ist. Die Form wird dadurch, daß sie hinausgesetzt wird, ihm nicht ein Anderes als es; denn eben sie ist sein reines Für-sich-sein, das ihm darin zur Wahrheit wird. Es wird also durch dies Wiederfinden seiner durch sich selbst eigner Sinn, gerade in der Arbeit, worin es nur fremder Sinn zu sein schien. – Es sind zu dieser Reflexion die beiden Momente der Furcht und des Dienstes überhaupt, sowie des Bildens notwendig, und zugleich beide auf eine allgemeine Weise. Ohne die Zucht des Dienstes und Gehorsams bleibt die Furcht beim Formellen stehen, und verbreitet sich nicht über die bewußte Wirklichkeit des Daseins. Ohne das Bilden bleibt die Furcht innerlich und stumm, und das Bewußtsein wird nicht für es selbst. Formiert das Bewußtsein ohne die erste absolute Furcht, so ist es nur ein eitler eigner Sinn; denn seine Form oder Negativität ist nicht die Negativität an sich; und sein Formieren kann ihm daher nicht das Bewußtsein seiner als des Wesens geben. Hat es nicht die absolute Furcht, sondern nur einige Angst ausgestanden, so ist das negative Wesen ihm ein äußerliches geblieben, seine Substanz ist von ihm nicht durch und durch angesteckt. Indem nicht alle Erfüllungen seines natürlichen Bewußtseins wankend geworden, gehört es an sich noch bestimmtem Sein an; der eigne Sinn ist Eigensinn, eine Freiheit, welche noch innerhalb der Knechtschaft stehenbleibt. So wenig ist sie, als Ausbreitung über das Einzelne betrachtet, allgemeines Bilden, absoluter Begriff, sondern eine Geschicklichkeit, welche nur über einiges, nicht über die allgemeine Macht und das ganze gegenständliche Wesen mächtig ist.

Hegel,
Auszug aus „Die Phänomenologie des Geistes – Kapitel 4: Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst 

Samstag, 24. Dezember 2011

Ampel-Pitch

Die Filmproduzentenlandschaft ist ja leider geprägt von dem Missverständnis, dass eine richtig schmissige Prämisse völlig ausreichend wäre für ein gutes Drehbuch und damit auch für einen guten Film. Deswegen werden die armen Drehbuchautoren immer häufiger gedrängt, ihre mühsam austarierten Dialoge gefälligst in der Schublade zu lassen und statt dessen in zehnminütigen Pitch-Sessions die Prämisse zu erzählen. Und da die Produzenten immer weniger Geld haben und weil Geld Zeit ist, wurden aus den zehn Minuten erst fünf, dann zwei, und inzwischen schwärmt man vom sogenannten »Fahrstuhl-Pitch« (vier Stockwerke müssen genügen für die Grundzüge der Geschichte) und dem »Putzfrauen-Pitch« (Produzenten erforschen das Zielgruppenpotential, indem sie einen Zweizeiler ihrer vom Leben frustrierten Putzfrau vorlesen). Fatalisten erwarten bereits den »Urinal-Pitch« (die Schlusspointe sollte beim Abschütteln erfolgen) und den »Ampel-Pitch« (das Zurufen von zwei bis drei Worten im Vorübergehen).

Daniel Bickermann

Mittwoch, 21. Dezember 2011

Montag, 19. Dezember 2011

Kinoglas

Unsere Richtung nennt sich „Kinoglas“ („Filmauge“). Wir, die wir für das Kinoglas kämpfen nennen uns „Kinoki“. Den Terminus Filmkunst nennen wir möglichst nicht, ebenso wie jede gebräuchliche oder zufällige Wortzusammensetzung. Deshalb benutzen unsere Gegner sie so gern.
Und wir haben viele Feinde. Anders geht es nicht. Das stört natürlich bei der Verwirklichung unserer Ideen, aber dafür stärkt es uns im Kampf und schärft die Gedanken.
Wir treten der künstlerischen Kinematographie entgegen, aber sie erweist sich uns hundertmal überlegen. Mit den Geld-Krümmeln, die vom Tisch der künstlerischen Kinematographie fallen, aber manchmal auch gänzlich ohne Mittel, bauen wir unseren bescheidenen Filmchen zusammen.
Der Kinoprawda wurden die Filmtheater verschlossen, aber sie konnte nicht aus dem öffentlichen Bewußtsein und aus dem Bewußtsein der unabhängigen Presse vertrieben werden. Die Kinoprawda erscheint unzweideutig als Wendepunkt in der Geschichte der russischen Kinematographie.
Erfolg oder Misserfolg dieses oder jenes unserer Filmwerke hat nur kommerzielle Bedeutung und ist nur wichtig für die Durchschlagskraft unserer Bestrebungen; einen Einfluß auf unsere Ideen werden sie nicht nehmen. Für uns sind unsere Filmarbeiten – ob sie nun gelungen sind oder nicht – gleich wertvoll, insofern sie die Idee des Kinoglas weiterführen und insofern alle 100 bis 200 Meter misslungener Aufnahmen für die nächsten – gelungenen – 200 Meter eine Lehre sind.
Die erste Serie von Kinoglas ist deshalb von den Kinoki sehr richtig Kinoglas tastet sich vorwärts genannt worden. Damit ist die Behutsamkeit der Filmkamera bei der Erkundung des Lebens gemeint, denn ihre Hauptaufgabe ist es nicht, sich im Chaos des Lebens zu verlieren, sondern sich in der Umgebung zurechtzufinden, in die sie geraten ist.
Die Aufgabe der folgenden Serien wird es sein, diese Erkundung des Lebens bis zu einem möglichen Maximum zu steigern, und die Aufmerksamkeit ununterbrochen im technischen Sinne zu vertiefen.
Alle Menschen sind in einem mehr oder weniger strengen Maße – Dichter, Maler, Musiker.
Oder es gibt überhaupt keine Dichter, Maler oder Musiker.
Schon der millionste Teil der Erfindungen, die jeder Mensch bei seiner alltäglichen Arbeit macht, schließt in sich bereits ein Element der Kunst ein, wenn es auch nicht mit diesem Namen belegt zu werden pflegt.
Wir ziehen die trockene Chronik dem konstruierten Szenarium vor, wenn wir über die Lebensgewohnheiten und die Arbeit der Menschen berichten. Wir mischen uns niemals in das Leben ein. Wir nehmen Fakten auf, organisieren sie und bringen sie über die Filmleinwand in das Bewußtsein der Arbeitenden. Wir berücksichtigen, was die Welt erklärt, was uns klar macht, wie sie ist – das ist unsere Hauptaufgabe.
Kinoglas stellte sich die Aufgabe, den ausgedehnten Kampf mit der bürgerlichen Kinematographie aufzunehmen, und wir bezweifeln sehr, daß es in der Folgezeit möglich sein wird, - ungeachtet der neuen weltpolitischen Situation – unserem revolutionären Ansturm ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen.
Eine andere Gefahr. Die Gefahr der Entstellung unserer Ideen. Gefährliche Surrogate und Gegenströmungen, die wir Seifenblasen aufquellen, bis sie, wie Seifenblasen, platzen.
Das ist die Aufgabe aller Arbeitenden – wachsam den einmal begonnen Kampf fortzusetzen, sich immer von Betrug fernzuhalten und nie die süßlichen Kopien mit den harten Originalen zu verwechseln

Aus dem Reglement der Kinoki

Allgemeine Hinweise für alle Aufnahmen: die Kamera ist unsichtbar.
1. Schnappschuß – alte Kriegsregel: Augenmaß, Geschwindigkeit, Abdrücken.
2. Aufnahme von einem öffentlichen Beobachtungsposten aus, der von Kinok-Beobachtern vorbereitet wurde. Geduld, absolute Stille, im geeigneten Moment – sofortiger Angriff.
3. Aufnahme vom verborgenen Beobachtungsposten aus. Geduld und absolute Aufmerksamkeit.
4. Aufnahme ohne naturalistische Gesichtspunkte.
5. Aufnahme ohne künstlerische Gesichtspunkte.
6. Aufnahme auf Entfernung.
7. Aufnahme von Bewegung.
8. Aufnahme von oben.

Dsiga Wertow, 1924

Animationen von David Firth

Sock 3: 10 Different Types of soup

Take This Pill

Tat twam asi

Ob ich ein Moos, einen Kristall, eine Blume, einen goldenen Käfer bewundere oder einen Wolkenhimmel, ein Meer mit den gelassen Riesen-Atemzügen seiner Dünungen, einen Schmetterlingsflügel mit der Ordnung seiner kristallenen Rippen, dem Schnitt und den farbigen Einfassungen seiner Ränder, der vielfältigen Schrift und Ornamentik seiner Zeichnung und unendlichen, süßen, zauberhaft gehauchten Übergängen und Abtönungen der Farben – jedesmal wenn ich mit dem Auge oder mit einem andern Körpersinn ein Stück Natur erlebe, wenn ich von ihm angezogen und bezaubert bin und mich seinem Dasein und seiner Offenbarung für einen Augenblick öffne, dann habe ich in diesem selben Augenblick die ganze habsüchtige blinde Welt der menschlichen Notdurft verlassen und vergessen, und statt zu denken oder zu befehlen, statt zu erwerben oder auszubeuten, zu bekämpfen oder zu organisieren, tue ich für diesen Augenblick nichts anderes als „erstaunen“ wie Goethe, und mit diesem Erstaunen bin ich nicht nur Goethes und aller andern Dichter und Weisen Bruder geworden, nein, ich bin auch der Bruder alles dessen, was ich bestaune und als lebendige Welt erlebe: des Falters, des Käfers, der Wolke, des Flusses und Gebirges, denn ich bin auf dem Weg des Erstaunens für einen Augenblick der Welt der Trennungen entlaufen und in die Welt der Einheit eingetreten, wo ein Ding und Geschöpf zum andern sagt: Tat twam asi. („Das bist Du.“)

Hermann Hesse

Mittwoch, 14. Dezember 2011

'Les Triplettes de Belleville' von Sylvain Chomet

Teil 1

Teil 2

Oh Dämonischer Wahnsinn

(...)
Und es entspricht doch wirklich nicht so ganz der Wahrheit, wenn da geredet wird: „Es ist selbstverständlich, dass sich ein Leidender sehr gern helfen lassen will, wenn ihm nur jemand helfen kann“ – das ist durchaus nicht so, auch wenn das Gegenteil nicht immer so verzweifelt ist wie hier. Die Sache ist die: Ein Leidender wünscht sich eine oder mehrere Arten, wie ihm geholfen werden könnte. Wenn ihm so geholfen werden wird, ja, dann lässt er sich gern helfen. Doch wenn es im tieferen Sinn Ernst mit dem Angebot der Hilfe wird, insbesondere wenn es dann von einem Höheren oder dem Höchsten kommt – diese Demütigung, dass man die Hilfe unbedingt und in jeder Art annehmen muss, dass man in der Hand des „Helfers“, für den alles möglich ist, gleichsam ein Nichts wird, oder nur, dass man sich einem anderen Menschen beugen muss, dass man, solange man Hilfe sucht, aufgeben muss, man selbst zu sein – oh, das ist gewiss ein großes, auch langwieriges und qualvolles Leiden, in dem das Selbst dennoch nicht so sehr vor Schmerzen stöhnt und das es daher, unter Wahrung dessen, es selbst zu sein, im Grunde vorzieht.
Doch je mehr Bewusstsein in einem solchen Leidenden ist, der verzweifelt er selbst sein will, umso mehr potenziert sich auch die Verzweiflung und wird das Dämonische. Dessen Ursprung ist häufig der: Ein Selbst, das verzweifelt es selbst sein will, stöhnt in dieser oder jener quälenden Beschwerlichkeit, die sich nun einmal nicht wegnehmen oder von seinem konkreten Selbst abtrennen lässt. Gerade auf diese Qual wirft er dann seine ganze Leidenschaft, die schließlich ein dämonisches Rasen wird. Wäre es nun so, dass Gott im Himmel und alle Engel ihm Hilfe dagegen anböten – nein, jetzt will er nicht, jetzt ist es zu spät, einmal hätte er gern alles dafür gegeben, um diese Qual loszuwerden, da ließ man ihn warten, jetzt ist die Zeit vorbei, jetzt will er lieber gegen alles rasen, will der von aller Welt, vom Dasein Benachteiligte sein, dem es gerade von Wichtigkeit ist, darauf zu achten, dass er seine Qual bei der Hand hat, dass niemand sie von ihm nimmt – denn sonst kann er doch nicht bezeugen und sich selbst davon überzeugen, dass er Recht hat. Das setzt sich am Ende in seinem Kopf so fest, dass er sich aus einem ganz eigenen Grund vor der Ewigkeit fürchtet – weil diese ihm nämlich seinen, dämonisch verstanden, unendlichen Vorzug vor anderen Menschen, seine, dämonisch verstanden, Berechtigung, der zu sein, der er ist, wegnehmen könnte. – Er selbst will er sein; angefangen hat er mit der unendlichen Abstraktion vom Selbst, jetzt ist er schließlich so konkret geworden, dass es ein Unmöglichkeit wäre, in diesem Sinn ewig zu werden, und doch will er verzweifelt er selbst sein. Oh, dämonischer Wahnsinn, er rast am heftigsten bei dem Gedanken daran, dass es der Ewigkeit einfallen könnte, ihm sein Elend wegzunehmen.
(…)
Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode

Dienstag, 13. Dezember 2011

das »abschätzende Thier an sich«

8.
Das Gefühl der Schuld, der persönlichen Verpflichtung, um den Gang unsrer Untersuchung wieder aufzunehmen, hat, wie wir sahen, seinen Ursprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältniss, das es giebt, gehabt, in dem Verhältniss zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: hier trat zuerst Person gegen Person, hier mass sich zuerst Person an Person. Man hat keinen noch so niedren Grad von Civilisation aufgefunden, in dem nicht schon Etwas von diesem Verhältnisse bemerkbar würde. Preise machen, Werthe abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen – das hat in einem solchen Maasse das allererste Denken des Menschen präoccupirt, dass es in einem gewissen Sinne das Denken ist: hier ist die älteste Art Scharfsinn herangezüchtet worden, hier möchte ebenfalls der erste Ansatz des menschlichen Stolzes, seines Vorrangs-Gefühls in Hinsicht auf anderes Gethier zu vermuthen sein. Vielleicht drückt noch unser Wort »Mensch« (manas) gerade etwas von diesem Selbstgefühl aus: der Mensch bezeichnete sich als das Wesen, welches Werthe misst, werthet und misst, als das »abschätzende Thier an sich«. Kauf und Verkauf, sammt ihrem psychologischen Zubehör, sind älter als selbst die Anfänge irgend welcher gesellschaftlichen Organisationsformen und Verbände: aus der rudimentärsten Form des Personen-Rechts hat sich vielmehr das keimende Gefühl von Tausch, Vertrag, Schuld, Recht, Verpflichtung, Ausgleich erst auf die gröbsten und anfänglichsten Gemeinschafts-Complexe (in deren Verhältniss zu ähnlichen Complexen) übertragen, zugleich mit der Gewohnheit, Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen. Das Auge war nun einmal für diese Perspektive eingestellt: und mit jener plumpen Consequenz, die dem schwerbeweglichen, aber dann unerbittlich in gleicher Richtung weitergehenden Denken der älteren Menschheit eigenthümlich ist, langte man alsbald bei der grossen Verallgemeinerung an »jedes Ding hat seinen Preis; Alles kann abgezahlt werden« – dem ältesten und naivsten Moral-Kanon der Gerechtigkeit, dem Anfange aller »Gutmüthigkeit«, aller »Billigkeit«, alles »guten Willens«, aller »Objektivität« auf Erden. Gerechtigkeit auf dieser ersten Stufe ist der gute Wille unter ungefähr Gleichmächtigen, sich mit einander abzufinden, sich durch einen Ausgleich wieder zu »verständigen« – und, in Bezug auf weniger Mächtige, diese unter sich zu einem Ausgleich zu zwingen. –

Nietzsche, Zur Genealogie der Moral

Montag, 12. Dezember 2011

Auszüge aus Lektüre für Minuten 2

Ich glaube: daß das an sich sinnlose und nichts als grausame Menschenleben dem einzelnen die Möglichkeit läßt, gegen hohen Einsatz es mit Sinn und Schönheit anzufüllen. Ich finde aber selten einen, der dazu nicht lächelt… [Man] flieht entweder in ein privates Vergessen oder Trauern oder rüstet sich zum Kampf, um Gewalt mit Gewalt zu erwidern und eine nächste große Zeit mit Kanonen und Gas vorzubereiten.

Jede Sehnsucht nach Beseelung des Lebens ist heute von den herrschenden Mächten verfemt.

Wir leben heute alle in Verzweiflung, alle wachen und leidensfähigen Menschen, und sind damit zwischen Gott und das Nichts gestellt. Zwischen ihnen atmen wir aus und ein, schwingen und pendeln. Wir hätten jeden Tag Lust, das Leben hinzuwerfen, und werden doch von dem Teil in uns gehalten, der überpersönlich ist. So wird unsere Schwäche, ohne daß wir darum Helden wären, zur Tapferkeit. Und wir retten ein wenig vom überlieferten Glauben für die Kommenden.

Herman Hesse

Freitag, 9. Dezember 2011

neue freie Zeit

Nicht genug daran, daß es eine Zeit gibt, gibt es auch eine große Zeit, die neuestens auch eine neue Zeit ist. Eine solche sollte doch eigentlich eine freie Zeit sein. Es dürfte sich aber herausstellen, daß sie wie die kleine Zeit und wie die alte Zeit nur eine neue freie Zeit ist.

Karl Kraus

Donnerstag, 8. Dezember 2011

...i...c...h...

Ich,
der sich,
in sich zurückzieht
um sein Selbst zu fassen,
sich nicht fassen kann,
nach Aussen drängt,
um sich fassen 
zu lassen

nicoosi

Battles - Ice Cream

neoneone

und alles schreit nach Renaissance!

Menschensuppe


von nicoosi
Collage, 41cm × 31cm

LCD Soundsystem - I Can Change

Madeleine - Auszug aus Combray

Die Terrasse von Vernon, Pierre Bonnard

Ebenso ist es mit unserer Vergangenheit. Vergebens versuchen wir sie wieder heraufzubeschwören, unser Geist bemüht sich umsonst. Sie verbirgt sich außerhalb seines Machtbereichs und unerkennbar für ihn in irgendeinem stofflichen Gegenstand (oder der Empfindung, die dieser Gegenstand in uns weckt); in welchem, ahnen wir nicht. Ob wir diesem Gegenstand aber vor unserem Tode begegnen oder nie auf ihn stoßen, hängt einzig vom Zufall ab.
Viele Jahre lang hatte von Combray außer dem, was der Schauplatz und das Drama meines Zubettgehens war, nichts für mich existiert, als meine Mutter an einem Wintertage, an dem ich durchfroren nach Hause kam, mir vorschlug, ich solle entgegen meiner Gewohnheit eine Tasse Tee zu mir nehmen. Ich lehnte erst ab, besann mich dann aber, ich weiß nicht warum, eines anderen. Sie ließ darauf eines jener dicken ovalen Sandtörtchen holen, die man 'Madeleine' nennt und die aussehen, als habe man als Form dafür die gefächerte Schale einer St.-Jakobs-Muschel benutzt. Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag und die Aussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, daß sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, aber darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart war. Woher kam sie mir? Was bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen? Ich trinke einen zweiten Schluck und finde nichts anderes darin als im ersten, dann einen dritten, der mir sogar etwas weniger davon schenkt als der vorige. Ich muß aufhören, denn die geheime Kraft des Trankes scheint nachzulassen. Es ist ganz offenbar, daß die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir. Er hat sie dort geweckt, aber er kennt sie nicht und kann nur auf unbestimmte Zeit und mit schon schwindender Stärke seine Aussage wiederholen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiß und die ich wenigstens wieder von neuem aus ihm herausfragen und unverfälscht zu meiner Verfügung haben möchte, um entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen. Ich setze die Tasse nieder und wende mich meinem Geiste zu. Er muß die Wahrheit finden. Doch wie? Eine schwere Ungewißheit tritt ein, so oft der Geist sich überfordert fühlt, wenn er, der Forscher, zugleich die dunkle Landschaft ist, in der er suchen soll und wo das ganze Gepäck, das er mitschleppt, keinen Wert für ihn hat. Suchen? Nicht nur das: Schaffen. Er steht vor einem Etwas, das noch nicht ist, und das doch nur er in seiner Wirklichkeit erfassen und dann in sein eigenes Licht rücken kann.
Wieder frage ich mich, was das für ein unbekannter Zustand sein mag, der keinen logischen Beweis, wohl aber den Augenschein eines Glückes mit sich führte, einer Wirklichkeit, der gegenüber alle andern verblassen. Ich will versuchen, ihn von neuem herbeizuführen. Ich durchlaufe rückwärts im Geiste den Weg bis zu dem Moment, wo ich den ersten Löffel voll Tee an den Mund geführt habe. Ich finde den gleichen Zustand wieder, doch von keinem neuen Licht erhellt. Ich verlange von meinem Geist das Bemühen, die fliehende Empfindung noch einmal wieder heraufzubeschwören. Und damit sein Schwung sich an keinem Hindernis brechen kann, räume ich alles hinweg, jeden fremden Gedanken, ich schirme mein Gehör und meine Aufmerksamkeit gegen alle Geräusche des Nebenzimmers ab. Dann aber, da ich fühle, wie mein Geist sich erfolglos abmattet, zwinge ich ihn umgekehrt zu jener Zerstreuung, die ich ihm vorenthalten wollte, lasse ihn an anderes denken und sich gleichsam erholen, bevor er noch einmal den Anlauf unternimmt. Dann schaffe ich ein zweites Mal völlige Leere um ihn,ich stelle ihm den noch ganz frischen Geschmack jenes ersten Schlucks gegenüber und spüre, wie etwas in mir sich zitternd regt und verschiebt, wie es sich zu erheben versucht, wie es in großer Tiefe den Anker gelichtet hat; ich weiß nicht, was es ist, doch langsam steigt es in mir empor; ich spüre dabei den Widerstand und höre das Rauschen und Raunen der durchmessenen Räume.
Sicherlich muß das, was so in meinem Inneren in Bewegung geraten ist, das Bild, die visuelle Erinnerung sein, die zu diesem Geschmack gehört und die nun versucht, mit jenem bis zu mir zu gelangen. Aber sie müht sich in zu großer Ferne und nur allzu schwach erkennbar ab; kaum nehme ich einen gestaltlosen Lichtschein wahr, in dem sich der ungreifbare Wirbel der Farben vermischt und verliert; aber ich kann die Form nicht unterscheiden, nicht von ihr als dem einzig möglichen Dragoman erbitten, daß sie mir die Aussage ihres Begleiters, ihres unzertrennlichen Gefährten, des Geschmacks übersetzt, sie nicht fragen, um welche Begebenheit, um welche Epoche der Vergangenheit es sich handeln mag.
Wird sie bis an die Oberfläche meines Bewußtseins gelangen, diese Erinnerung, jener Augenblick von einst, der, angezogen durch einen ihm gleichen Augenblick, von so weit her gekommen ist, um alles in mir zu wecken, in Bewegung zu bringen und wieder heraufzuführen? Ich weiß es nicht. Jetzt fühle ich nichts mehr, er ist zum Stillstand gekommen, vielleicht in die Tiefe geglitten; wer weiß, ob er jemals wieder aus seinem Dunkel emporsteigen wird? Zehnmal muß ich es wieder versuchen, mich zu ihm hinunterzubeugen. Und jedesmal rät mir die Trägheit, die uns von jeder schwierigen Aufgabe, von jeder bedeutenden Leistung fernhalten will, das Ganze auf sich beruhen zu lassen, meinen Tee zu trinken im ausschließlichen Gedanken an meine Kümmernisse von heute und meine Wünsche für morgen, die ich unaufhörlich und mühelos in mir bewegen kann.
Und dann mit einem Male war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tage vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging) sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte. Der Anblick jener Madeleine hatte mir nichts gesagt, bevor ich davon gekostet hatte; vielleicht kam das daher, daß ich dies Gebäck, ohne davon zu essen, oft auf den Tischen der Bäcker gesehen hatte und daß dadurch sein Bild sich von jenen Tagen in Combray losgelöst und mit anderen, späteren verbunden hatte; vielleicht auch daher, daß von jenen so lange aus dem Gedächtnis entschwundenen Erinnerungen nichts mehr da war, alles sich in nichts aufgelöst hatte: die Formen – darunter auch die dieser kleinen Muschel aus Kuchenteig, die so behäbig und sinnenfroh wirkt unter ihrem strengen, frommen Faltenkleid – waren versunken oder sie hatten, in tiefen Schlummer versenkt, jenen Auftrieb verloren, durch den sie ins Bewußtsein hätten emporsteigen können. Aber wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermeßliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen.

Marcel Proust

Montag, 5. Dezember 2011