Donnerstag, 31. März 2011

György Ligeti - Lux Aeterna

Key People.

 – Der Typus des Wichtigmachers, der nur dann etwas zu sein glaubt, wenn er bestätigt wird von der Rolle, die er in Kollektiven spielt, die keine sind, da sie ja bloß um der eigenen Kollektivität willen existieren; der Deputierte mit der Armbinde, der ergriffene Festredner, der den Schlußteil seiner mit gesundem Humor gewürzten Rede durch ein „Möge“ einleitet, die Wohltätigkeitshyäne und der Professor, der von einem Kongreß zum anderen eilt – sie alle reizten ehemals als naiv, provinziell und kleinbürgerlich zum Lachen. Unterdessen ward die Ähnlichkeit mit den Fliegenden Blättern abgestreift; das Prinzip aber hat tierisch ernst von den Karikaturen über die ganze Bürgerklasse sich ausgebreitet. Nicht genug, daß deren Mitglieder im Beruf durch Konkurrenz und Kooption der unablässigen gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen sind, wird auch ihr Privatleben absorbiert von den dinghaften Gebilden, zu denen die zwischenmenschlichen Beziehungen geronnen sind. Das hat vorab grob materielle Gründe: nur wer sein Einverständnis durch lobenswerten Dienst an der Gemeinschaft, wie sie ist, durch Eintritt in eine anerkannte Gruppe, und wären es die zu Kegelbrüdern degenerierten Freimaurer, kundgibt, empfängt das Vertrauen, das sich im Fang von Kunden und Klienten und in der Besetzung von Pfründen auszahlt. Der substantial citizen qualifiziert sich nicht allein durch Bankguthaben, ja nicht einmal durch den Tribut an seine Organisationen, er muß sein Herzblut spenden und die freien Stunden, die ihm vom Raubgeschäft übrig bleiben, als Vorsitzender oder Schatzmeister der Komitees zubringen, in die es ihn halb zog, während er halb hinsank. Keine Hoffnung ist ihm gelassen als der obligate Nachruf im Vereinsblättchen, wenn ihn sein Herzschlag ereilt. Wer nirgends Mitglied ist, macht sich verdächtig: bei der Naturalisation wird ausdrücklich verlangt, daß man seine Vereine aufführe. Das aber, rationalisiert als Bereitschaft des Individuums, seines Egoismus sich zu entschlagen und dem Ganzen sich zu weihen, das doch nichts ist als die universale Vergegenständlichung des Egoismus, wird von den Verhaltensweisen des Menschen zurückgespiegelt. Ohnmächtig in der überwältigenden Sozietät. erfährt der Einzelne sich selber nur noch als gesellschaftlich vermittelt. Die von Menschen gemachten Institutionen werden so zusätzlich fetischisiert: indem die Subjekte sich einzig als Exponenten der Institutionen wissen, nahmen diese den Charakter des Gottgewollten an. Man fühlt sich bis ins Mark als Arztfrau, als Mitglied einer Fakultät, als chairman of the commitee of religious experts – ich habe davon einmal einen Schurken öffentlich reden hören, und keiner hat gelacht –, so wie man vorzeiten als Teil einer Familie oder eines Stammes sich mag gefühlt haben. Man wird im Bewußtsein nochmals, was man im Sein ohnehin ist. Gegenüber der Illusion der an sich seienden und unabhängigen Persönlichkeit inmitten der Warengesellschaft ist solches Bewußtsein die Wahrheit. Sie sind wirklich nur noch Arztfrau, Fakultätsmitglied und religiöser Experte. Aber die negative Wahrheit wird zur Lüge als Positivität. Je weniger funktionellen Sinn mehr die gesellschaftliche Arbeitsteilung hat, um so sturer klammern die Subjekte sich an das, wozu die gesellschaftliche Fatalität sie bestimmt hat. Entfremdung wird zur Nähe, Entmenschlichung zur Humanität, die Auslöschung des Subjekts zu seiner Bestätigung. Die Sozialisierung der Menschen heute verewigt ihre Asozialität, während doch auch der Asoziale sich nicht schmeicheln darf, er wäre ein Mensch.

Adorno, Anhang Minima Moralia

Dienstag, 29. März 2011

Das unentbehrliche Nichts

Wenn ich nur ein Telephon habe, der Wald wird sich finden! Ohne Telephon kann man nur deshalb nicht leben, weil es das Telephon gibt. Ohne Wald wird man nicht leben können, auch wenn's längst keinen Wald mehr geben wird. Dies gilt für die Menschheit. Wer über ihren Idealen lebt, wird doch ein Sklave ihrer Bedürfnisse sein und leichter Ersatz für den Wald als für das Telephon finden. Die Phantasie hat ein Surrogat an der Technik gefunden; die Technik ist ein Surrogat, für das es keines gibt. Die Anderen, die nicht den Wald, wohl aber das Telephon in sich haben, werden daran verarmen, daß es außen keine Wälder gibt. Die gibt es nicht, weil es innen und außen Telephone gibt. Aber weil es sie gibt, kann man ohne sie nicht leben. Denn die technischen Dinge hängen mit dem Geist so zusammen, daß eine Leere entsteht, weil sie da sind, und ein Vakuum, wenn sie nicht da sind. Was sich innerhalb der Zeit begibt, ist das unentbehrliche Nichts.

Karl Kraus

O Mensch! Gib acht!

Alle Lust will aller Dinge Ewigkeit, will Honig, will Hefe, will trunkene Mitternacht, will Gräber, will Gräber- Tränen- Trost, will vergüldetes Abendrot –
was will nicht Lust! sie ist durstiger, herzlicher, hungriger, schrecklicher, heimlicher als alles Weh, sie will sich, sie beißt in sich, des Ringes Wille ringt in ihr, –
– sie will Liebe, sie will Haß, sie ist überreich, schenkt, wirft weg, bettelt, daß einer sie nimmt, dankt dem Nehmenden, sie möchte gern gehaßt sein, –
– so reich ist Lust, daß sie nach Wehe durstet, nach Hölle, nach Haß, nach Schmach, nach dem Krüppel, nach Welt, – denn diese Welt, o ihr kennt sie ja!
Ihr höheren Menschen, nach euch sehnt sie sich, die Lust, die unbändige, selige – nach eurem Weh, ihr Mißratenen! Nach Mißratenem sehnt sich alle ewige Lust.
Denn alle Lust will sich selber, drum will sie auch Herzeleid! O Glück, o Schmerz! Oh brich, Herz! Ihr höheren Menschen, lernt es doch, Lust will Ewigkeit,
– Lust will aller Dinge Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!
Lerntet ihr nun mein Lied? Errietet ihr, was es will? Wohlan! Wohlauf! Ihr höheren Menschen, so singt mir nun meinen Rundgesang!
Singt mir nun selber das Lied, des Name ist `Noch einmal´, des Sinn ist `in alle Ewigkeit!´ – singt, ihr höheren Menschen, Zarathustras Rundgesang!

O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
„Ich schlief, ich schlief –,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh –,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –,
 – will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ 


Nietzsche, Also sprach Zarathustra

Montag, 28. März 2011

Waiting To Be Changed - Atlas Sound (Quarantined)

ICH: fünfunzwanzig Bände, achtzehntausend Textseiten, dreihundert...

Der Zufall hat mich Mensch werden lassen, die Hochherzigkeit würde mich zum Buch machen; ich würde mein Schwatzen, mein Bewusstsein in Bronzelettern umgießen, ich würde das Lärmen meines Lebens zu Inschriften transformieren, die nicht vergehen, ich würde mein Fleisch in Stil verwandeln, die schwammigen Zeitspiralen in Ewigkeit, ich würde vor dem Heiligen Geist als Niederschlag der Sprache erscheinen, würde mich mit Hartnäckigkeit der Menschengattung aufdrängen: ich würde endlich anders werden, anders als ich, anders als die anderen, anders als alles. Zuerst würde ich mir einen unzerstörbaren Leib geben, und dann würde ich mich den Verbrauchern überliefern. Ich würde nicht schreiben aus Freude am Schreiben, sondern um diesen unsterblichen Teil in Wörter zu verwandeln.
Schaute ich von der Höhe meines Grabmales hinab, so erschien mir meine Geburt als ein notwendiges Übel, als eine ganz vorläufige Fleischwerdung, dazu bestimmt, meine Verklärung vorzubereiten: um wiedergeboren zu werden, muß man schreiben, zum Schreiben braucht man ein Gehirn, Augen, Arme; war die Arbeit beendet, fielen diese Organe in sich zusammen: ungefähr um das Jahr 1955 würde ein Kokon aufplatzen, fünfundzwanzig Schmetterlinge in Buchformat würden davonflattern, mit ihren Seiten schlagen und sich schließlich auf einem Regal der Nationalbibliothek niederlassen. Diese Schmetterlinge wären nichts anderes als ICH. ICH: fünfunzwanzig Bände, achtzehntausend Textseiten, dreihundert Abbildungen, darunter das Bildnis des Verfassers. Meine Knochen sind aus Leder und Pappe, mein Papierfleisch riecht nach Kleister und Druckerschwärze, behaglich türme ich mich auf mit sechzig Kilo Papier. Ich erlebe eine Wiedergeburt, ich werde endlich ein ganzer Mensch, der denkt, spricht, singt, donnert, sich bestätigt mit der gebieterischen Trägheit der Materie. Man nimmt mich, man öffnet mich, man legt mich auf den Tisch, man glättet mich mit der flachen Hand, wobei ich manchmal knacke. Ich lasse es mit mir machen, und plötzlich blitze ich, blende ich, setze ich mich auf Distanz durch, plötzlich durchdringen meine Kräfte den Raum und die Zeit, schmettern die Bösen zu Boden und schützen die Guten. Keiner kann mich vergessen oder totschweigen: ich bin ein großer, praktikabler und schrecklicher Fetisch. Mein Bewußtsein ist zerbröckelt: um so besser: Andere Bewußtseine haben mich in sich aufgenommen, man liest mich, ich setze mich durch; man spricht mich, ich bin in aller Munde als universelle und einzigartige Sprache; aus Millionen Augen schaue ich als neugierige Voraussicht; für den, der mich zu lieben weiß, bin ich seine geheimste Unruhe, will er mich aber berühren, so entziehe ich mich und verschwinde; ich existiere nirgends mehr, ich bin, endlich! Ich bin überall: Ungeziefer der Menschheit, meine Wohltaten fressen an ihr und zwingen sie unablässig, meiner Abwesenheit zu gedenken.

Sartre, Die Wörter

Samstag, 26. März 2011

Anekdote über Dalí

Salvador Dalí, Sohn eines Notars aus Figueras in Katalonien, kam drei Jahre nach mir in die Residenz. Er wollte an der Kunstakademie studieren, und wir nannten ihn, ich weiß nicht mehr warum, "den techechoslowakischen Maler".
Eines Morgens ging ich durch einen Flur der Residenz und sah durch die offene Tür in sein Zimmer. Ich sah, wie er dabei war, ein großes Porträt zu beenden, das mir sehr gut gefiel. Sofort berichtete ich Lorca und den anderen: "Der techechoslowakische Maler hat gerade ein sehr schönes Porträt gemalt."
Alle begaben sich in sein Zimmer, bewunderten das Bild, und Dalí wurde in die Gruppe aufgenommen. Genauer gesagt, er wurde neben Federico mein bester Freund. Wir drei trennten uns kaum noch, vor allem, weil Lorca von einer richtigen Leidenschaft zu Dalí ergriffen wurde, die diesen aber nicht beeindruckte. 
Er war ein schüchterner junger Mann mit einer lauten, tiefen Stimme und langem, aber gepflegtem Haar, der im Alltag nur schwer zurechtkam und höchst merkwürdig gekleidet war: Er trug einen sehr breiten Hut, ein riesiges, zur Schleife gebundenes Halstuch, eine lange, bis zu den Knien herabhängende Jacke und dazu Wickelgamaschen. Man hätte meinen können, er wollte mit seiner Kleidung provozieren, aber dem war nicht so. Er kleidete sich so, weil es ihm gefiel – was die Leute aber manchmal nicht davon abhielt, ihn auf der Straße anzupöbeln.
Er schrieb auch Gedichte, die veröffentlicht wurden.
Ganz jung noch, um 1926 oder 1927, stellte er mit anderen Malern wie Peinado und Viñes in Madrid aus. Als er im Juni beim Examen in der Akademie zur mündlichen Prüfung vor den Professoren Platz nehmen sollte, rief er plötzlich aus:
"Ich gestehe niemandem das Recht zu, mich zu beurteilen. Ich gehe."
Und er ging wirklich. Sein Vater kam aus Katalonien nach Madrid, um die Sache mit den Direktoren der Akademie wieder in Ordnung zu bringen. Aber vergebens, Dalí wurde der Akademie verwiesen.

Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer

Freitag, 25. März 2011

Über Tradition, Kapitel 1

Tradition kommt von tradere, weitergeben. Gedacht ist an den Generationszusammenhang, an das, was von Glied zu Glied sich vererbt; wohl auch an handwerkliche Überlieferung. Im Bild des Weitergebens wird leibhafte Nähe, Unmittelbarkeit ausgedrückt, eine Hand soll es von der anderen empfangen. Solche Unmittelbarkeit ist die mehr oder minder naturwüchsiger Verhältnisse etwa familialer Art. Die Kategorie Tradition ist wesentlich feudal, so wie Sombart die feudale Wirtschaft traditionalistisch nannte. Tradition steht im Widerspruch zur Rationalität, obwohl diese in jener sich bildete. Nicht Bewußtsein ist ihr Medium, sondern vorgegebene, unreflektierte Verbindlichkeit sozialer Formen, die Gegenwart des Vergangenen; das hat unwillkürlich auf Geistiges sich übertragen. Mit bürgerlicher Gesellschaft ist Tradition strengen Sinnes unvereinbar. Das Prinzip des Tauschs von Äquivalenten hat, als das der Leistung, das der Familie zwar nicht abgeschafft. Doch es hat die Familie sich untergeordnet. Die in kurzen Abständen sich wiederholenden Inflationen weisen aus, wie sinnfällig anachronistisch die Idee des Erbes wurde, und das geistige war nicht krisenfester. Jene Unmittelbarkeit des Von-Hand-zu-Hand ist in den sprachlichen Ausdrücken für Tradition bloßer Rückstand im gesellschaftlichen Getriebe universaler Vermittlung, in dem der Warencharakter der Dinge herrscht. Längst hat die Technik die Hand, die sie schuf und die sich in ihr verlängert, vergessen lassen. Angesichts der technischen Produktionsweisen ist Handwerk so wenig mehr substantiell, wie etwa der Begriff der handwerklichen Lehre noch gilt, die für Tradition, und gerade auch die ästhetische, sorgte. In einem radikal bürgerlichen Land wie Amerika wurde daraus allseitig die Konsequenz gezogen. Tradition sei verdächtig oder Importartikel mit vermeintlichem Seltenheitswert. Die Abwesenheit traditioneller Momente drüben, und der Ehrfahrungen, die mit ihnen verbunden sind, verhindert ein Bewußtsein zeitlicher Kontinuität. Was nicht heut und hier als gesellschaftlich nützlich auf dem Markt sich ausweist, gilt nicht und wird vergessen. Noch wenn einer stirbt, ist es so gut, als wäre es nie gewesen, und er so absolut ersetzlich wie alles Funktionale; unersetzlich ist nur das Funktionslose. Daher die verzweifelten und archaistischen Einbalsamierungsrituale. Sie möchten den Verlust des Zeitbewußtseins magisch bannen, der doch im gesellschaftlichen Verhältnis selber gründet. In all dem ist Europa nicht Amerika voran, das dort Tradition lernen könnte, sondern folgt Amerika nach, und dazu bedarf es keineswegs der Nachahmung. Die vielfach in Deutschland bemerkte Krise jeglichen historischen Bewußtseins, bis zur blanken Unkenntnis des noch nicht einmal allzu lang Vergangenen, ist einzig Symptom eines tragenden Sachverhalts. Offenbar zerfällt für die Menschen der Zusammenhang der Zeit. Daß diese philosophisch so beliebt ward, bezeugt, daß Zeit aus dem Geist der Lebendigen sich verflüchtigt; der italienische Philosoph Enrico Castelli hat das in einem Buch behandelt. Auf den Traditionsverlust reagiert die gegenwärtige Kunst insgesamt. Sie hat die traditional verbürgte Selbstverständlichkeit ihres Verhältnisses zum Objekt, zum Material, und die ihrer Verfahrungsweisen verloren und muß diese in sich reflektieren. Das Ausgehöhlte, Fiktive der traditionalen Momente wird gefühlt, und die bedeutenden Künstler schlagen es wie Gips mit dem Hammer weg. Was immer als Intention der Sachlichkeit sich bezeichnen läßt, hat den traditionsfeindlichen Impuls. Darüber zu klagen, Tradition als heilsam zu empfehlen, ist ohnmächtig und widerspricht deren eigenem Wesen. Zweckrationalität, die Erwägung, wie gut es in einer angeblich oder wahrhaft entformten Welt wäre, Tradition zu besitzen, kann nicht verordnen, was von Zweckrationalität kassiert ist.

Adorno, Prismen ohne Leitbild

Klaus Kinski und der Schmetterling

Mittwoch, 23. März 2011

Emo Cowboys - 5-Second Films

Trauermantel, Tagpfauenauge und Zitronenfalter

Ich habe beobachtet, daß die Schmetterlinge aussterben. Oder werden sie nur von den Kindern gesehen? Als ich zehn Jahre alt war, verkehrte ich auf den Wiesen von Weidlingau ausschließlich mit Admiralen. Ich kann sagen, daß es der stolzeste Umgang meines Lebens war. Auch Trauermantel, Tagpfauenauge und Zitronenfalter machten einem das junge Leben farbig. Vanessa Io, Vanessa cardui — Vanitas Vanitatum! Als ich nach manchem Jahr wiederkam, waren sie alle verschwunden. Die Mittagssonne dröhnte wie ehedem, aber kein Farbenschimmer war sichtbar, dafür lagen Fetzen von Zeitungen auf der Wiese. Später erfuhr ich. daß man das Holz der Wälder zur Herstellung des Druckpapiers gebraucht hatte, und daß bei der Fülle der Informationen die Schmetterlinge im Übersatz bleiben mußten. Ein Freund unseres Blattes sendet uns den letzten Schmetterling, und einer unserer Mitarbeiter hatte Gelegenheit, ihn auf die Feder zu spießen und nach den Ursachen seiner Vereinsamung zu fragen. Die Welt flieht vor den Farben der Persönlichkeit, man schützt sich, indem man sich organisiert. Nur die Schmetterlinge haben es unterlassen, sich zu organisieren. So kam es, daß an den Blumenkelchen jetzt Redakteure nippen, schillernde Feuilletonisten. Selbst die eintönigen Kohlweißlinge, mit denen der Journalismus wegen einer gewissen Verwandtschaft noch am ehesten hätte paktieren können, mußten weichen. Der Vernichtungskampf gegen die Flieger bezeichnet den Triumph der Zeitungskultur. Falter und Frauen, Schönheit und Geist, Natur und Kunst bekommen es zu spüren, daß ein Sonntagsblatt hundertfünfzig Seiten hat. Mit Fliegenprackern schlägt die Menschheit nach den Schmetterlingen. Wischt sich den farbigen Staub von den Fingern. Denn sie müssen rein sein, um Druckerschwärze anzurühren.

Karl Kraus

Sonntag, 20. März 2011

Primo Levi - Ist das ein Mensch?


Ihr, die ihr gesichert lebet
In behaglicher Wohnung;
Ihr, die ihr abends beim Heimkehren
Warme Speise findet und vertraute Gesichter:
Denket, ob dies ein Mensch sei,
Der schuftet im Schlamm,
Der Frieden nicht kennt,
Der kämpft um ein halbes Brot,
Der stirbt auf ein Ja oder Nein.
Denket, ob dies eine Frau sei,
Die kein Haar mehr hat und keinen Namen,
Die zum Erinnern keine Kraft mehr hat,
Leer die Augen und kalt ihr Schoß
Wie im Winter die Kröte.
Denket, daß solches gewesen.
Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen.
Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet
In einem Hause, wenn ihr geht auf euren Wegen,
Wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht;
Ihr sollt sie einschärfen euren Kindern.
Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen,
Krankheit soll euch niederringen,
Eure Kinder sollen das Antlitz von euch wenden.


Die Phantasie kriecht wie eine Postkutsche

Die maschinelle Entwicklung kommt nur der Persönlichkeit zunutze, die über die Hindernisse des äußeren Lebens schneller zu sich selbst gelangt. Aber ihrer Hypertrophie sind die Gehirne des Durchschnitts nicht gewachsen. Von der Verwüstung, die die Druckerpresse anrichtet, kann man sich heute noch gar keine Vorstellung machen. Das Luftschiff wird erfunden und die Phantasie kriecht wie eine Postkutsche. Automobil, Telephon und die Riesenauflagen des Stumpfsinns – wer kann sagen, wie die Gehirne der zweitnächsten Generation beschaffen sein werden? Die Abziehung von der Naturquelle, die die Maschine bewirkt, die Verdrängung des Lebens durch das Lesen und die Absorbierung aller Kunstmöglichkeit durch den Tatsachengeist werden verblüffend rasch ihr Werk vollendet haben. Nur in diesem Sinne möchte das heranbrechen einer Eiszeit verstanden sein. Man lasse inzwischen alle soziale Politik gewähren, an ihren kleinen Aufgaben sich bestätigen; lasse sie mit Volksbildung und sonstigen Surrogaten und Opiaten wirtschaften. Zeitvertreib bis zur Auflösung. Die Dinge haben eine Entwicklung genommen, für die in historisch feststellbaren Epochen kein Beispiel ist. Wer das nicht in jedem Nerv spürt, mag getrost die gemütliche Einteilung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit fortsetzen. Mit einem Mal wird man gewahren, daß es nicht weiter geht. Denn die neueste Zeit hat mit der Herstellung neuer Maschinen zum Betrieb einer alten Ethik begonnen. In den letzten dreißig Jahren ist mehr geschehen, als vorher in dreihundert. Und eines Tages wird sich die Menschheit für die großen Werke, die sie zu ihrer Erleichterung geschaffen hat, aufgeopfert haben.

Karl Kraus

Die Grauzone - Auszug

Freitag, 18. März 2011

Aus dem Nebel ins Erstarren

Es mag sein, daß  es den meisten Menschen eine Annehmlichkeit und Unterstützung bedeutet, die Welt bis auf ein paar persönliche Kleinigkeiten fertig vorzufinden, und es soll in keiner Weise in Zweifel gezogen werden, daß das im Ganzen Beharrende nicht nur konservativ, sondern auch das Fundament aller Fortschritte und Revolutionen ist, obgleich von einem tiefen, schattenhaften Unbehagen gesprochen werden muß, das auf eigene Faust lebende Menschen dabei empfinden. Es drang Ulrich, während er mit vollem Verständnis für die architektonische Feinheit das heilige Bauwerk betrachtete, überraschend lebhaft ins Bewußtsein, daß man genau so leicht Menschen fressen könnte, wie solche Sehenswürdigkeiten zu bauen oder stehen zu lassen. Die Häuser daneben, die Himmelsdecke darüber, überhaupt eine unaussprechliche Übereinstimmung in allen Linien und Räumen, die den Blick aufnahmen und leiteten, das Aussehen und der Ausdruck der Leute, die unten vorbeigingen, ihre Bücher und ihre Moral, die Bäume auf der Straße…: das alles ist ja manchmal so steif wie spanische Wände und so hart wie der geschnittene Stempel einer Presse und so – man kann gar nicht anders sagen als vollständig, so vollständig und fertig, dass man ein überflüssiger Nebel daneben ist, ein ausgestoßener kleiner Atemzug, um den sich Gott weiter nicht kümmert. In diesem Augenblick wünschte er es sich, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein. Aber so ganz unähnlich ist das wohl überhaupt bei niemandem. Im Grunde wissen in den Jahren der Lebensmitte wenig Menschen mehr, wie sie eigentlich zu sich selbst gekommen sind, zu ihren Vergnügungen, ihrer Weltanschauung, ihrer Frau, ihrem Charakter, Beruf und ihren Erfolgen, aber sie haben das Gefühl, daß sich nun nicht mehr viel ändern kann. Es ließe sich sogar behaupten, daß sie betrogen worden seien, denn man kann nirgends einen zureichenden Grund dafür entdecken, daß alles gerade so kam, wie es gekommen ist; es hätte auch anders kommen können; die Ereignisse sind ja zum wenigsten von ihnen selbst ausgegangen, meistens hingen sie von allerhand Umständen ab, von der Laune, dem Leben, dem Tod ganz anderer Menschen, und sind gleichsam bloß im gegebenen Zeitpunkt auf sie zugeeilt. So lag in der Jugend das Leben noch wie ein unerschöpflicher Morgen vor ihnen, nach allen Seiten voll von Möglichkeit und Nichts, und schon am Mittag ist mit einemmal etwas da, das beanspruchen darf, nun ihr Leben zu sein, und das ist im ganzen doch so überraschend, wie wenn eines Tages plötzlich ein Mensch dasitzt, mit dem man zwanzig Jahre korrespondiert hat, ohne ihn zu kennen, und man hat ihn sich ganz anders vorgestellt. Noch viel sonderbarer aber ist es, daß die meisten Menschen das gar nicht bemerken; sie adoptieren den Mann, der zu ihnen gekommen ist, dessen Leben sich in sie eingelebt hat, seine Erlebnisse erscheinen ihnen jetzt als der Ausdruck ihrer Eigenschaften, und sein Schicksal ist ihr Verdienst oder Unglück. Es ist etwas mit ihnen umgegangen wie ein Fliegenpapier mit einer Fliege; es hat sie da an einem Härchen, dort in ihrer Bewegung festgehalten und hat sie allmählich eingewickelt, bis sie in einem dicken Überzug begraben liegen, der ihrer ursprünglichen Form nur ganz entfernt entspricht. Und sie denken dann nur noch unklar an die Jugend, wo etwas wie eine Gegenkraft in ihnen gewesen ist. Diese andere Kraft zerrt und schwirrt, sie will nirgends bleiben und löst einen Sturm von ziellosen Fluchtbewegungen aus; der Spott der Jugend, ihre Auflehnung gegen das Bestehende, die Bereitschaft der Jugend zu allem, was heroisch ist, zu Selbstaufopferung und Verbrechen, ihr feuriger Ernst und ihre Unbeständigkeit, – alles das bedeutet nichts als ihre Fluchtbewegungen. Im Grunde drücken diese bloß aus, daß nichts von allem, was der junge Mensch unternimmt, aus dem Innern heraus notwendig und eindeutig erscheint, wenn sie es auch in der Weise ausdrücken, als ob alles, worauf er sich gerade stürzt, überaus unaufschiebbar und notwendig wäre. Irgend jemand erfindet einen schönen neuen Gestus, einen äußeren oder einen inneren – Wie übersetzt man das? Eine Lebensgebärde? Eine Form, in die das Innere strömt wie das Gas in einen Gasballon? Einen Ausdruck des Indrucks? Eine Technik des Seins? Es kann ein neuer Schnurrbart sein oder ein neuer Gedanke. Es ist Schauspielerei, aber hat wie alle Schauspielerei natürlich einen Sinn – und augenblicklich stürzen, wie die Spatzen von den Dächern, wenn man Futter streut, die jungen Seelen darauf zu. Man braucht es sich ja bloß vorzustellen: wenn außen eine schwere Welt auf Zunge, Händen und Augen liegt, der erkaltete Mond aus Erde, Häusern, Sitten, Bildern und Büchern, – und innen ist nichts wie ein haltlos beweglicher Nebel: welches Glück es bedeuten muß, sobald einer einen Ausdruck vormacht, in dem man sich selbst zu erkennen vermeint. Ist irgend etwas natürlicher, als daß jeder leidenschaftliche Mensch sich noch vor den gewöhnlichen Menschen dieser neuen Form bemächtigt?! Sie schenkt ihm den Augenblick des Seins, des Spannungsgleichgewichtes zwischen innen und außen, zwischen Zerpreßtwerden und Zerfliegen. Auf nichts anderem beruht – dachte Ulrich, und natürlich berührte ihn alles das auch persönlich; er hatte die Hände in den Taschen, und sein Gesicht sah so still und schlafend glücklich aus, als stürbe er in den Sonnenstrahlen, die hineinwirbelten, einen milden Erfrierungstod – auf nichts anderem, dachte er, beruht also auch die immerwährende Erscheinung, die man neue Generation, Väter und Söhne, geistige Umwälzung, Stilwechsel, Entwicklung, Mode und Erneuerung nennt. Was diese Renoviersucht des Daseins zu einem Perpetuum mobile macht, ist nichts als das Ungemach, daß zwischen dem nebelhaften eigenen und dem schon zur fremden Schale erstarrten Ich der Vorgänger wieder nur ein Schein- Ich, eine ungefähr passende Gruppenseele eingeschoben wird. Und wenn man bloß ein bißchen achtgibt, kann man wohl immer in der soeben eingetroffenen letzten Zukunft schon die kommende Alte Zeit sehen. Die neuen Ideen sind dann bloß um dreißig Jahre älter, aber befriedigt und ein wenig fettüberpolstert oder überlebt, so ähnlich wie man neben den schimmernden Gesichtszügen eines Mädchens das erloschene Gesicht der Mutter erblickt; oder sie haben keinen Erfolg gehabt, sind abgezehrt und zu einem Reformvorschlag eingeschrumpft, den ein alter Narr verficht, der von seinen fünfzig Bewunderern der große Soundso genannt wird.
Er blieb nun wieder stehen, diesmal auf einem Platz, wo er einige Häuser erkannte und sich an die öffentlichen Kämpfe und geistigen Aufregungen erinnerte, die ihr Entstehen begleitet hatten. Er gedachte seiner Jugendfreunde; alle waren sie seine Jugendfreunde gewesen, ob er sie persönlich kannte oder nur dem Namen nach, ob sie alt waren wie er oder älter, die Rebellen, die neue Dinge und Menschen auf die Welt bringen wollten, und ob das hier war oder über alle Orte verstreut, die er kennengelernt hatte. Jetzt standen diese Häuser wie brave Tanten mit altmodischen Hüten in dem Spätnachmittagslicht, das schon zu verblassen begann, ganz nett und belanglos und alles andere eher als aufregend. Es lockte, zu lächeln. Aber die Leute, die diese anspruchslos gewordenen Reste zurückgelassen hatten, waren inzwischen Professoren, Berühmtheiten und Namen, ein bekannter Teil der bekannten fortschrittlichen Entwicklung geworden, sie waren auf einem mehr oder weniger kurzen Weg aus dem Nebel ins Erstarren gelangt, und deshalb wird die Geschichte von ihnen gelegentlich der Schilderung ihres Jahrhunderts einst melden: Anwesend waren…

Robert Musil, Mann ohne Eigenschaften, Auszug Kapitel 34

Mittwoch, 16. März 2011

Armer Teufel

Wenn man dem Teufel, dem der Krieg seit jeher eine reine Passion war, erzählt hätte, daß es einmal Menschen geben werde, die an der Fortsetzung des Krieges ein geschäftliches Interesse haben, das zu verheimlichen sie sich nicht einmal Mühe geben und dessen Ertrag ihnen noch zu gesellschaftlicher Geltung verhilft – so hätte er einen aufgefordert, es seiner Großmutter zu erzählen. Dann aber, wenn er sich von der Tatsache überzeugt hätte, wäre die Hölle vor Scham erglüht und er hätte erkennen müssen, daß er sein Lebtag ein armer Teufel gewesen sei!

Karl Kraus

Dienstag, 15. März 2011

Einmal etwas anderes sein

Newton hat die Farben zu scheiden gewusst; wie wird der Psycholog heißen, der uns sagen wird, woraus die Ursachen unsrer Handlungen zusammengesetzt sind? Die meisten Dinge, wenn sie uns merklich werden, sind schon zu groß, ob ich den Keim in der Eichel mit dem Mikroskop oder den 200jährigen Baum mit bloßen Augen ansehe, so bin ich gleich weit vom Anfang. Das Mikroskop dient nur, uns noch mehr zu verwirren. Soweit wir mit unsern Tubis reichen können, sehen wir Sonnen, um die sich wahrscheinlich Planeten drehen; daß in unsrer Erde so etwas vorgeht, davon überführt uns die Magnetnadel. Wie wenn sich dieses noch weiter erstreckte, wenn sich in dem kleinsten Sandkörnchen ebenso Stäubchen um Stäubchen drehten, die uns so zu ruhen scheinen wie die Fixsterne? Es könnte ein Wesen geben, dem das uns sichtbare Weltgebäude wie ein glühender Sandhaufen vorkäme. Die Milchstraße kann ein organischer Teil sein, inwiefern ließe sich die Vegetation aus diesem System erklären? Es gibt nur eine einzige grade Linie, aber eine unendliche Menge krummer; wenn sich also ein Körper bewegt, so läßt sich eine unendliche Summe gegen eins setzen, daß es eine krumme sei, und für jede Krümmung läßt sich ein Mittelpunkt angeben. Da sich eine zirkelförmige Bewegung in der Welt am längsten erhält, wie wir an den Planeten sehen, sowohl an ihren Bewegungen um die Achse als um die Sonne und Hauptplaneten, so könnte alle Bewegung in der Welt daher ihren Ursprung nehmen. Das Licht allein scheint hiervon eine Ausnahme zu machen, da es aber vermutlich schwer ist, so wird es doch gebogen. Da schon große Meßkünstler angenommen haben, daß sich dieses ganze System um einen uns unsichtbaren Körper drehe, warum könnte unsere Erdkugel nicht ein solches System von Fixsternen sein? Hier sitzen wir in einer solchen Sandkugel. Unsere Erde ist uns freilich das sonderbarste, so wie unsere Seele die sonderbarste Substanz, weil wir jene allein selbst bewohnen und diese allein selbst sind. Wenn wir nur einen Augenblick einmal etwas anderes sein könnten. Was würde aus unserm Verstand werden, wenn alle Gegenstände das würklich wären, wofür wir sie halten?

Georg Christoph Lichtenberg

Dialektik des Fortschritts

(…)
Wer sich in Erinnerung an den Untergang der Titanic demütigzufrieden die Hände reibt, weil der Eisberg dem Fortschrittsgedanken den ersten Stoß versetzt habe, vergißt oder unterschlägt, daß der im übrigen keineswegs schicksalhafte Unglücksfall Maßnahmen veranlaßte, welche ungeplante Naturkatastrophen der Schiffahrt im folgenden halben Jahrhundert verhüten. Ein Stück Dialektik des Fortschritts ist, daß die geschichtlichen Rückschläge, die selbst vom Fortschrittsprinzip angezettelt werden – was wäre fortschrittlicher als der Wettstreit ums Blaue Band? –, auch die Bedingung dafür beistellen, daß die Menschheit Mittel findet, sie in Zukunft zu vermeiden. Der Verblendungszusammenhang des Fortschritts treibt über sich selbst hinaus. Vermittelt zu jener Ordnung, an der die Kategorie des Fortschritts erst ihr Recht gewönne, ist er darin, daß die Verwüstungen, die der Fortschritt anrichtet, allenfalls mit dessen eigenen Kräften wieder gutzumachen sind, niemals durch die Wiederherstellung des älteren Zustands, der sein Opfer ward.
(…)

Adorno, Fortschritt

Montag, 14. März 2011

Chad VanGaalen - Clinically Dead

Lonely Crowd

(...)
Ich sagte, jene Menschen seien in einer besonderen Weise kalt. Wohl sind ein paar Worte über Kälte überhaupt erlaubt. Wäre sie nicht ein Grundzug der Anthropologie, also der Beschaffenheit der Menschen, wie sie in unserer Gesellschaft tatsächlich sind; wären sie also nicht zutiefst gleichgültig gegen das, was mit allen anderen geschieht außer den paar, mit denen sie eng und womöglich durch handgreifliche Interessen verbunden sind, so wäre Auschwitz nicht möglich gewesen, die Menschen hätten es dann nicht hingenommen. Die Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Gestalt - und wohl seit Jahrtausenden - beruht nicht, wie seit Aristoteles ideologisch unterstellt wurde, auf Anziehung, auf Attraktion, sondern auf der Verfolgung des je eigenen Interesses gegen die Interessen aller anderen. Das hat im Charakter der Menschen bis in ihr Innerstes hinein sich niedergeschlagen. Was dem widerspricht, der Herdentrieb der so genannten lonely crowd, der einsamen Menge, ist eine Reaktion darauf, ein Sich-Zusammenrotten von Erkalteten, die die eigene Kälte nicht ertragen, aber auch nicht sie ändern können. Jeder Mensch heute, ohne jede Ausnahme, fühlt sich zuwenig geliebt, weil jeder zuwenig lieben kann. Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, dass so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können. Was man so "Mitläufertum" nennt, war primär Geschäftsinteresse: dass man seinen eigenen Vorteil vor allem anderen und, um nur ja nicht sich zu gefährden, sich nicht den Mund verbrennt. Das ist ein allgemeines Gesetz des Bestehenden. Das Schweigen unter dem Terror war nur dessen Konsequenz. Die Kälte der gesellschaftlichen Monade, des isolierten Konkurrenten, war als Indifferenz gegen das Schicksal der anderen die Voraussetzung dafür, dass nur ganz wenige sich regten. Das wissen die Folterknechte; auch darauf machen sie stets erneut die Probe.
Verstehen sie mich nicht falsch. Ich möchte nicht die Liebe predigen. Sie zu predigen, halte ich für vergeblich: keiner hätte auch nur das Recht, sie zu predigen, weil der Mangel an Liebe - ich sagte es schon - ein Mangel aller Menschen ist ohne Ausnahme, so wie sie heute existieren. Liebe predigen, setzt in denen, an die man sich wendet, bereits eine andere Charakterstruktur voraus als die, welche man verändern will. Denn die Menschen, die man lieben soll, sind ja selber so, dass sie nicht lieben können, und darum ihrerseits keineswegs so liebenswert. Es war einer der großen, mit dem Dogma nicht unmittelbar identischen Impuls des Christentums, die alles durchdringende Kälte zu tilgen. Aber dieser Versuch scheiterte; wohl darum, weil er nicht an die gesellschaftliche Ordnung rührte, welche die Kälte produziert und reproduziert. Wahrscheinlich ist jene Wärme unter den Menschen, nach der alle sich sehnen, außer in kurzen Perioden und ganz kleinen Gruppen, mag sein auch unter manchen friedlichen wilden, bis heute überhaupt noch nicht gewesen. Die viel geschmähten Utopisten haben das gesehen. So hat Charles Fourier die Attraktion als ein durch menschenwürdige gesellschaftliche Ordnung erst herzustellendes bestimmt; auch erkannt, dass dieser Zustand nur möglich sei, wenn die Triebe der Menschen nicht länger unterdrückt sind, sondern erfüllt und freigegeben. Wenn irgend etwas helfen kann gegen Kälte als Bedingung des Unheils, dann die Einsicht in ihre eigenen Bedingungen und der Versuch, vorwegnehmend im individuellen Bereich diesen ihren Bedingungen entgegenzuarbeiten. Man möchte meinen, je weniger in der Kindheit versagt wird, je besser Kinder behandelt werden, umso mehr Chance sei. Aber auch hier drohen Illusionen. Kinder, die gar nichts von der Grausamkeit und Härte des Lebens ahnen, sind, einmal aus dem Geschützten entlassen, erst recht der Barbarei ausgesetzt. Vor allem aber kann man Eltern, die selber Produkte dieser Gesellschaft sind und ihre Male tragen, zur Wärme nicht animieren. Die Aufforderung, den Kindern mehr Wärme zu geben, dreht die Wärme künstlich an und negiert sie dadurch. Überdies lässt sich in beruflich vermittelten Verhältnissen wie dem von Lehrer und Schüler, von Arzt und Patient, von Anwalt und Klient Liebe nicht fordern. Sie ist ein Unmittelbares und widerspricht wesentlich vermittelten Beziehungen. Der Zuspruch zur Liebe - womöglich in der imperativischen Form, dass man es soll - ist selber Bestandstück der Ideologie, welche die Kälte verewigt. Ihm eignet das Zwangshafte, Unterdrückende, das der Liebesfähigkeit entgegenwirkt. Das erste wäre darum, der Kälte zum Bewusstsein ihrer selbst zu verhelfen, der Gründe, warum sie wurde.
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Adorno, Erziehung nach Auschwitz

Trail of Dead - A Perfect Teenhood

Sonntag, 13. März 2011

Freitag, 11. März 2011

In dieser großen Zeit

In dieser großen Zeit, die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich  organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muß, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht – ; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, daß sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Mißdeutung bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Unglück. In den Reichen der Phantasiearmut, wo der Mensch an seelischer Hungersnot stirbt, ohne den seelischen Hunger zu spüren, wo Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte, muß das, was nicht gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur gedacht wird, unaussprechlich. Erwarten sie von mir kein eigenes Wort. Weder vermöchte ich ein neues zu sagen; denn im Zimmer, wo einer schreibt, ist der Lärm so groß, und ob er von Tieren kommt, von Kindern oder nur von Mörsern, man soll es jetzt nicht entscheiden. Wer Taten zuspricht, schändet Wort und Tat und ist zweimal verächtlich. Der Beruf dazu ist nicht ausgestorben. Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!

Karl Kraus

Donnerstag, 10. März 2011

Mittwoch, 9. März 2011

Eschers Wasserfall

Der destruktive Charakter

Es könnte einem geschehen, daß er, beim Rückblick auf sein Leben, zu der Erkenntnis käme, fast alle tieferen Bindungen, die er in ihm erlitten habe, seien von Menschen ausgegangen, über deren „destruktiven Charakter“ alle Leute sich einig waren. Er würde eines Tages, vielleicht zufällig, auf diese Tatsache stoßen, und je härter der Chock ist, der ihm so versetzt wird, desto größer sind damit seine Chancen für eine Darstellung des destruktiven Charakters.

Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß.
Der destruktive Charakter ist jung und heiter. Denn zerstören verjüngt, weil es die Spuren unseres eigenen Alters aus dem Weg räumt; es heitert auf, weil jedes Wegschaffen dem Zerstörenden eine vollkommene Reduktion, ja Radizierung seines eignen Zustands bedeutet. Zu solchem appollinischen Zerstörerbilde führt erst recht die Einsicht, wie ungeheuer sich die Welt vereinfacht, wenn sie auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft wird. Dies ist das große Band, das alles Bestehende einträchtig umschlingt. Das ist ein Anblick, der dem destruktiven Charakter ein Schauspiel tiefster Harmonie verschafft.
Der destruktive Charakter ist immer frisch bei der Arbeit. Die Natur ist es, die ihm das Tempo vorschreibt, indirekt wenigstens: denn er muß ihr zuvorkommen. Sonst wird sie selber die Zerstörung übernehmen.
Dem destruktiven Charakter schwebt kein Bild vor. Er hat wenig Bedürfnisse, und das wäre sein geringstes: zu wissen, was an Stelle des Zerstörten tritt. Zunächst, für einen Augenblick zumindest, der leere Raum, der Platz, wo das Ding gestanden, das Opfer gelebt hat. Es wird sich schon einer finden, der ihn braucht ohne ihn einzunehmen.
Der destruktive Charakter tut seine Arbeit, er vermeidet nur schöpferische. So wie der Schöpfer Einsamkeit sich sucht, muß der Zerstörende fortdauernd sich mit Leuten, mit Zeugen seiner Wirksamkeit umgeben.
Der destruktive Charakter ist ein Signal. So wie ein trigonometrisches Zeichen von allen Seiten dem Winde, ist er von allen Seiten dem Gerede ausgesetzt. Dagegen ihn zu schützen ist sinnlos. Der destruktive Charakter ist gar nicht daran interessiert, verstanden zu werden. Bemühungen in dieser Richtung betrachtet er als oberflächlich. Das Mißverstandenwerden kann ihm nichts anhaben. Im Gegenteil, er fordert es heraus, wie die Orakel, diese destruktiven Staatseinrichtungen, es herausgefordert haben. Das kleinbürgerlichste aller Phänomene, der Klatsch, kommt nur zustande, weil die Leute nicht missverstanden werden wollen. Der destruktive Charakter läßt sich missverstehen; er fördert den Klatsch nicht.
Der destruktive Charakter ist der Feind des Etui-Menschen. Der Etui-Mensch sucht seine Bequemlichkeit, und das Gehäuse ist ihr Inbegriff. Das Innere des Gehäuses ist die mit Samt ausgeschlagene Spur, die er in die Welt gedrückt hat. Der destruktive Charakter verwischt sogar die Spuren der Zerstörung.
Der destruktive Charakter steht in der Front der Traditionalisierung. Einige überliefern die Dinge, indem sie sie unantastbar machen und konservieren, andere die Situationen, indem sie sie handlich machen und liquidieren. Diese nennt man die Destruktiven.
Der destruktive Charakter hat das Bewußtsein des historischen Menschen, dessen Grundaffekt ein unbezwingliches Mißtrauen in den Gang der Dinge und die Bereitwilligkeit ist, mit der er jederzeit davon Notiz nimmt, daß alles schief gehen kann. Daher ist der destruktive Charakter die Zuverlässigkeit selbst.
Der destruktive Charakter sieht nichts Dauerndes. Aber eben darum sieht er überall Wege. Wo andere auf Mauern oder Gebirge stoßen, auch da sieht er einen Weg. Weil er aber überall einen Weg sieht, hat er auch überall aus dem Weg zu räumen. Nicht immer mit roher Gewalt, bisweilen mit veredelter. Weil er überall Wege sieht, steht er selber immer am Kreuzweg. Kein Augenblick kann wissen, was der nächste bringt. Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie hindurchzieht.
Der destruktive Charakter lebt nicht aus dem Gefühl, daß das Leben lebenswert sei, sondern daß der Selbstmord die Mühe nicht lohnt.

Walter Benjamin

Sonntag, 6. März 2011

Das ozeanische Gefühl

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Auf solche Art löst sich also das Ich von der Außenwelt. Richtiger gesagt: Ursprünglich enthält das Ich alles, später scheidet es eine Außenwelt von sich ab. Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weitumfassenderen, ja, - eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach. Wenn wir annehmen dürfen, daß dieses primäre Ichgefühl sich im Seelenleben vieler Menschen - in größerem oder geringerem Ausmaße - erhalten hat, so würde es sich dem enger und schärfer umgrenzten Ichgefühl der Reifezeit wie eine Art Gegenstück an die Seite stellen, und die zu ihm passenden Vorstellungsinhalte wären gerade die der Unbegrenztheit und Verbundenheit mit dem All, dieselben, mit denen mein Freund das "ozeanische" Gefühl erläutert. Haben wir aber ein Recht zur Annahme des Überlebens des Ursprünglichen neben dem Späteren, das aus ihm geworden ist?
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Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur

Mittwoch, 2. März 2011