Montag, 30. Mai 2011

Der Mann ohne Eigenschaften - 1. Absatz

Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.

Robert Musil

Kunst...

reflektierte Reflexionen eines zerbrochenen Spiegels

Sonntag, 29. Mai 2011

Donnerstag, 26. Mai 2011

aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück

Aber das Gedicht spricht ja! Es bleibt seiner Daten eingedenk, aber – es spricht. Gewiß, es spricht immer nur in seiner eigensten, allereigensten Sache.
Aber ich denke – und dieser Gedanke kann Sie jetzt kaum überraschen –, ich denke, daß es von jeher zu den Hoffnungen des Gedichts gehört, gerade auf diese Weise auch in fremder – nein, dieses Wort kann ich jetzt nicht mehr gebrauchen –, gerade auf diese Weise in eines Anderen Sache zu sprechen – wer weiß, vielleicht in eines ganz Anderen Sache.
Dieses "wer weiß", zu dem ich mich jetzt gelangen sehe, ist das einzige, was ich den alten Hoffnungen von mir aus auch heute und hier hinzufügen vermag.
Vielleicht, so muß ich mir jetzt sagen, – vielleicht ist sogar ein Zusammentreffen dieses "ganz Anderen" – ich gebrauche hier ein bekanntes Hilfswort – mit einem nicht allzu fernen, einem ganz nahen "anderen" denkbar – immer und wieder denkbar.
Das Gedicht verweilt oder verhofft – ein auf die Kreatur zu beziehendes Wort – bei solchen Gedanken.
Niemand kann sagen, wie lange die Atempause – das Verhoffen und der Gedanke – noch fortwährt. Das " Geschwinde" , das schon immer "draußen" war, hat an Geschwindigkeit gewonnen; das Gedicht weiß das; aber es hält unentwegt auf jenes "Andere" zu, das es sich als erreichbar, als freizusetzen, als vakant vielleicht, und dabei ihm, dem Gedicht – sagen wir: wie Lucile – zugewandt denkt.

Gewiß, das Gedicht – das Gedicht heute – zeigt, und das hat, glaube ich, denn doch nur mittelbar mit den – nicht zu unterschätzenden – Schwierigkeiten der Wortwahl, dem rapideren Gefälle der Syntax oder dem wacheren Sinn für die Ellipse zu tun, – das Gedicht zeigt, das ist unverkennbar, eine starke Neigung zum Verstummen.
Es behaupte sich – erlauben Sie mir, nach so vielen extremen Formulierungen, nun auch diese –, das Gedicht behauptet sich am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück.

Dieses Immer-noch kann doch wohl nur ein Sprechen sein.
Also nicht Sprache schlechthin und vermutlich auch nicht erst vom Wort her "Entsprechung".
Sondern aktualisierte Sprache, freigesetzt unter dem Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache gezogenen Grenzen, der ihr von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation.
Dieses Immer-noch des Gedichts kann ja wohl nur in dem Gedicht dessen zu finden sei, der nicht vergißt, daß er unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit spricht.
Dann wäre das Gedicht – deutlicher noch als bisher – gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen, – und seinem innersten Wesen nach Gegenwart und Präsenz.

Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben.
Aber steht das Gedicht nicht gerade dadurch, also schon hier, in der Begegnung – im Geheimnis der Begegnung?

Paul Celan

Mittwoch, 25. Mai 2011

unsere Persönlichkeit ist eine geistige Schöpfung der andern

Zweifellos war der Swann, den zur selben Zeit so viele Mitglieder der vornehmsten Pariser Clubs kannten, ein ganz anderer als der, den meine Großtante sich schuf, wenn sie des Abends, in dem kleinen Garten von Combray, sobald das Glöckchen seine beiden zögernden Schläge getan hatte, diese dunkle undeutliche Gestalt, die sich, von meiner Großmutter gefolgt, aus einem finstern Hintergrund ablöste, und die man an der Stimme erkannte, mit all dem, was sie über die Familie Swann wußte, anfüllte und für ihren Gebrauch erst zum Leben erweckte. Aber selbst hinsichtlich der unscheinbarsten Dinge des täglichen Lebens bilden wir keine einheitliche Substanz heraus, die für alle gleich ist, so daß jeder nur davon Kenntnis zu nehmen braucht wie von einem Frachtbrief oder einem Testament; unsere Persönlichkeit ist eine geistige Schöpfung der andern. Selbst das Sehen eines Bekannten, dieser so einfache Vorgang, bedeutet zum Teil eine geistige Aktivität. Wir statten die physische Erscheinung des Menschen, den wir sehen, mit all den Vorstellungen aus, die wir von ihm haben, und in dem Gesamtbild, das wir uns machen, spielen diese Vorstellungen sicherlich die Hauptrolle. Sie füllen schließlich so vollkommen die Wangen aus, sie halten sich so eng an die Linie der Nase, sie verstehen es so gut, dem Klange der Stimme eine Nuance zu geben, als ob sie nur eine durchsichtige Hülle wäre, daß es jedesmal, wenn wir dieses Gesicht sehen und diese Stimme hören, eben jene Vorstellungen sind, die wir wiederfinden und auf die wir horchen.

Marcel Proust, Combray

Dienstag, 24. Mai 2011

Montag, 23. Mai 2011

The Rakes - Binary Love

Gedicht von Paul Celan

Mutter, Mutter.

Der Luft entrissne,
der Erde entrissne.

Herunter-,
Herauf-
gezerrte.

Vor die Messer
schreiben sie dich,
kulturflott, linksnibelungisch, mit
dem Filz-
schreiber, auf Teakholztischen, anti-
restaurativ, proto-
kolarisch, prä-
zise, in der neu und gerecht
zu verteilenden Un-
menschlichkeit Namen,
meisterlich, deutsch,
mannschmannsch, nicht
ab-, nein wiesen-
gründig,
schreiben sie, die
Aber-Maligen, dich
vor
die
Messer.

Etwas tun,
etwas
tun
in der Höhe, der
Tiefe.
Etwas, auf Erden.

Freitag, 20. Mai 2011

A Lecture upon the Shadow


 Stand still, and I will read to thee
 A lecture, Love, in Love's philosophy.
     These three hours that we have spent,
     Walking here, two shadows went
 Along with us, which we ourselves produced.
 But, now the sun is just above our head,
     We do those shadows tread,
     And to brave clearness all things are reduced.
 So whilst our infant loves did grow,
 Disguises did, and shadows, flow
 From us and our cares ; but now 'tis not so.

 That love hath not attain'd the highest degree,
 Which is still diligent lest others see.

 Except our loves at this noon stay,
 We shall new shadows make the other way.
     As the first were made to blind
     Others, these which come behind
 Will work upon ourselves, and blind our eyes.
 If our loves faint, and westerwardly decline,
     To me thou, falsely, thine
     And I to thee mine actions shall disguise.
 The morning shadows wear away,
 But these grow longer all the day ;
 But O ! love's day is short, if love decay.

 Love is a growing, or full constant light,
 And his short minute, after noon, is night.


John Donne

Donnerstag, 19. Mai 2011

Was ist passiert?

Darf ich dir sagen, was ich unter Moral verstehe?

Ulrich behauptete, die Erfindung der "Gefühlssache" habe der Sache des Gefühls den schlechtesten Dienst erwiesen, der ihr je geleistet worden sei, und als er es unternahm, seiner Schwester den abenteuerlichen Eindruck zu erklären, den dieser Abend in ihm weckte, kam er darauf in einer Weise zu sprechen, die ohne seinen Willen das am Morgen abgebrochene Gespräch fortsetzte und es wahrscheinlich rechtfertigen sollte. "Ich weiß freilich nicht," sagte er "womit ich anfangen soll, ohne dich zu langweilen. Darf ich dir sagen, was ich unter Moral verstehe?"
"Bitte" erwiderte Agathe.
"Moral ist Regelung des Verhaltens innerhalb einer Gesellschaft, vornehmlich aber schon die seiner inneren Antriebe, also der Gefühle und Gedanken."
"Das ist ein großer Fortschritt in wenigen Stunden!" entgegnete Agathe lachend. "Heute morgen hast du noch gesagt, du wissest nicht, was Moral sei!"
"Natürlich weiß ich es nicht. Trotzdem kann ich dir ja ein Dutzend Erklärungen geben. Die älteste ist, daß Gott uns die Ordnung des Lebens in allen ihren Einzelheiten geoffenbart hat –"
"Das wäre die schönste!" Sagte Agathe.
"Die wahrscheinlichste ist aber," betonte Ulrich "daß Moral wie alle andere Ordnung durch Zwang und Gewalt entsteht! Eine zur Herrschaft gelangte Gruppe von Menschen auferlegt den anderen einfach die Vorschriften und Grundsätze, durch die sie ihre Herrschaft sichert. Gleichzeitig hängt sie aber an denen, die sie selbst groß gemacht haben. Gleichzeitig wirkt sie damit als Beispiel. Gleichzeitig wird sie durch Rückwirkungen verändert: das ist natürlich verwickelter als man es in Kürze beschreiben könnte, und weil es keineswegs ohne Geist vor sich geht, aber auch keineswegs durch den Geist, sondern durch die Praxis, ergibt es schließlich ein unübersehbares Geflecht, das sich scheinbar so unabhängig wie Gottes Himmel über allem spannt. Nun bezieht sich alles auf diesen Kreis, aber dieser Kreis bezieht sich auf nichts. Mit andern Worten: alles ist moralisch, aber die Moral selbst ist nicht moralisch! –"
"Das ist reizend von ihr" sagte Agathe. "Aber weißt du, daß ich heute einen guten Menschen gefunden habe?"
(...)

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Zweites Buch, Kapitel 38

Mittwoch, 18. Mai 2011

Kunst heißt nicht:

Alternativen pointieren, sondern, durch nichts anderes als ihre Gestalt, dem Weltlauf widerstehen, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt.

Adorno

The Langley Schools Music Project – Space Oddity

Montag, 16. Mai 2011

Titicut Follies

Das zweckmäßige Gute

Ein anderes berühmtes Gebot ist: Liebe deinen Nächsten als dich selbst. Es ist an den Einzelnen im Verhältnisse zu den Einzelnen gerichtet, und behauptet es als ein Verhältnis des Einzelnen zum Einzelnen, oder als Verhältnis der Empfindung. Die tätige Liebe – denn eine untätige hat kein Sein und ist darum wohl nicht gemeint – geht darauf, Übel von einem Menschen abzusondern und ihm Gutes zuzufügen. Zu diesem Behuf muß unterschieden werden, was an ihm das Übel, was gegen dies Übel das zweckmäßige Gute, und was überhaupt sein Wohl ist; das heißt, ich muß ihn mit Verstand lieben; unverständige Liebe wird ihm schaden, vielleicht mehr als Haß.

Hegel, Phänomenologie des Geistes

Sonntag, 15. Mai 2011

Samstag, 14. Mai 2011

Mittwoch, 11. Mai 2011

Dienstag, 10. Mai 2011

Ein Wesen ist der Mensch, das nicht ohne Begeisterung auskommen kann

Von den Eingebungen der ungewöhnlichen Menschen bis zum völkerverbindenden Kitsch bildet das, was Ulrich die moralische Phantasie nannte, oder einfacher das Gefühl, eine einzige, jahrhundertealte Gärung ohne Ausgärung. Ein Wesen ist der Mensch, das nicht ohne Begeisterung auskommen kann. Und Begeisterung ist der Zustand, worin alle seine Gefühle und Gedanken den gleichen Geist haben. Du meinst, beinahe im Gegenteil, sie sei der Zustand, wenn ein Gefühl übermächtig stark sei, ein einziges, das – Hingerissensein! – die anderen zu sich hinreißt? Nein, du hast darüber gar nichts sagen wollen? Immerhin es ist so. Es ist auch so. Aber die Stärke einer solchen Begeisterung ist ohne Halt. Dauer gewinnen die Gefühle und Gedanken nur an einander, in ihrem Ganzen, sie müssen irgendwie gleichgerichtet sein und sich gegenseitig mitreißen. Und mit allen Mitteln, mit Rauschmitteln, Einbildungen, Suggestion, Glauben, Überzeugung, oft auch nur mit Hilfe der vereinfachenden Wirkung der Dummheit, trachtet ja der Mensch, einen Zustand zu schaffen, der dem ähnlich ist. Er glaubt an Ideen, nicht weil sie manchmal wahr sind, sondern weil er glauben muß. Weil er seine Affekte in Ordnung halten muß. Weil er durch eine Täuschung das Loch zwischen seinen Lebenswänden verstopfen muß, durch das seine Gefühle sonst in alle vier Winde gingen. Das richtige wäre wohl, statt sich vergänglichen Scheinzuständen hinzugeben, die Bedingungen der echten Begeisterung wenigstens zu suchen. Aber obwohl alles in allem die Zahl der Entscheidungen, die vom Gefühl abhängen, unendlich viel größer ist als die jener, die sich mit der blanken Vernunft treffen lassen, und alle die Menschheit bewegenden Ereignisse aus der Phantasie entstehen, erweisen sich nur die Verstandesfragen überpersönlich geordnet, und für das andere ist nichts geschehn, was den Namen einer gemeinsamen Anstrengung verdiente oder auch nur die Einsicht in ihre verzweifelte Notwendigkeit andeutete:
Ungefähr so sprach Ulrich, unter begreiflichen Protesten des Generals.

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Auszug Kapitel 38, Zweites Buch

Bildung

(...) Denn Bildung ist eben das, wofür es keine richtigen Bräuche gibt; sie ist zu erwerben nur durch spontane Anstrengung und Interesse, nicht garantiert allein durch Kurse, und wären es auch solche vom Typus des Studium generale. Ja, in Wahrheit fällt sie nicht einmal Anstrengung zu, sondern der Aufgeschlossenheit, der Fähigkeit, überhaupt etwas Geistiges an sich herankommen zu lassen und es produktiv ins eigene Bewußtsein aufzunehmen, anstatt, wie ein unerträgliches Cliché lautet, damit, bloß lernend, sich auseinanderzusetzen. Fürchtete ich nicht das Mißverständnis der Sentimentalität, so würde ich sagen, zur Bildung bedürfe es der Liebe; der Defekt ist wohl einer der Liebesfähigkeit. Anweisungen, wie das zu ändern sei, sind prekär; es wird darüber meist in einer frühen Phase der Kindheitsentwicklung entschieden. Aber wem es daran gebricht, der sollte kaum andere Menschen unterrichten. Er wird nicht nur jenes Leiden in der Schule perpetuieren, das die Dichter vor sechzig Jahren anklagten, und das man, wahrscheinlich zu Unrecht, für längst beseitigt hält, sondern der Defekt wird sich in den Schülern fortsetzen und ad infinitum jenen geistigen Zustand zeitigen, den ich nicht für unschuldige Naivität halte, sondern der mitverantwortlich war am Unheil des Nationalsozialismus.
(...)

Adorno, Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit

Debussy/Walter Klien - Claire de Lune

Donnerstag, 5. Mai 2011

Hymne

À la très chère, à la très belle
Qui remplit mon coeur de clarté,
À l’ange, à l’idole immortelle,
Salut en l’immortalité!

Elle se répend dans ma vie
Comme un air imprégné de sel,
Et dans mon âme inassouvie
Verse le goût de l’eternel.

Sachet toujours frais qui perfume
L’atmosphère d’un cher réduit,
Encensoir oublié qui fume
En secret à travers la nuit,

Comment, amour incorruptible,
T’expremer avec vérité?
Grain de musc qui gis, invisible,
Au fond de mon éternité!

À la très bonne, à la très belle,
Qui fait ma joie et ma santé,
À l’ange, à l’idole immortelle,
Salut en l’immortalité!

Charles Baudelaire

Mittwoch, 4. Mai 2011

Eleni Mandell - Girls

Pläne verschweigen

Wenige Arten des Aberglaubens sind so verbreitet wie der, der die Leute abhält, von ihren wichtigsten Absichten und Projekten zu reden. Nicht nur durch alle Schichten der Gesellschaft geht dies Verhalten hindurch, auch alle Arten menschlicher Motive, von dem banalsten bis zum untergründigsten herab scheinen daran Anteil zu haben. Ja das Nächstliegende sieht so platt und verständig aus, daß mancher denken wird, es sei kein Grund von Aberglauben zu reden. Nichts ist begreiflicher, als daß ein Mensch, dem etwas fehlgeschlagen sei, den Mißerfolg für sich zu behalten trachte und, um sich diese Möglichkeit zu sichern, von seinem Vorhaben schweigt. Aber das ist doch mehr die oberste Schicht seiner Bestimmungsgründe, der Firnis des Banalen, der die tieferen verkleidet. Darunter steckt die zweite in Gestalt des dumpfen Wissens um die Schwächung der Tatkraft durch die motorische Entladung, die motorische Ersatzbefriedigung im Reden. Man hat diesen zerstörenden Charakter der Rede, von dem die simpelste Erfahrung weiß, nur selten so ernst genommen, wie er es verdient. Bedenkt man, wie fast alle entscheidenden Pläne mit einem Namen verbunden, ja an ihn gebunden sind, so leuchtet ein, wie teuer die Lust zu stehen kommt, ihn im Munde zu führen. Kein Zweifel aber, daß dieser zweiten Schicht eine dritte folgt. Es ist die Vorstellung, auf der Unwissenheit der andern, besonders der Freunde, wie auf den Stufen eines Thrones in die Höhe zu steigen. Und damit nicht genug, jene letzte und bitterste, in deren Tiefe Leopardi mit den Worten dringt, daß "Eingeständnis eigenen Leides nicht Mitleid, sondern Vergnügen hervorruft, und daß es nicht nur bei Feinden, sondern bei allen Menschen, die davon erfahren, keine Trauer, sondern Freude erweckt, denn das ist ja eine Bestätigung, daß der Betroffene weniger und man selber mehr wert ist." Wie viele Menschen wären aber imstande, sich selbst zu glauben, wenn schon der Verstand Leopardis Einsicht ihnen zuraunen würde? Wie viele würden nicht, angewidert von der Bitternis solcher Erkenntnis, sie ausspeien? Da tritt nun Aberglauben ein, die pharmazeutische Verdichtung bitterster Ingredienzen, die keiner einzeln und getrennt zu schmecken imstande wäre. Viel lieber gehorcht der Mensch in Volksbrauch und Sprichwort dem Dunklen und Rätselhaften, als daß er in der Sprache des gesunden Menschenverstandes die ganze Härte und das ganze Leid des Lebens sich predigen ließe.

Walter Benjamin

Harvey Pekar - Auszug aus American Splendor

Montag, 2. Mai 2011

Diotima

Clarisse hatte einen einfachen wollenen Schlafrock an und lachte. Walter, der den Spätling eingeholt hatte, blinzelte und versorgte den großen Hausschlüssel in einer Tischlade. Ulrich sagte ohne Umschweife: „Ich bin umgekehrt, weil ich Clarisse noch eine Antwort schulde.“ Dann begann er in der Mitte, wo seine Unterhaltung durch Walter unterbrochen worden war. Nach einer Weile waren Zimmer, Haus, Zeitgefühl verschwunden, und das Gespräch hing irgendwo über dem blauen Raum im Netz der Sterne. Ulrich entwickelte das Programm, Ideengeschichte statt Weltgeschichte zu leben. Der Unterschied, schickte er voraus, würde zunächst weniger in dem liegen, was geschähe, als in der Bedeutung, die man ihm gäbe, in der Absicht, die man mit ihm verbände, in dem System, das das einzelne Geschehnis umfinge. Das jetzt geltende System sei das der Wirklichkeit und gleiche einem schlechten Theaterstück. Man sage nicht umsonst Welttheater, denn es erstehen immer die gleichen Rollen, Verwicklungen und Fabeln im Leben. Man liebt, weil und wie es die Liebe gibt; man ist stolz wie die Indianer, die Spanier, die Jungfrauen oder der Löwe; man mordet sogar in neunzig von hundert Fällen nur deshalb, weil es für tragisch und großartig gehalten wird. Vollends die erfolgreichen politischen Gestalter der Wirklichkeit haben, von den ganz großen Ausnahmen abgesehen, viel mit den Schreibern von Kassenstücken gemein; die lebhaften Vorgänge, die sie erzeugen, langweilen durch ihren Mangel an Geist und Neuheit, bringen uns aber gerade dadurch in jenen widerstandslosen schläfrigen Zustand, worin wir uns jede Veränderung gefallen lassen. So betrachtet, entsteht Geschichte aus der ideellen Routine und aus dem ideell Gleichgültigen, und die Wirklichkeit entsteht vornehmlich daraus, daß nichts für die Ideen geschieht. Man könne es kurz so zusammenfassen, behauptete er, daß es uns zu wenig darauf ankäme, was geschehe, und zuviel darauf, wem, wo und wann es geschehe, so dass uns nicht der Geist der Geschehnisse, sondern ihre Fabel, nicht die Erschließung neuen Lebensgehalts, sondern die Verteilung des schon vorhandenen wichtig seien, genau so, wie es wirklich dem Unterschied von guten und bloß erfolgreichen Stücken entspreche. Daraus ergebe sich aber als das wahre Gegenteil, daß man zuerst die Haltung der persönlichen Habgier gegenüber den Erlebnissen aufgeben müßte. Man müßte die also weniger wie persönlich und wirklich und mehr wie allgemein und gedacht oder persönlich so frei ansehn, als ob sie gemalt oder gesungen wären. Man dürfte ihnen nicht die Wendung zu sich geben, sondern müßte sie nach oben und außen wenden. Und wenn das persönlich gälte, so müßte außerdem kollektiv etwas geschehen, was Ulrich nicht recht beschreiben konnte und eine Art Keltern und Kellern und Eindicken des geistigen Saftes nannte, ohne das sich der Einzelne natürlich nur ohnmächtig und seinem Gutdünken überlassen fühlen könnte. Und während er so sprach, erinnerte er sich an den Augenblick, wo er zu Diotima gesagt hatte, man müsse die Wirklichkeit abschaffen.

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Auszug Kapitel 84