Sonntag, 24. Juni 2012

Über Tradition - Kapitel 5

Diese Antinomie schreibt die mögliche Stellung des Bewußtseins zur Tradition vor. Kants Satz, der kritische Weg sei allein noch offen, ist einer von jenen verbürgesten, deren Wahrheitsgehalt unvergleichlich viel größer ist als das an Ort und Stelle gemeinte. Er trifft nicht nur die besondere Tradition, von der Kant sich lossagte, die der rationalistischen Schule, sondern Tradition insgesamt. Sie nicht vergessen und ihr doch nicht sich anpassen heißt, sie mit dem einmal erreichten Stand des Bewußtseins, dem fortgeschrittensten, konfrontieren und fragen, was trägt und was nicht. Es gibt keinen ewigen Vorrat, kein auch nur in der Idee noch denkbares deutsches Lesebuch. Wohl aber eine Beziehung  zur Vergangenheit, die nicht konserviert, doch manchem durch Unbestechlichkeit zum Überleben verhilft. Bedeutende Traditionalisten der vergangenen Generation wie die Georgeschule und wie Hoffmannsthal, Borchardt und Schröder haben, bei aller restaurativen Absicht, davon etwas gefühlt, wofern sie dem Nüchternen, Gedrungenen den Vorzug gaben vor dem Idealischen. Sie schon klopften die Texte ab nach dem, was hohl klingt und was nicht. Sie haben den Übergang von Tradition ans Unscheinbare, nicht sich selbst setzende registriert, liebten mehr Gebilde, in denen der Wahrheitsgehalt tief dem Stoffgehalt eingesenkt ward, als solche, in denen er als Ideologie darüber schwebt und deshalb keiner ist. An nichts Traditionales ist besser anzuknüpfen als daran, den Zug der in Deutschland verratenen und geschmähten Aufklärung, eine unterirdische Tradition des Antitraditionellen. Aber auch der integre Wille zur Wiederherstellung hatte seinen Zoll zu entrichten. Seine Positivität wurde einer ganzen gehobenen Literatur zum Vorwand. Das Körnige, Gediegenen von Srifter-Imitatoren und Hebel-Auslegern ist heute so billig wie die hochtrabende Geste. In die allgemeine Manipulation sanktionierter Kulturgüter ist das vermeintlich Unverschandelte unterdessen einverleibt; auch bedeutende ältere Gebilde wurden durch Rettung zerstört. Sie weigern sich der Restauration dessen, was sie einmal waren. Objektiv, nicht erst im reflektierenden Bewußtsein lösen kraft ihrer eigenen Dynamik wechselnden Schichten von ihnen sich ab. Das jedoch stiftet eine Tradition, der allein noch zu folgen wäre. Ihr Kriterium ist correspondance. Sie wirft, als neue Hervortretenden, Licht aufs Gegenwärtige und empfängt vom Gegenwärtigen ihr Licht. Solche correspondance ist keine der Einfühlung und unmittelbaren Verwandschaft, sondern bedarf der Distanz. Schlechter Traditionalismus scheidet vom Wahrheitsmoment der sich dadurch, daß er Distanzen herabsetzt, frevelnd nach Unwiederbringlichem greift, während er beredt wird allein im Bewußtsein der Unwiederbringlichkeit. Ein Modell genuiner Beziehung durch Distanz ist Becketts Bewunderung der 'Effi Briest'. Es lehrt, wie wenig die unter dem Begriff der correspondance zu denkende Tradition das Traditionelle als Vorbild duldet.

Adorno, Über Tradition

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen