Dienstag, 3. Juli 2012

Über Tradition - Kapitel 7

Das kritische Verhältnis zur Tradition als Medium ihrer Bewahrung betrifft keineswegs bloß das Vergangene, sondern ebenso die der Qualität nach gegenwärtige Produktion. Soweit sie authentisch ist, beginnt sie nicht frisch-fröhlich von vorn, übertrumpft nicht eine ersonne Verfahrensweise durch die nächste. Vielmehr ist sie bestimmte Negation. Die Bühnenwerke Becketts bilden in all ihren Perspektiven die traditionelle dramatische Form parodisch um. Die furchtbaren Spiele, in denen mit tierisch-komischen Ernst Gummigewichte gestemmt werden und an deren Schluß alles bleibt, wie es von Anfang an war, replizieren auf die Vorstellungen von steigender und fallender Handlung, Peripetie, Katastrophe, Entwicklung der Charaktere. Solche Kategorien sind scheinhafter Überbau über dem geworden, was wirklich Mitleid und Furcht erregt, dem Immergleichen. Der Zusammensturz jenes Überbaus in seiner leibhaft gegenwärtigen Kritik gibt Stoff und Gehalt einer Dramatik ab, die nicht wissen will, was es ist, was sie sagt. Insofern ist der sei's auch clichéhafte Begriff Antidrama nicht schlecht gewählt, auch nicht der des Antihelden. Die Zentralfiguren bei Beckett sind nur schlotternde Vogelscheuchen des Subjekts, das einmal die Szene beherrschte. Die Clownerie, die sie betreiben, hält Gericht über das Ideal der selbstherrlichen Persönlichkeit, die bei Beckett verdientermaßen zugrunde geht. Das Wort absurd, das für seine Dramatik und die ihr verpflichtete sich eingebürgert hat, ist gewiß inferior. Dem konventionellen gesunden Menschenverstand, dem hier der Prozeß gemacht wird, konzediert es allzuviel; tut so, als sei das Absurde die Gesinnung solcher Kunst, nicht das objektive Unwesen, das sie entblößt. Einverstandenes Bewußtsein versucht, noch das ihm Unversöhnliche zu verschlucken. Dennoch ist selbst die peinliche Parole nicht durchaus falsch. Sie designiert die fortgeschrittene Literatur als konkret durchgeführte Kritik des traditionellen Begriffs von Sinn, dem des Weltlaufs, den bis dahin die sogenannte hohe Kunst, auch und gerade wo sie Tragik als ihr Gesetz erkor, bestätigte. Das affirmative Wesen der Tradition bricht zusammen. Tradtition selbst behauptet durch ihre pure Existenz, daß im zeitlich aufeinander Folgenden Sinn sich erhalt, forterbe. Soweit die neue Literatur zählt, rüttelt sie, analog übrigens zur Musik und Malerei, an der Ideologie des Sinns dessen, was in der Katastrophe dessen Schein so gründlich abwarf, daß der Zweifel daran auch den vergangenen in sich hineinreißt. Sie kündigt die Tradition und folgt ihr doch: Hamlets Frage nach Sein oder Nichtsein nimmt sie so buchstäblich, daß sie die Anwort Nichtsein sich zutraut, die in der Tradition so wenig ihren Ort hatte wie im Märchen der Sieg des Ungeheuers über den Prinzen. Derlei produktive Kritik bedarf nicht erst der philosophischen Reflexion. Sie wird geübt von den exakt reagierenden Nerven der Künstler und ihrer technischen Kontrolle. Beides ist gesättigt mit geschichtlicher Erfahrung. Jede von Becketts Reduktionen setzt die äußerste Fülle und Differenziertheit voraus, die er verweigert und die er in den Müllkästen, Sandhaufen und Urnen krepieren läßt, bis in die Sprachform und die beschädigten Witze hinein. Dem verwandt ist das Ungenügen der neuen Romanciers an der Fiktion jenes Guckkastens, in den sie hineinschauen und über den sie alles wissen. All das reibt sich an der Tradition, ärgert sich an ihr als an dem Ornament, der täuschenden Herstellung eines Sinns, der nicht ist. Ihm halten sie die Treue, indem sie es verschmähen, ihn vorzuspiegeln.

Adorno, Prismen ohne Leitbild

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