Dienstag, 19. Juni 2012

Über Tradition - Kapitel 4

Während jedoch subjektiv Tradition zerrüttet ist oder ideologisch verdorben, hat objektiv die Geschichte weiter Macht über alles, was ist und worin sie einsickerte. Daß die Welt aus bloßen Gegebenheiten, ohne die Tiefendimension des Gewordenen, sich zusammenaddierte, das positivistische Dogma, das von ästhetischer Sachlichkeit zu unterscheiden mitunter schwerfällt, ist so illusionär wie die autoritätsgläubige Berufung auf Tradition. Was sich geschichtslos, reiner Anfang dünkt, ist erst recht Beute der Geschichte, bewußtlos und darum verhängnisvoll; an den archaisierenden ontologischen Richtungen der Philosophie ist das mittlerweile dargetan worden. Der Schriftsteller, der des scheinhaften Moments an der Tradition sich erwehrt, und der sich selbst in keiner mehr empfindet, ist doch in sie eingespannt, vorab durch die Sprache. Die schriftstellerische  ist kein Agglomerat von Spielmarken, sondern die Valeurs eines jeden Worts und einer jeden Wortverbindung empfangen objektiv ihren Ausdruck aus ihrer Geschichte, und in dieser steckt der geschichtliche Prozeß überhaupt. Das Vergessen, von dem einmal Brecht das Rettende sich versprach, ist unterdessen ins mechanisch Leere übergegangen; die Armut des reinen Jetzt und Hier hat sich als abstrakte Verneinung des falschen Reichtum herausgestellt, vielfach als Apotheose des bürgerlichen Puritanismus. Der jeglicher Erinnerungsspur entäußerte Augenblick ist ganz hinfällig in dem Wahn, gesellschaftlich Vermitteltes sei natürliche Form oder Naturmaterial. Was in den Verfahrungsweisen das geschichtlich einmal Errungene opfert, regrediert. Verzicht hat seinen Wahrheitsgehalt nur, wo er als verzweifelter sich gestaltet, nicht wo er stur triumphiert. Das Glück der Tradition, das reaktionäre preisen, ist nicht nur die Ideologie, die es ist. Wer leidet unter der Allherrschaft des bloß Seienden und Sehnsucht hat nach dem, was noch nie war, der mag mehr Wahlverwandschaft zu einem süddeutschen Marktplatz spüren als zu einem Staudamm, obwohl er weiß, wie sehr das Fachwerk zur Konservierung von Muff herhält, dem Komplement technifizierten Unheils. Wie die in sich verbissene Tradition ist das absolut Traditionslose naiv: ohne Ahnung von dem, was an Vergangenen in der vermeintlich reinen, vom Staub des Zerfallenen ungetrübten Beziehung zu den Sachen steckt. Inhuman aber ist das Vergessen, weil das akkumulierte Leiden vergessen wird; denn die geschichtliche Spur an den Dingen, Worten, Farben und Tönen ist immer die vergangenen Leidens. Darum stellt Tradition heute vor einen unauflöslichen Widerspruch. Keine ist gegenwärtig und zu beschwören; ist aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit. 

Adorno, Über Tradition

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