Donnerstag, 5. Juli 2012

Über Tradition - Kapitel 8/8

Nicht minder dialektisch als die Stellung der authentischen Gebilde zur Kritik ist die der Autoren. So wenig wie je muß ein Dichter Philosoph sein; so wenig wie je darf er es, wenn damit die Verwechslung des hineingepumpten Sinngehalts, für den mit Recht nur noch das grauslige Wort Aussage übrig ist, mit dem Wahrheitsgehalt der Sache gemeint wird. Leidenschaftlich wehrt Beckett jede Besinnung über den vermeintlichen Symbolgehalt seines Schaffens von sich ab: der Gehalt ist, daß kein Gehalt positiv vor Augen steht. Gleichwohl hat in der Stellung der Autoren zu dem, was sie tun, etwas Konstitutives sich geändert. Daß sie weder in Tradition mehr sich finden, noch im Vakuum operieren können, zerschlägt den mit Tradition so innig verwachsenen Begriff künstlerischer Naivetät. In der unumgänglichen Reflexion, was möglich, was nicht mehr möglich sei; in der hellen Einsicht in Techniken und Materialien und die Stimmigkeit ihres Verhältnisses konzentriert sich geschichtliches Bewußtsein. Es räumt radikal mit der Schlamperei auf, der Mahler die Tradition gleichsetzte. Aber im traditionsfeindlichen Bewußtsein des Fälligen überlebt auch die Tradition. Das Verhältnis des Künstlers zu seinem Werk ist ganz blind geworden und ganz durchsichtig in eins. Wer traditionell derart sich verhält, daß er spricht, wie er sich einbildet, daß der Schnabel ihm gewachsen sei, wird im Wahn der Unmittelbarkeit seiner Individualität erst recht schreiben, was nicht mehr geht. Damit jedoch triumphiert nicht der sentimentalisch reflektierende Künstler, dessen Typus das ästhetische Selbstverständnis seit Klassizismus und Romantik der Naivetät kontrastiert hatte. Er wird Gegenstand einer zweiten Reflexion, die ihm das sinnsetzende Recht, das auf die "Idee", entzieht, welches der Idealismus ihm zugesprochenen hatte. Insofern kovergiert das fortgeschrittene ästhetische Bewußtsein mit dem naiven, dessen begriffslose Anschauung keinen Sinn sich anmaßte und vielleicht darum zuzeiten ihn gewann. Aber auch auf diese Hoffnung ist kein Verlaß mehr. Dichtung errettet ihren Wahrheitsgehalt nur, wo sie in engstem Kontakt mit der Tradition diese vons ich abstößt. Wer die Seligkeit, die sie in manchen ihrer Bilder stets noch verheißt, nicht verraten will, die verschüttete Möglichkeit, die unter ihren Trümmern sich birgt, der muß von der Tradtition sich abkehren, welche Möglichkeit und Sinn zur Lüge mißbraucht. Wiederzukehren vermag Tradition einzig in dem, was unerbittlich ihr sich versagt. 

Adorno, Ohne Leitbild

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