Montag, 19. Dezember 2011

Kinoglas

Unsere Richtung nennt sich „Kinoglas“ („Filmauge“). Wir, die wir für das Kinoglas kämpfen nennen uns „Kinoki“. Den Terminus Filmkunst nennen wir möglichst nicht, ebenso wie jede gebräuchliche oder zufällige Wortzusammensetzung. Deshalb benutzen unsere Gegner sie so gern.
Und wir haben viele Feinde. Anders geht es nicht. Das stört natürlich bei der Verwirklichung unserer Ideen, aber dafür stärkt es uns im Kampf und schärft die Gedanken.
Wir treten der künstlerischen Kinematographie entgegen, aber sie erweist sich uns hundertmal überlegen. Mit den Geld-Krümmeln, die vom Tisch der künstlerischen Kinematographie fallen, aber manchmal auch gänzlich ohne Mittel, bauen wir unseren bescheidenen Filmchen zusammen.
Der Kinoprawda wurden die Filmtheater verschlossen, aber sie konnte nicht aus dem öffentlichen Bewußtsein und aus dem Bewußtsein der unabhängigen Presse vertrieben werden. Die Kinoprawda erscheint unzweideutig als Wendepunkt in der Geschichte der russischen Kinematographie.
Erfolg oder Misserfolg dieses oder jenes unserer Filmwerke hat nur kommerzielle Bedeutung und ist nur wichtig für die Durchschlagskraft unserer Bestrebungen; einen Einfluß auf unsere Ideen werden sie nicht nehmen. Für uns sind unsere Filmarbeiten – ob sie nun gelungen sind oder nicht – gleich wertvoll, insofern sie die Idee des Kinoglas weiterführen und insofern alle 100 bis 200 Meter misslungener Aufnahmen für die nächsten – gelungenen – 200 Meter eine Lehre sind.
Die erste Serie von Kinoglas ist deshalb von den Kinoki sehr richtig Kinoglas tastet sich vorwärts genannt worden. Damit ist die Behutsamkeit der Filmkamera bei der Erkundung des Lebens gemeint, denn ihre Hauptaufgabe ist es nicht, sich im Chaos des Lebens zu verlieren, sondern sich in der Umgebung zurechtzufinden, in die sie geraten ist.
Die Aufgabe der folgenden Serien wird es sein, diese Erkundung des Lebens bis zu einem möglichen Maximum zu steigern, und die Aufmerksamkeit ununterbrochen im technischen Sinne zu vertiefen.
Alle Menschen sind in einem mehr oder weniger strengen Maße – Dichter, Maler, Musiker.
Oder es gibt überhaupt keine Dichter, Maler oder Musiker.
Schon der millionste Teil der Erfindungen, die jeder Mensch bei seiner alltäglichen Arbeit macht, schließt in sich bereits ein Element der Kunst ein, wenn es auch nicht mit diesem Namen belegt zu werden pflegt.
Wir ziehen die trockene Chronik dem konstruierten Szenarium vor, wenn wir über die Lebensgewohnheiten und die Arbeit der Menschen berichten. Wir mischen uns niemals in das Leben ein. Wir nehmen Fakten auf, organisieren sie und bringen sie über die Filmleinwand in das Bewußtsein der Arbeitenden. Wir berücksichtigen, was die Welt erklärt, was uns klar macht, wie sie ist – das ist unsere Hauptaufgabe.
Kinoglas stellte sich die Aufgabe, den ausgedehnten Kampf mit der bürgerlichen Kinematographie aufzunehmen, und wir bezweifeln sehr, daß es in der Folgezeit möglich sein wird, - ungeachtet der neuen weltpolitischen Situation – unserem revolutionären Ansturm ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen.
Eine andere Gefahr. Die Gefahr der Entstellung unserer Ideen. Gefährliche Surrogate und Gegenströmungen, die wir Seifenblasen aufquellen, bis sie, wie Seifenblasen, platzen.
Das ist die Aufgabe aller Arbeitenden – wachsam den einmal begonnen Kampf fortzusetzen, sich immer von Betrug fernzuhalten und nie die süßlichen Kopien mit den harten Originalen zu verwechseln

Aus dem Reglement der Kinoki

Allgemeine Hinweise für alle Aufnahmen: die Kamera ist unsichtbar.
1. Schnappschuß – alte Kriegsregel: Augenmaß, Geschwindigkeit, Abdrücken.
2. Aufnahme von einem öffentlichen Beobachtungsposten aus, der von Kinok-Beobachtern vorbereitet wurde. Geduld, absolute Stille, im geeigneten Moment – sofortiger Angriff.
3. Aufnahme vom verborgenen Beobachtungsposten aus. Geduld und absolute Aufmerksamkeit.
4. Aufnahme ohne naturalistische Gesichtspunkte.
5. Aufnahme ohne künstlerische Gesichtspunkte.
6. Aufnahme auf Entfernung.
7. Aufnahme von Bewegung.
8. Aufnahme von oben.

Dsiga Wertow, 1924

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