Mittwoch, 29. Juni 2011

Faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne

Nehmen wir den einfachsten Fall: die sogenannten "Vermischten Meldungen", seit jeher der Tummelplatz der Sensationspresse. Blut und Sex, Tragödien und Verbrechen haben immer schon Verkaufsziffern in die Höhe getrieben, und so mußte die Diktatur der Einschaltquote derartige Ingredienzen an die vorderste Stelle, an den Beginn der Fernsehnachrichten spülen, die früher ausgeklammert oder auf die hinteren Ränge verwiesen wurden, weil man sich bemühte, nach dem Vorbild der seriösen Tagespresse als respektabel zu erscheinen. Die "Vermischten Meldungen" sind aber auch die Meldungen, die alles vermischen. Das Grundprinzip von Zauberern besteht darin, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken als auf das, was sie gerade tun. Die symbolische Aktion des Fernsehens zum Beispiel auf der Ebene der Nachrichten besteht darin, die Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, die alle Welt interessieren, die omnibus – für alle – da sind. Omnibus-Meldungen sind solche, die, wie es heißt, niemanden schockieren dürfen, bei denen es um nichts geht, die nicht spalten, die Konsens herstellen, die alle interessieren, aber so, daß sie nichts Wichtiges berühren. Die "Vermischte Meldung" stellt jenen Grundbaustein der Nachrichten dar, der sehr wichtig, weil für alle von Interesse ist, ohne zu irgendwelchen Konsequenzen Anlaß zu geben, und der Zeit beansprucht, Zeit, die dazu verwendet werden könnte, über andere Dinge zu sprechen. Zeit aber ist im Fernsehen ein äußerst knappes Gut. Und wenn wertvolle Minuten verschleudert, um derart Unwichtiges zu sagen, so deswegen, weil diese unwichtigen Dinge in Wirklichkeit sehr wichtig sind, und zwar insofern, als sie Wichtiges verbergen. Ich hebe dies hervor, weil wir aus anderen Untersuchungen wissen, daß weite Teile der Bevölkerung keinerlei Tageszeitung lesen, daß sie den Fernsehen als einziger Informationsquelle völlig ausgeliefert sind. Das Fernsehen hat eine Art faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne eines Großteil der Menschen. Legt das Fernsehen den Akzent auf die "Vermischten Meldungen", so füllt es die Zeit mit Leere, mit nichts oder fast nichts, und klammert relevante Informationen aus, über die der Staatsbürger zur Wahrnehmung seiner demokratischen Rechte verfügen sollte. Damit ist die Tendenz zu einer Spaltung gegeben, einer Spaltung zwischen denen, die die sogenannte seriöse Presse lesen können (soweit diese angesichts der Konkurrenz des Fernsehens seriös bleibt), die zur internationalen Presse, zu fremdsprachigen Rundfunknachrichten Zugang haben auf der einen Seite – und auf der anderen Seite denen, deren ganzes politisches Rüstzeug in den vom Fernsehen gelieferten Nachrichten, also in fast gar nichts besteht (abgesehen von der Information, die im puren Kennenlernen der meistgezeigten Männer und Frauen besteht, im Kennen ihrer Gesichter, ihrer Ausdruckweisen, Dingen, die noch die kulturell Hilflosesten entziffern können – wodurch ihnen übrigens große Teile des politischen Führungspersonals suspekt werden).


Pierre Bourdieu
Auszug aus Über das Fernsehen (1996)

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