Freitag, 8. April 2011

Samstag, 22. Januar 1944

Liebe Kitty,
Kannst Du mir vielleicht sagen, wie es kommt, daß die meisten Menschen ihr Inneres so ängstlich verbergen? Wie es kommt, daß ich mich in Gesellschaft ganz anders benehme, als ich es tun müßte? Ich weiß, daß es sicher Gründe dafür gibt, aber ich finde es unheimlich, daß man selbst den Menschen, die einem am nächsten stehen, nie ganz vertraut.
Ich habe das Gefühl, daß ich seit jenem Traum viel älter geworden bin, viel mehr "eine Persönlichkeit". Du wirst auch sehr erstaunt sein, wenn ich Dir jetzt sage, daß ich auch die v. Daans nun anders einschätze. Ich sehe die Diskussionen und Reibereien nicht nur von unserem voreingenommen Standpunkt.
Warum bin ich so verändert?
Ja, siehst Du, ich habe darüber nachgedacht, daß unser Verhältnis untereinander ganz anders hätte sein können, wenn Mutter eine richtige ideale Mams wäre. Bestimmt ist Frau v. Daan alles andere als ein feiner Mensch. Aber vielleicht hätte die Hälfte aller Auseinandersetzungen vermieden werden können, wenn Mutter auch weniger schwierig im Umgang wäre und sich die Gespräche nicht so zuspitzten. Frau v. Daan hat nämlich auch eine gute Seite: Sie läßt mit sich reden. Trotz allem Egoismus, der Knauserigkeit und der Streitsucht ist sie leicht zum Nachgeben zu bewegen, wenn man sie nicht reizt und aufstachelt. Dies Mittel wirkt zwar nicht auf die Dauer, aber wenn man Geduld mit ihr hätte, käme man wahrscheinlich auch weiter. Alle Fragen hier über unsere Erziehung, Verwöhnung, Essen usw. hätten offen und freundschaftlich besprochen werden müssen. Dann wäre es nicht so weit gekommen, daß man immer nur die schlechten Seiten der anderen sieht!
Ich weiß genau, was Du jetzt sagen willst, Kitty!
"Aber, Anne, stammen diese Gedanken von Dir? Von Dir, die soviel harte Worte 'von oben' gehört hat? Von Dir, die all das Unrecht kennt, das geschehen ist?" Ja, es kommt wirklich von mir! Ich will selbst alles ergründen, aber nicht nach dem Sprichwort: "Wie die Alten sungen...", nein, ich will die v. Daans beobachten und sehen, was wahr und was übertrieben ist. Wenn ich dann auch entäuscht bin, kann ich an demselben Strick mit den Eltern weiterziehen. Sind die beiden oben aber besser als ihr Ruf, würde ich erst versuchen, Vater und Mutter von ihrer falschen Einstellung abzubringen, und wenn das nicht glücken sollte, würde ich doch meine eigene Meinung und mein Urteil behalten. Ich werde jede Gelegenheit benutzen, um über allerlei mit Frau v. Daan zu sprechen, und mich bestimmt nicht scheuen, ganz neutral meine Meinung zu äußern.
Ich bin nun doch einmal das Fräulein Naseweis.
Ich will nun nicht etwa gegen meine eigene Familie auftreten, aber Klatschen gibt's von nun an bei mir nicht mehr. Bisher glaubte ich felsenfest, daß van Daans an allem schuld haben, aber ein Teil wird wohl auch an uns liegen. Im Prinzip hatten wir wahrscheinlich immer recht. Aber von vernünftigen Menschen – wozu wir uns doch rechnen – erwartet man, daß sie mit den verschiedensten Menschen umgehen können. Da mir nun diese Einsicht gekommen ist, hoffe ich, daß ich Gelegenheit haben werde, sie auch in die Praxis umzusetzen!    Anne

Das Tagebuch der Anne Frank

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