Sonntag, 10. April 2011

Gewohnheit und Aufmerksamkeit

Die erste aller Eigenschaften, sagt Goethe, ist die Aufmerksamkeit. Sie teilt jedoch den Vorrang mit der Gewohnheit, die ihr vom ersten Tag an das Feld bestreitet. Alle Aufmerksamkeit muß in Gewohnheit münden, wenn sie den Menschen nicht sprengen, alle Gewohnheit von Aufmerksamkeit verstört werden, wenn sie den Menschen nicht lähmen soll. Aufmerken und Gewöhnung, Anstoß nehmen und Hinnehmen sind Wellenberg und Wellental im Meer der Seele. Dieses Meer aber hat seine Windstillen. Daß einer, der ganz und gar auf einen quälenden Gedanken, auf einen Schmerz und seine Stöße sich konzentriert, dem leistesten Geräusche, einem Murmeln, dem Flug eines Insekts zur Beute werden kann, den ein aufmerksameres und schärferes Ohr vielleicht gar nicht vernommen hätte, steht außer Zweifel. Die Seele, so meint man, läßt sich um so leichter ablenken, je konzentrierter sie ist. Aber ist dieses Lauschen nicht weniger das Ende als die äußerste Entfaltung der Aufmerksamkeit – der Augenblick, da sie aus ihrem eigenen Schoße die Gewohnheit hervorgehen läßt? Dies Schwirren oder Summen ist die Schwelle, und unvermerkt hat die Seele sie überschritten. Es ist, als wolle sie nie mehr in die gewohnte Welt zurück, sie wohnt nun in einer neuen, in der der Schmerz ihr Quartiermacher ist. Aufmerksamkeit und Schmerz sind Komplemente. Doch auch Gewohnheit hat ein Komplement, und dessen Schwelle übertreten wir im Schlaf. Denn was im Traume sich an uns vollzieht, ist ein neues und unerhörtes Merken, das sich im Schoße der Gewohnheit losringt. Erlebnisse des Alltags, abgedroschene Reden, der Bodensatz, der uns im Blick zurückblieb, das Pulsen des eigenen Blutes – dies vorher Unvermerkte macht – verstellt und überscharf – den Stoff zu Träumen. Im Traum kein Staunen und im Schmerze kein Vergessen, weil beide ihren Gegensatz schon in sich tragen, wie Wellenberg und Wellental bei Windstille ineinander gebettet liegen.

Walter Benjamin

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