Freitag, 7. Januar 2011

Der Gedanke

Daß die Wahrheit einer Theorie dasselbe sei wie ihre Fruchtbarkeit, ist freilich ein Irrtum. Manche Menschen scheinen jedoch das Gegenteil davon anzunehmen. Sie meinen, Theorie habe so wenig nötig im Denken Anwendung zu finden, daß sie es vielmehr überhaupt ersparen soll. Sie mißverstehen jede Äußerung im Sinn eines letzten Bekenntnisses, Gebots oder Tabus. Sie wollen  sich der Idee unterwerfen wie einem Gott, oder sie attakieren sie wie einen Götzen. Es fehlt ihnen ihr Gegenüber an Freiheit. Aber es gehört gerade zur Wahrheit, daß man selbst als tätiges Subjekt dabei ist. Es mag einer Sätze hören, die an sich wahr sind, er erfährt ihre Wahrheit nur, indem er dabei denkt und weiter denkt.
Heutzutage drückt jener Fetischismus sich drastisch aus. Man wird für den Gedanken zur Rechenschaft gezogen, als sei er die Praxis unmittelbar. Nicht bloß das Wort, das die Macht treffen will, sondern auch das Wort, das tastend, experimentierend, mit der Möglichkeit des Irrtums spielend, sich bewegt, ist allein deshalb intolerabel. Aber: unfertig sein und es zu wissen, ist der Zug auch jenes Denkens noch und gerade jenes Denkens, mit dem es sich zu sterben lohnt. Der Satz, daß die Wahrheit das Ganze sei, erweist sich als dasselbe wie sein Gegensatz, daß sie jeweils nur als Teil existiert. Die erbärmlichste Entschuldigung, die Intellektuelle für Henker gefunden haben - und sie sind im letzten Jahrzehnt darin nicht müßig gewesen -, die erbärmlichste Entschuldigung ist die, daß der Gedanke des Opfers, für den es ermordet wird, ein Fehler gewesen sei.

Adorno, Dialektik der Aufklärung- Aufzeichungen und Entwürfe

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