Samstag, 13. März 2010

Das gute Gewissen jedes Einzelnen

(…) Arnheim half abermals nach. „ Haben Sie schon jemals einen Verwaltungsrat gewählt? Sie haben es nie getan!“ – Setzte er gleich selbst hinzu- „Und es würde auch keinen Sinn haben, daran zu denken, denn Sie werden nie die Aktienmajorität eines Unternehmens besitzen!“ Er sagte das so bestimmt, dass sich Ulrich fast durch den Mangel einer so wichtigen Eigenschaft hätte beschämt fühlen können; und es war auch ein echter Arnheimscher Einfall, mit einem einzigen Schritt und ohne Mühe von den Dämonen zu den Verwaltungsräten überzugehn. Er fuhr lächelnd fort: „Ich habe Ihnen eine Person bisher nicht genannt, und es ist in gewissem Sinn die wichtigste! Ich habe ‚die Aktienmajorität’ gesagt, das klingt wie eine harmlose Vielheit: dennoch ist das fast immer eine einzelne Person, ein ungenannter und der großen Öffentlichkeit unbekannter Hautpanteilbesitzer, der von jenen verdeckt wird, die er an seiner Statt vorschickt!“
Nun dämmerte es Ulrich natürlich, dass dies Dinge seien, von denen man jeden Tag in der Zeitung lesen könnte; aber Arnheim verstand es immerhin, ihnen Spannung zu geben. Neugierig fragte er ihn, wer die Aktienmajorität der Lloyd- Bank besitze.
„ Das weiß man nicht“ erwiderte Arnheim ruhig. „Richtiger gesagt, Eingeweihte wissen es natürlich, aber es ist nicht üblich davon zu sprechen. Lassen Sie mich lieber auf den Kern dieser Dinge kommen: Überall, wo zwei solche Kräfte da sind, ein Auftraggeber auf der einen, eine Verwaltung auf der anderen Seite, entsteht von selbst die Erscheinung, dass jedes mögliche Mehrungsmittel ausgenutzt wird, ob es nun moralisch und schön ist oder nicht. Ich sage wirklich ‚von selbst’, denn diese Erscheinung ist in hohem Grade unabhängig vom Persönlichen. Der Auftraggeber kommt nicht unmittelbar in Berührung mit der Ausführung, und die Organe der Verwaltung sind dadurch gedeckt, dass sie nicht aus persönlichen Gründen, sondern als Beamte handeln. Dieses Verhältnis finden sie heute allenthalben und durchaus nicht nur im Geldwesen. Sie können versichert sein, dass unser Freund Tuzzi in größter Gewissensruhe das Zeichen zu einem Krieg geben würde, selbst wenn er persönlich nicht einen alten Hund totschießen könnte, und ihren Freund Moosbrugger werden Tausende zum Tode befördern, weil sie es bis auf drei nicht mit leiblicher Hand zu tun brauchen! Durch diese zur Virtuosität ausgebildete ‚Indirektheit’ wird heute das gute Gewissen jedes Einzelnen wie der ganzen Gesellschaft gesichert; der Knopf auf den man drückt, ist immer weiß und schön, und was am anderen Ende der Leitung geschieht, geht andere Leute an, die für ihre Person wieder nicht drücken. Finden sie es abscheulich? So lassen wir Tausende sterben oder vegetieren, bewegen Berge von Leid, richten damit aber auch etwas aus! Ich möchte beinahe behaupten, dass sich darin, in der Form der sozialen Arbeitsteilung, nichts anderes ausdrückt als die alte Zweiteilung des menschlichen Gewissens in gebilligten Zweck und in Kauf genommene Mittel, wenn auch in einer grandiosen und gefährlichen Weise.“ (…)

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften
Kapitel 121 „Die Ausprache“, Seite 637-638

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen