Donnerstag, 16. Juni 2011

An was aber Erkenntnis nicht heranreicht

Was einer für eine Meinung hat, wird als sein Besitz zu einem Bestandstück seiner Person, und was die Meinung entkräftet, wird vom Unbewußten und Vorbewußten registriert, als werde ihm selber geschadet. Rechthaberei, der Hang der Menschen, törichte Meinungen selbst dann hartnäckig zu verteidigen, wenn ihre Falschheit rational einsichtig geworden ist, bezeugt die Verbreitung des Sachverhalts. Der Rechthaber entwickelt, um nur ja die narzißtische Schädigung von sich fern zu halten, die ihm durch die Preisgabe der Meinung widerfährt, einen Scharfsinn, der oft weit seine intellektuellen Verhältnisse übersteigt. Die Klugheit, die in der Welt aufgewandt wird, um narzißtisch Unsinn zu verteidigen, reichte wahrscheinlich aus, das Verteidigte zu verändern.
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Ohne festgehaltene Meinung, ohne Hypostasis eines nicht ganz Erkannten, ohne Hinnahme von etwas als Wahrheit, von dem man gar nicht durchaus weiß, ob es die Wahrheit sei, ist Erfahrung, ja die Erhaltung des Lebens kaum möglich. Der verängstigte Fußgänger, der eine Straße überschreitet und, bei gelbem Licht, urteilt, wenn er jetzt noch hinübergehe, werde er überfahren werden, ist nicht ganz sicher ob das wirklich geschehen wird. Das nächste Auto könnte einmal einen humanen Fahrer haben, der noch nicht auf den Gashebel tritt. Aber im Augenblick, in dem der Fußgänger sich darauf verließe und gegen das Licht die Straße überschritte, nur weil er kein Prophet sei, würde er mit größter Wahrscheinlichkeit getötet. Um so sich zu verhalten, wie es der gesunde Menschenverstand der Selbsterhaltung von ihm verlangt, muß er gleichsam übertreiben. Alles Denken ist Übertreibung, insofern als jeder Gedanke, der überhaupt einer ist, über seine Einlösung durch gegebene Tatsachen hinausschießt. In dieser Differenz zwischen Gedanken und Einlösung nistet aber wie das Potential der Wahrheit so auch das des Wahns.
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Über das, was wahr und was bloße Meinung, nämlich Zufall und Willkür sein soll entscheidet nicht, wie die Ideologie es will, die Evidenz sondern die gesellschaftliche Macht, die das als bloße Willkür denunziert, was mit ihrer eigenen Willkür nicht zusammenstimmt. Die Grenze zwischen der gesunden und der pathogenen Meinung wird in praxi von der geltenden Autorität gezogen, nicht von sachlicher Einsicht.
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Zugleich aber ist die permanente Wucherung des Meinens vom Objekt her motiviert. Die Undurchsichtigkeit der Welt  nimmt offenbar für das naive Bewußtsein zu, während sie in so vielem durchsichtiger wird. Ihre Übermacht, welche es verwehrt, die dünne Fassade zu durchstoßen, verstärkt solche Naivetät, anstatt daß sie, wie der arglose Bildungsglaube es möchte, geringer würde.
An was aber Erkenntnis nicht heranreicht, dessen bemächtigt sich die Meinung als deren Ersatz. Trügend räumt sie die Fremdheit zwischen dem erkennenden Subjekt und der ihm entgleitenden Realität weg. Dabei verrät sich in der Inadäquanz der bloßen Meinung jene Entfremdung selber. Weil dies nicht unsere Welt, weil sie heteronom ist, deshalb kann sie in der verbissenen und hartnäckigen Meinung nur verzerrt sich ausdrücken, und solcher Wahn in der Meinung tendiert dann wiederrum dazu, schließlich in totalitären System die Übermacht des Entfremdeten zu vermehren.
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Adorno, Auszug aus Meinung Wahn Gesellschaft

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