Samstag, 25. Juni 2011

der Künstler seines Lebens

Im kleinen Zimmer herrscht Stille; Einsamkeit und Müßigkeit umschleichen die Einbildung; leise, ganz leise entflammt sie sich und brodelt auf, wie das Wasser in der Kaffeemaschine der alten Matronja, die nebenan in der Küche geräuschlos hantiert und sich ihren Köchinnenkaffee kocht. Nach und nach steigen die heißen Blasen auf, und schon fällt das Buch, das auf gut Glück und ohne Absicht ergriffen wurde, aus der Hand meines Träumers, der nicht einmal bis zur dritten Seite gelangt ist. Seine Einbildungskraft ist aufs neue gestimmt und erregt, und plötzlich glänzt eine neue Welt voll von neuem bezauberndem Leben in einer schimmernden Perspektive vor ihm auf. Ein neuer Traum – ein neues Glück! Eine neue Dosis des verfeinerten süßen Giftes! Oh, was soll ihm noch unser wirkliches Leben! Für seinen bestochenen Blick leben wir, Sie und ich, Nastjenka, so langsam, so träge und welk; seiner Ansicht nach sind wir alle so unzufrieden mit unseren Losen und so sehr von unserem Leben gequält! Und ist es nicht auch tatsächlich wahr, schauen Sie nur, wie in der Tat auf den ersten Blick alles bei uns so kalt und finster, ja fast böse ist... Die Ärmsten! denkt mein Träumer dabei. Es ist kein Wunder, daß er das denkt. Schauen Sie doch nur diese zauberische Gesichte an, die sich so reizend, so launisch, so uferlos und frei vor ihm zu dem zauberhaften und beseelten Bilde vereinigen, auf dessen vorderstem Plan als bedeutendste Person natürlich er selber, unser Phantast, in eigner werter Person steht. Schauen Sie doch nur, wieviel verschiedenartige Abenteuer es dort gibt, welch einen unendlichen Schwarm begeisterter Phantasien. Sie werden mich vielleicht fragen, wovon er träumt? Wozu die Frage? Er träumt ja von allem... von der Rolle des Poeten, der anfangs nicht anerkannt und später bekränzt ward; von einer Freundschaft mit Hoffmann, von der Bartholomäusnacht, von Diana Vernon, von den heroischen Taten bei der Einnahme Kasans durch Iwan Wassiljewitsch, von Clara Mowbray, von dem Konzil der Prälaten, vor denen Hus stand, vom Auferstehen der Toten im Robert (erinnern sie sich an die Musik? Sie riecht ordentlich nach dem Friedhof!), von Minna und Brenda, von der Schlacht an der Beresina, vom Vortrag einer Verserzählung bei der Gräfin W.D., von Danton, von Cleopatra ed i suoi amanti, vom Häuschen in Kolomna und von seinem eigenen Winkel, und zwar, daß dort neben ihm ein liebliches Wesen säße, das ihm an Winterabenden mit geöffnetem Mündchen und offenen Äuglein zuhört, genauso, wie Sie mir soeben zuhören, mein kleines Engelchen...
Nein, Nastjenka, was soll ihm, dem wollüstigen Müßiggänger, jenes Leben, in das Sie und ich jetzt so gern eintreten wollen? Er denkt, daß das Leben nur arm und erbärmlich sei, und ahnt nicht, daß auch für ihn vielleicht die traurige Stunde einmal schlagen wird, da er um einen Tag dieses erbärmlichen Lebens all seine phantastischen Jahre hingeben wird, und nicht etwa um Freude oder Glück hingeben wird, denn in jener Stunde der Trauer, der Reue und des erlaubten Grames wird er nicht einmal mehr wählen dürfen. Allein, solange sie noch nicht da ist, diese drohende Zeit – wünscht er nichts, denn er steht über allen Wünschen, da er alles besitzt, da er von allem übersättigt ist, da er selber der Künstler seines Lebens ist und es zu jeder Stunde nach neuer Laune sich erschaffen kann. Wie leicht und wie selbstverständlich wird diese märchenhafte, phantastische Welt erschaffen! Es ist fast so, als wäre sie tatsächlich gar kein Gespenst! Und wahrhaftig, man könnte in mancher Minute fast glauben, daß dieses Leben nicht etwa nur eine Erregung der Gefühle sei, kein Gaukelspiel, kein Trug der Einbildung, sondern daß es geradezu das wirkliche, wahrhaftige und rechte Leben ist! Warum denn, sagen Sie es mir, Nastjenka, warum kommt in solchen Augenblicken eine Beklemmung über den Geist? Warum, durch welch eine Zauberei, durch welch ein unbekanntes Geschick kommt es, daß der Puls beschleunigt schlägt und aus den Augen Tränen quellen, warum brennen dann die bleichen, feuchten Wangen und warum erfüllt sich das ganze Dasein mit unabwendlicher Freude? Warum vergehen die langen, schlaflosen Nächte in unerschöpflicher Heiterkeit und Glück wie ein einziger Augenblick, und wenn dann der rosige Strahl des Morgenrotes durchs Fenster blitzt und die Morgendämmerung das finstere Zimmer mit ihrem unzweifelhaften, phantastischen Lichte erhellt, wie das nur bei uns in Petersburg geschehen kann, warum wirft sich unser ermatteter und zerquälter Träumer erst um diese Stunde auf sein Bett und schläft in den letzten Wellen der Begeisterung seines krankhaft erschütterten Geistes ein, mit einem quälend  süßen Brennen im Herzen? Ja, Nastjenka, da läßt man sich leicht täuschen und glaubt unwillkürlich, daß eine echte und wahre Leidenschaft die Seele bewege, daß in den körperlosen Träumerein etwas Lebendiges und Greifbares sei. Und doch ist es nichts als Betrug – schauen Sie, zum Beispiel, in seine Brust drang die Liebe mit ihrer ganzen unerschöpflichen Freude und all ihren peinigenden Qualen... Schauen Sie ihn nur an und überzeugen Sie sich davon! Werden Sie, liebe Nastjenka, bei diesem Anblick glauben, daß er jene in Wahrheit noch nie gekannt hat, die er in seinen entrückten Träumen so sehr geliebt? Ist es wirklich möglich, daß die beiden nicht Hand in Hand durch viele Jahre des Lebens gegangen sind – allein zu zweit, die ganze Welt hinter sich lassend und jeder die eigene Welt und das eigene Leben mit dem Leben des Freundes vereinigend? Ist es wirklich möglich, daß in jener späten Stunde, da sie Abschied nehmen mußten, nicht sie es war, nicht sie, die weinend und verzehrt von Sehnsucht an seiner Brust lag, ohne den Sturm zu hören, der über ihnen am finsteren Himmel tobte, ohne des Windes zu achten, der die Tränen von ihren schwarzen Wimpern riß und mit sich forttrug? Und ist es wirklich möglich, daß das alles nur ein Traum war –

Auszug aus Weiße Nächte von Fjordor Dostojewskij

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