Mittwoch, 25. Mai 2011

unsere Persönlichkeit ist eine geistige Schöpfung der andern

Zweifellos war der Swann, den zur selben Zeit so viele Mitglieder der vornehmsten Pariser Clubs kannten, ein ganz anderer als der, den meine Großtante sich schuf, wenn sie des Abends, in dem kleinen Garten von Combray, sobald das Glöckchen seine beiden zögernden Schläge getan hatte, diese dunkle undeutliche Gestalt, die sich, von meiner Großmutter gefolgt, aus einem finstern Hintergrund ablöste, und die man an der Stimme erkannte, mit all dem, was sie über die Familie Swann wußte, anfüllte und für ihren Gebrauch erst zum Leben erweckte. Aber selbst hinsichtlich der unscheinbarsten Dinge des täglichen Lebens bilden wir keine einheitliche Substanz heraus, die für alle gleich ist, so daß jeder nur davon Kenntnis zu nehmen braucht wie von einem Frachtbrief oder einem Testament; unsere Persönlichkeit ist eine geistige Schöpfung der andern. Selbst das Sehen eines Bekannten, dieser so einfache Vorgang, bedeutet zum Teil eine geistige Aktivität. Wir statten die physische Erscheinung des Menschen, den wir sehen, mit all den Vorstellungen aus, die wir von ihm haben, und in dem Gesamtbild, das wir uns machen, spielen diese Vorstellungen sicherlich die Hauptrolle. Sie füllen schließlich so vollkommen die Wangen aus, sie halten sich so eng an die Linie der Nase, sie verstehen es so gut, dem Klange der Stimme eine Nuance zu geben, als ob sie nur eine durchsichtige Hülle wäre, daß es jedesmal, wenn wir dieses Gesicht sehen und diese Stimme hören, eben jene Vorstellungen sind, die wir wiederfinden und auf die wir horchen.

Marcel Proust, Combray

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