Donnerstag, 19. Mai 2011

Darf ich dir sagen, was ich unter Moral verstehe?

Ulrich behauptete, die Erfindung der "Gefühlssache" habe der Sache des Gefühls den schlechtesten Dienst erwiesen, der ihr je geleistet worden sei, und als er es unternahm, seiner Schwester den abenteuerlichen Eindruck zu erklären, den dieser Abend in ihm weckte, kam er darauf in einer Weise zu sprechen, die ohne seinen Willen das am Morgen abgebrochene Gespräch fortsetzte und es wahrscheinlich rechtfertigen sollte. "Ich weiß freilich nicht," sagte er "womit ich anfangen soll, ohne dich zu langweilen. Darf ich dir sagen, was ich unter Moral verstehe?"
"Bitte" erwiderte Agathe.
"Moral ist Regelung des Verhaltens innerhalb einer Gesellschaft, vornehmlich aber schon die seiner inneren Antriebe, also der Gefühle und Gedanken."
"Das ist ein großer Fortschritt in wenigen Stunden!" entgegnete Agathe lachend. "Heute morgen hast du noch gesagt, du wissest nicht, was Moral sei!"
"Natürlich weiß ich es nicht. Trotzdem kann ich dir ja ein Dutzend Erklärungen geben. Die älteste ist, daß Gott uns die Ordnung des Lebens in allen ihren Einzelheiten geoffenbart hat –"
"Das wäre die schönste!" Sagte Agathe.
"Die wahrscheinlichste ist aber," betonte Ulrich "daß Moral wie alle andere Ordnung durch Zwang und Gewalt entsteht! Eine zur Herrschaft gelangte Gruppe von Menschen auferlegt den anderen einfach die Vorschriften und Grundsätze, durch die sie ihre Herrschaft sichert. Gleichzeitig hängt sie aber an denen, die sie selbst groß gemacht haben. Gleichzeitig wirkt sie damit als Beispiel. Gleichzeitig wird sie durch Rückwirkungen verändert: das ist natürlich verwickelter als man es in Kürze beschreiben könnte, und weil es keineswegs ohne Geist vor sich geht, aber auch keineswegs durch den Geist, sondern durch die Praxis, ergibt es schließlich ein unübersehbares Geflecht, das sich scheinbar so unabhängig wie Gottes Himmel über allem spannt. Nun bezieht sich alles auf diesen Kreis, aber dieser Kreis bezieht sich auf nichts. Mit andern Worten: alles ist moralisch, aber die Moral selbst ist nicht moralisch! –"
"Das ist reizend von ihr" sagte Agathe. "Aber weißt du, daß ich heute einen guten Menschen gefunden habe?"
(...)

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Zweites Buch, Kapitel 38

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