Sonntag, 3. April 2011

Weinen, dem die Tränen fehlen

(…) Gleichwohl wird Schein im Ausdruck am flagrantesten, weil dieser als Scheinloses auftritt und dennoch dem ästhetischen Schein sich subsumiert; große Kritik hat am Ausdruck als Schauspielerei sich entzündet. Das mimetische Tabu, ein Hauptstück bürgerlicher Ontologie, griff in der verwalteten Welt über auch auf die Zone, die der Mimesis tolerant reserviert war, und hat in ihr heilsam die Lüge menschlicher Unmittelbarkeit aufgespürt. Darüber hinaus jedoch dient jede Allergie dem Haß gegen das Subjekt, ohne das doch keine Kritik an der Warenwelt sinnvoll wäre. Es wird abstrakt negiert. Wohl ist das Subjekt, das kompensatorisch desto mehr sich aufspielt, je ohnmächtiger und funktionaler es wurde, im Ausdruck bereits dadurch falsches Bewußtsein, daß es als sich Ausdrückendes eine Relevanz vortäuscht, die ihm entzogen ward. Aber die Emanzipation der Gesellschaft von der Vorherrschaft ihrer Produktionsverhältnisse hat zum Ziel die reale Herstellung des Subjekts, welche die Verhältnisse bislang verhindert haben, und Ausdruck ist nicht bloß Hybris des Subjekts sondern Klage über sein eigenes Misslingen als Chiffre seiner Möglichkeit. Wohl hat die Allergie gegen den Ausdruck ihre tiefste Legitimation daran, daß etwas in jenem, vor aller ästhetischen Zurüstung, zur Lüge tendiert. Ausdruck ist a priori ein Nachmachen. Illusionär das latent ihm innewohnenden Vertrauen, es werde, indem es gesagt oder herausgeschrien wird besser, ein magisches Rudiment, Glaube an die von Freud polemisch so genannte „Allmacht des Gedankens“. Aber nicht durchaus verbleibt der Ausdruck im magischen Bann. Daß es gesagt, daß darin von der gefangenen Unmittelbarkeit des Leidens Distanz gewonnen wird, verändert es so, wie Brüllen den unerträglichen Schmerz abschwächt. Vollends der zur Sprache objektivierte Ausdruck persistiert, das einmal Gesagte verhallt kaum gänzlich, das Böse nicht und nicht das Gute, die Parole von der Endlösung so wenig wie die Hoffnung auf Versöhnung. Was Sprache gewinnt, tritt ein in die Bewegung eines Menschlichen, das noch nicht ist und kraft seiner Hilflosigkeit, die es zur Sprache nötigt, sich regt. Das Subjekt, hinter seiner Verdinglichung hertappend, schränkt diese durch das mimetische Rudiment ein, Statthalter unbeschädigten Lebens mitten im beschädigten, welches das Subjekt zur Ideologie herrichtete. Die Unentwirrbarkeit beider Momente umschreibt die Aporie des künstlerischen Ausdrucks. Nichts ist generell darüber zu urteilen, ob einer, der mit allem Ausdruck tabula rasa macht, Lautsprecher verdinglichten Bewußtseins ist oder der sprachlose, ausdruckslose Ausdruck, der jenes denunziert. Authentische Kunst kennt den Ausdruck des Ausdruckslosen, Weinen, dem die Tränen fehlen. Dagegen fügt die blanke, neusachliche Exstirpation des Ausdrucks der universalen Anpassung sich ein und unterwirft die antifunktionale Kunst einem Prinzip, das einzig durch Funktionalität sich begründen könnte. Verkannt wird von dieser Reaktionsweise das nicht Metaphorische, nicht Ornamentale am Ausdruck; je rückhaltloser die Kunstwerke ihm sich öffnen, desto mehr werden sie zu Ausdrucksprotokollen, wenden Sachlichkeit nach innen. Soviel zumindest ist an den zugleich ausdrucksfeindlichen und sich selbst, wie Mondrian, als positiv erklärenden mathematisierten Kunstwerken evident, daß sie den Prozeß über den Ausdruck nicht entschieden haben. Soll schon das Subjekt nicht unmittelbar mehr sprechen dürfen, so soll es doch – nach der Idee der nicht auf absolute Konstruktion eingeschworenen Moderne – durch die Dinge sprechen, durch deren entfremdete und lädierte Gestalt.

Adorno, Ästhetische Theorie

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