Mittwoch, 13. April 2011

Über Tradition, Kapitel 2

Real verlorene Tradition ist nicht ästhetisch zu surrogieren. Eben das tut die bürgerliche Gesellschaft. Auch die Gründe dafür sind real. Je weniger ihr Prinzip duldet, was ihm nicht gleicht, desto eifriger beruft es sich auf Tradition und zitiert, was dann, von außen, als "Wert" erscheint. Dazu ist die bürgerliche Gesellschaft gezwungen. Denn die Vernunft, die in ihrem Produktions- und Reproduktionsprozeß waltet und vor deren Gericht sie alles bloß Gewordene und Daseiende ruft, ist nicht die volle. Der selbst durchaus bürgerliche Max Weber definierte sie als eine im Verhältnis von Zwecken und Mitteln, nicht in den Zwecken an sich; die überantwortete er der subjektiven, irrationalen Entscheidung. Das Ganze bleibt, in der Verfügung Weniger über die Produktionsmittel und in den unerbittlich davon verursachten Konflikten, so unvernünftig, schicksalhaft und bedrohlich wie von altersher. Je rationaler sich das Ganze ineinanderfügt und schließt, desto furchtbarer wächst seine Gewalt über die Lebendigen an samt der Unfähigkeit von deren Vernunft, es zu ändern. Will aber das Bestehende in solcher Irrationalität rational sich rechtfertigen, so muß es Sukkurs suchen bei eben dem Irrationalen, das es ausrottet, bei der Tradition, die doch, ein Unwillkürliches, dem Zugriff sich entzieht, falsch wird durch den Appell. Die Gesellschaft appliziert sie planvoll als Kitt, in der Kunst hält sie her als verordneter Trost, der die Menschen über ihre Atomisierung auch in der Zeit beruhigen soll. Seit den Anfängen der bürgerlichen Periode haben die Angehörigen des Dritten Standes gefühlt, daß ihrem Fortschritt und ihrer Vernunft, die virtuell alle qualitativen Differenzen des Lebendigen ausmerzt, etwas fehlt. Ihre Dichter, die mit dem Hauptstrom schwammen, haben über den den prix du progrès gespottet, von Molières Komödie 'Le Bougeois Gentilhomme' bis zu Gottfried Kellers Familie Litumlei, die sich synthetische Ahnenbilder zulegt. All die Literatur, welche den Snobismus anprangert, der doch einer Gesellschaftsform immanent ist, in der die formale Gleichheit der inhaltlichen und der Herrschaft dient, verdeckt die Wunde, in die sie Salz streut. Schließlich verwandelt sich die vom bürgerlichen Prinzip abgetötete und manipulierte Tradition in Giftstoff. Auch genuin traditionale Momente, bedeutende Kunstwerke der Vergangenheit arten in dem Augenblick, in dem das Bewußstein sie als Reliquien anbetet, in Bestandstücke einer Ideologie aus, die am Vergangenen sich labt, damit am Gegenwärtigen nichts sich ändere, es sei denn durch ansteigende Gebundenheit und Verhärtung. Wer Vergangenes liebt und, um nicht zu verarmen, solche Liebe nicht sich austreiben läßt, exponiert sich sogleich dem perfid begeisterten Mißverständis, er meine es nicht so böse und lasse auch über die Gegenwart mit sich reden.

Adorno

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