Dienstag, 12. April 2011

Das System gibt mir Befehle, und die Dinge beginnen zu existieren!

Die Irrealtiät wuchs in einem solchen Maße, daß sogar Mama keinen Kontakt mehr zwischen uns herzustellen vermochte. Seit einiger Zeit klagte ich mehr und mehr darüber, daß die Dinge "mich schikanieren". Ich litt entsetzlich darunter. Dabei taten sie gar nichts Besonderes, sie griffen mich nicht direkt an, sie redeten nicht. Was mich sagen ließ, daß sie "mich schikanieren", war ihre Gegenwart. Ich sah die Gegenstände so ausgeschnitten, so voneinander losgelöst, so glatt, ähnlich wie Mineralien, so erleuchtet und angespannt, daß sie mir irrsinnige Angst machten; wenn ich zum Beispiel einen Stuhl oder ein Gefäß ansah, dann dachte ich nicht mehr an ihre Verwendung, ihre Funktion. Es war kein Gefäß mehr, das dazu dient, mit Wasser oder Milch gefüllt zu werden, oder ein Stuhl, der zum Sitzen da ist. Nein! Sie hatten ihren Namen, ihre Funktion, ihre Bedeutung verloren; sie waren "Dinge" geworden. Und diese "Dinge" begannen nun zu existieren. Eben diese Existenz jagte mir solche Angst ein. In diesem irrealen Dekor, in der undurchdringlichen Stille meiner Wahrnehmung tauchte mit einem Mal "das Ding" auf. Jenes Steingutgefäß, mit blauen Blumen bemalt, war plötzlich da, mir gegenüber, und verspottete mich mit seiner Gegenwart, seinem Dasein. Dann wandte ich meinen Blick von ihm ab, um weniger Angst zu haben, doch dann begegnete ich einem Stuhl, einem Tisch, die ebenfalls existierten und ihre Gegenwart bekundeten. Ich versuchte, ihrem Zugriff dadurch zu entgehen, daß ich ihren Namen aussprach. Ich sagte "Stuhl", "Krug", "Tisch" – "Das ist ein Stuhl" –; doch das Wort war wie abgezogen, jeder Bedeutung entleert, es hatte den Gegenstand verlassen, sich von ihm losgelöst, so daß es auf der einen Seite das "lebendige spöttische Ding" gab und auf der anderen seinen sinnentleerten Namen, wie ein seines Inhalts entleerter Umschlag. Es gelang mir nicht mehr, sie wieder zusammenzubringen. Und so blieb ich da stehen, vor ihnen, voller Angst und Schrecken. Dann beklagte ich mich und sagte: "Die Dinge schikanieren mich! Ich habe Angst!" Wenn man mich um nähere Angaben bat und fragte: "Sehen Sie, ob dieses Gefäß, dieser Stuhl lebendig ist?", antwortete ich: "Ja, sie sind lebendig." Und die Leute, einschließlich der Ärzte, meinten, ich würde die Gegenstände wie Menschen wahrnehmen, ich würde sie sprechen hören. Das war aber nicht der Fall. Ihr Leben bestand einzig in ihrer Gegenwart, ihrer Existenz. Um ihnen zu entfliehen, verbarg ich den Kopf in meinen Armen oder verzog mich in einen Winkel. Ich durchlebte damals eine Zeit heftiger Erregung. Alles bewegte sich, existierte, verspottete mich. Auf der Straße kam es mir vor, als seien die Leute toll geworden, als bewegten sie sich völlig grundlos, als träfen sie mit sich selber und den Dingen zusammen, die wirklicher geworden waren als sie selbst. Zur gleichen Zeit erhielt ich Befehle vom System. Aber ich vernahm sie nicht so, als ob es Stimmen wären. Nichtsdestoweniger waren sie ebenso gebieterisch, als wenn sie laut gesprochen hätten. Wenn ich zum Beispiel Schreibmaschine schrieb, überfiel mich plötzlich, ohne daß ich irgendwie darauf gefaßt war, eine Macht, die kein Trieb war, sondern einem Befehl glich und mir befahl, ich solle mir die rechte Hand verbrennen oder das Haus anzünden, in dem ich mich befand. Ich leistete diesen Befehlen mit aller Kraft Widerstand. Ich rief Mama an, um ihr zu erzählen, daß ich Befehle vom System erhielt. Ihre Stimme beruhigte mich, indem sie mir sagte, daß ich nur auf sie, die Mama, hören solle und nicht auf das System und daß ich, wenn es zudringlich werde, schnell zu ihr kommen solle, und das beruhigte mich sehr, doch leider nur für einen kurzen Augenblick. Eine unausprechliche Angst schnürte mir das Herz zusammen, keine Entscheidung vermochte sie zu beschwichtigen. Wenn ich mich weigerte zu gehorchen, fühlte ich mich schuldig und feige, weil ich es nicht wagte, und die Angst steigerte sich. Und der Befehl wurde um so stärker. Wenn ich mich dem Feuer näherte und meine Hand ausstreckte, um endlich nachzugeben, überkam mich ein intensives Schuldgefühl, so als würde ich etwas Böses tun, und wiederrum steigerte sich die Angst. Und ich muß zugeben, daß bei dieser Alternative sich die Angst stets als stärker erwies. Ich fühlte, daß ich, wenn ich dem Befehl gehorchen würde, etwas tun würde, was nicht wieder gut zu machen wäre und meine Persönlichkeit zersetzen würde. Außerdem hatte ich in beiden Fällen – dem Befehl zu gehorchen oder nicht zu gehorchen – den Eindruck von etwas künstlichem, Komödienhaftem. Dabei war ich allein, niemand außer Mama wußte von meinem Kampf. Im übrigen hatte ich auch den Eindruck als sei mein ganzes Verhalten verlogen. In Wirklichkeit war das überhaupt nicht der Fall! Ich war absolut aufrichtig. Wenn ich jedoch dem System nicht gehorchte, um die Integrität meiner Person zu retten, fand ich mich verlogen, da ich so tat, als würde ich den Befehl nicht beachten. Und wenn ich ihm gehorchte, fühlte ich mich ebenfalls verlogen, da ich nicht damit einverstanden war, mich zu verbrennen. Ich litt sehr unter diesen Befehlen und dem Gefühl der Verlogenheit, das meiner Persönlichkeit so sehr entgegenstand. Während ich mit aller Kraft kämpfte, um nicht von der Erleuchtung überrannt zu werden, sah ich, wie die Gegenstände mich aus ihrer Ecke heraus bedrohlich verhöhnten. Und in meinem Kopf jagten sich unaufhörlich sinnlose Sätze. Ich schloß die Augen, um all dieser Unruhe zu entgehen, in deren Mittelpunkt ich stand. Doch es nützte nichts: denn dann sprangen mich grauenvolle Bilder an, so lebendig, daß ich wirkliche Empfindungen in meinem Körper verspürte. Ich kann nicht behaupten, daß ich tatsächlich Bilder sah; ich fühlte sie eher. Zum Beispiel meinte ich, daß mein Mund voller Vögel sei, die ich zerkaute und die mich mit ihren Federn, ihren zermalmten Knochen und ihrem Blut erstickten. Oder ich sah Leute, die ich in Milchdosen einsperrte und die langsam verfaulten, und ich verschlang diese verwesenden Kadaver. Es war grauenvoll. Oder ich verschlang den Kopf einer Katze, die mich ihrerseits von innen her auffraß.
Inmitten dieses Grauen gelang es mir noch, meine Arbeit als Sekretärin zu verrichten. Doch unter welchen Qualen!
Bald kamen auch noch Schreie hinzu, schrille Schreie, die meinen Kopf durchzuckten. Ihre Plötzlichkeit ließ mich aufschrecken. Dabei hörte ich sie nicht so, wie ich wirkliche Schreie, von wirklichen Leuten ausgestoßen, hörte. Aber es waren Schreie, die mich so schnell wie möglich die Ohren zuhalten ließen. Ich hörte sie zu meiner Rechten. Aber ich konnte sie sehr wohl von den Schreien der Realität unterscheiden. Ich hörte sie, ohne sie zu hören. Ich vernahm sie von innen. Ich litt entsetzlich unter meinem Zustand. Immer mehr hatte ich das Gefühl, daß ich mich ganz und gar von dem System gefangennehmen ließ und daß ich immer tiefer hineinstürzte in das Land der Erleuchtung oder das "Land der Befehle", wie ich es auch nannte.
Die einzigen Augenblicke, in denen ich Frieden hatte, waren meine analytischen Sitzungen, insbesondere gegen Ende der Stunden, wenn es mir gelungen war, ein wenig Kontakt zu Mama zu spüren. Ich flehte sie an, mich zu verteidigen, mich vor dem Einfluß der Erleuchtung und dem Dasein der Dinge zu retten. Doch trotz iher Willenskraft war sie in solchen Momenten dem System gegenüber machtlos. Es war schon ein herrlicher Sieg, daß sie sich ihm hatte widersetzen können und ich immer bei ihr Zuflucht suchte, wenn ich in Gefahr war.
Schließlich geschah das Unglück. Die Befehle wurden immer gebieterischer, immer herausfordernder: ich sollte mir die rechte Hand verbrennen, denn es war die Hand des Gebots. In dem System nämlich gab es einen ungeheuren Zusammenhang. Ich hatte – ohne es zu wissen – über einige Leute Strafen verhängt und mußte nun meinerseits bestraft werden. Jene Leute, die von mir bestraft worden waren, hatten das Recht zu strafen; doch für jede Strafe, die sie austeilten, erhielten sie eine neue. Sobald ich den Mechanismus des Strafsystems, in das ich eingeschlossen war, durchschaute, kämpfte ich immer weniger gegen die Befehle an. Eines Tages legte ich zitternd meine rechte Hand mit der Außenseite auf glühende Kohlen und hielt sie dort, solange ich konnte. Die Kraft, den Schmerz zu ertragen, schöpfte ich aus dem Gedanken, daß ich damit meine Pflicht gegenüber dem System erfüllte und daß es nun aufhören würde, mir Befehle zu erteilten. Doch genau in diesem Augenblick kam unerwartet der Bürochef herein. Hastig zog ich die Hand zurück und war froh darübe, daß er anscheinend nichts bemerkt hatte. Ich täuschte mich. Wahrscheinlich hatte er begriffen, denn er rief den Arzt an, dem die Überwachung der Geistekranken oblag und der zufällig auch mein behandelnder Arzt war. Und nach der Konsultation, bei der auch erwogen wurde, mich in eine Heilanstalt zu bringen, sprach ich von der Existenz der Gegenstände, die mich schikanierten, und von dem System, das mich umschlossen hatte, weil dies alles völlig eins war mit mir, während ich meine Verbrennung verschwieg und auch die Befehle, die ich erhielt, denn ich war nie ganz mit ihnen einverstanden. Dies genügte jedoch, daß man mich in eine Klinik einwies.

Tagebuch einer Schizophrenen, Marguerite Sechehaye

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