Freitag, 25. März 2011

Über Tradition, Kapitel 1

Tradition kommt von tradere, weitergeben. Gedacht ist an den Generationszusammenhang, an das, was von Glied zu Glied sich vererbt; wohl auch an handwerkliche Überlieferung. Im Bild des Weitergebens wird leibhafte Nähe, Unmittelbarkeit ausgedrückt, eine Hand soll es von der anderen empfangen. Solche Unmittelbarkeit ist die mehr oder minder naturwüchsiger Verhältnisse etwa familialer Art. Die Kategorie Tradition ist wesentlich feudal, so wie Sombart die feudale Wirtschaft traditionalistisch nannte. Tradition steht im Widerspruch zur Rationalität, obwohl diese in jener sich bildete. Nicht Bewußtsein ist ihr Medium, sondern vorgegebene, unreflektierte Verbindlichkeit sozialer Formen, die Gegenwart des Vergangenen; das hat unwillkürlich auf Geistiges sich übertragen. Mit bürgerlicher Gesellschaft ist Tradition strengen Sinnes unvereinbar. Das Prinzip des Tauschs von Äquivalenten hat, als das der Leistung, das der Familie zwar nicht abgeschafft. Doch es hat die Familie sich untergeordnet. Die in kurzen Abständen sich wiederholenden Inflationen weisen aus, wie sinnfällig anachronistisch die Idee des Erbes wurde, und das geistige war nicht krisenfester. Jene Unmittelbarkeit des Von-Hand-zu-Hand ist in den sprachlichen Ausdrücken für Tradition bloßer Rückstand im gesellschaftlichen Getriebe universaler Vermittlung, in dem der Warencharakter der Dinge herrscht. Längst hat die Technik die Hand, die sie schuf und die sich in ihr verlängert, vergessen lassen. Angesichts der technischen Produktionsweisen ist Handwerk so wenig mehr substantiell, wie etwa der Begriff der handwerklichen Lehre noch gilt, die für Tradition, und gerade auch die ästhetische, sorgte. In einem radikal bürgerlichen Land wie Amerika wurde daraus allseitig die Konsequenz gezogen. Tradition sei verdächtig oder Importartikel mit vermeintlichem Seltenheitswert. Die Abwesenheit traditioneller Momente drüben, und der Ehrfahrungen, die mit ihnen verbunden sind, verhindert ein Bewußtsein zeitlicher Kontinuität. Was nicht heut und hier als gesellschaftlich nützlich auf dem Markt sich ausweist, gilt nicht und wird vergessen. Noch wenn einer stirbt, ist es so gut, als wäre es nie gewesen, und er so absolut ersetzlich wie alles Funktionale; unersetzlich ist nur das Funktionslose. Daher die verzweifelten und archaistischen Einbalsamierungsrituale. Sie möchten den Verlust des Zeitbewußtseins magisch bannen, der doch im gesellschaftlichen Verhältnis selber gründet. In all dem ist Europa nicht Amerika voran, das dort Tradition lernen könnte, sondern folgt Amerika nach, und dazu bedarf es keineswegs der Nachahmung. Die vielfach in Deutschland bemerkte Krise jeglichen historischen Bewußtseins, bis zur blanken Unkenntnis des noch nicht einmal allzu lang Vergangenen, ist einzig Symptom eines tragenden Sachverhalts. Offenbar zerfällt für die Menschen der Zusammenhang der Zeit. Daß diese philosophisch so beliebt ward, bezeugt, daß Zeit aus dem Geist der Lebendigen sich verflüchtigt; der italienische Philosoph Enrico Castelli hat das in einem Buch behandelt. Auf den Traditionsverlust reagiert die gegenwärtige Kunst insgesamt. Sie hat die traditional verbürgte Selbstverständlichkeit ihres Verhältnisses zum Objekt, zum Material, und die ihrer Verfahrungsweisen verloren und muß diese in sich reflektieren. Das Ausgehöhlte, Fiktive der traditionalen Momente wird gefühlt, und die bedeutenden Künstler schlagen es wie Gips mit dem Hammer weg. Was immer als Intention der Sachlichkeit sich bezeichnen läßt, hat den traditionsfeindlichen Impuls. Darüber zu klagen, Tradition als heilsam zu empfehlen, ist ohnmächtig und widerspricht deren eigenem Wesen. Zweckrationalität, die Erwägung, wie gut es in einer angeblich oder wahrhaft entformten Welt wäre, Tradition zu besitzen, kann nicht verordnen, was von Zweckrationalität kassiert ist.

Adorno, Prismen ohne Leitbild

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