Sonntag, 20. März 2011

Die Phantasie kriecht wie eine Postkutsche

Die maschinelle Entwicklung kommt nur der Persönlichkeit zunutze, die über die Hindernisse des äußeren Lebens schneller zu sich selbst gelangt. Aber ihrer Hypertrophie sind die Gehirne des Durchschnitts nicht gewachsen. Von der Verwüstung, die die Druckerpresse anrichtet, kann man sich heute noch gar keine Vorstellung machen. Das Luftschiff wird erfunden und die Phantasie kriecht wie eine Postkutsche. Automobil, Telephon und die Riesenauflagen des Stumpfsinns – wer kann sagen, wie die Gehirne der zweitnächsten Generation beschaffen sein werden? Die Abziehung von der Naturquelle, die die Maschine bewirkt, die Verdrängung des Lebens durch das Lesen und die Absorbierung aller Kunstmöglichkeit durch den Tatsachengeist werden verblüffend rasch ihr Werk vollendet haben. Nur in diesem Sinne möchte das heranbrechen einer Eiszeit verstanden sein. Man lasse inzwischen alle soziale Politik gewähren, an ihren kleinen Aufgaben sich bestätigen; lasse sie mit Volksbildung und sonstigen Surrogaten und Opiaten wirtschaften. Zeitvertreib bis zur Auflösung. Die Dinge haben eine Entwicklung genommen, für die in historisch feststellbaren Epochen kein Beispiel ist. Wer das nicht in jedem Nerv spürt, mag getrost die gemütliche Einteilung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit fortsetzen. Mit einem Mal wird man gewahren, daß es nicht weiter geht. Denn die neueste Zeit hat mit der Herstellung neuer Maschinen zum Betrieb einer alten Ethik begonnen. In den letzten dreißig Jahren ist mehr geschehen, als vorher in dreihundert. Und eines Tages wird sich die Menschheit für die großen Werke, die sie zu ihrer Erleichterung geschaffen hat, aufgeopfert haben.

Karl Kraus

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