Sonntag, 27. Februar 2011

Dunkler Himmel des Finanzkapitals

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Wird sonst nach der Wirklichkeit gedichtet, so geht hier die Dichtung der Wirklichkeit voran. In den Werken Franz Kafkas ist der verworrene menschliche Großbetrieb, dessen Entsetzlichkeit an die für Kinder hergerichteten Pappmodelle vertrackter Raubritterburgen erinnert, ist die Unerreichbarkeit der höchsten Instanz ein für allemal dargestellt. Die Klage des verarmten Kleinbürgers, die bis in die Sprache hinein Kafka entlehnt scheint, betrifft zweifelsohne einen extremen Fall, deutet aber doch haarscharf auf den typischen Ort hin, den der mittlere Vorgesetzte, also in der Regel der Abteilungsleiter, im modernen Großunternehmen einnimmt. Seine Stellung, der eines militärischen Chargierten von geringeren Graden vergleichbar, ist darum so wichtig, weil die Beziehungen zwischen den Sphären des Betriebs durch die Rationalisierung noch abstrakter geworden sind, als sie vordem schon waren. Je planvoller die Organisation ist, desto weniger haben die Menschen miteinander zu tun. Die Hochgestellten haben kaum die Möglichkeit, etwas von den Angestellten in den unteren Regionen zu wissen, aus denen der Blick erst recht nicht aufwärts dringt. Der Abteilungsleiter, der die Weisungen empfängt und weitergibt, spielt den Vermittler. Stieße er nach oben ebenso unmittelbar auf Grund wie bei seinen Untergebenen, so wären immerhin Menschen durch ihn verbunden. Aber wo sitzen denn die oberen Herren Aufsichtsführenden, die wirklich die Verantwortung haben? Auch der Direktor, von dem der Abteilungsleiter abhängt, befindet sich heute meist in einer abhängigen Position und nennt sich gern selbst einen Angestellten, wenn er sich klein machen will. Über ihn hinweg geht es zum Aufsichtsrat und zu den Vertretern der Banken, und die Spitze der Hierarchie verliert sich im dunklen Himmel des Finanzkapitals. So fern sind die Erhabenen gerückt, daß sie von dem Leben in der Tiefe nicht mehr berührt werden und ihre Beschlüsse rein auf Grund wirtschaftlicher Erwägung fassen können. Diese fordern möglicherweise, daß aus einer Abteilung eine Mehrleistung herausgepresst werde, und der Abteilungsleiter muß für die Erfüllung der Forderung sorgen. Das Geheiß mag unter Umständen eine Härte bedeuten, indessen die Oberen kennen das Personal nicht. Der Abteilungsleiter, der es kennt, will vielleicht seinerseits nicht die eigene Stellung riskieren. Man setze getrost voraus, daß nicht nur er, sondern auch die Mächtigen verhältnismäßig wohlmeinend gesinnt seien, und dennoch bleiben die inhumanen Akte nicht aus. Sie sind eine notwendige Folge der Abstraktheit des herrschenden Wirtschaftens, das von Motiven bewegt wird, die sich der realen Dialektik mit den im Betrieb umgetriebenen Menschen zu entziehen suchen.
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Siegfried Kracauer, Die Angestellten (1930)

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