Freitag, 18. Februar 2011

An den Leser

Torheit, Sünde, Geiz und Irrtum zehren
An unserm Leib, besetzen unsern Geist;
Und jeder seine lieben Skrupel speist,
Wie Bettelleute Ungeziefer nähren.

Verstockte sind wir, die nur lau bereun,
Doch wenn es lohnt, auch manches eingestehn,
Dann munter auf dem Sumpfweg weitergehn
Und glauben, Tränen waschen alles rein.

Satan, der Dreimalgroße, wiegt allzeit
Auf Bösem weich gebettet das Gemüt,
Und das Metall der Willenskraft verglüht
Durch dieses Alchimisten Fertigkeit.

Der Teufel hält die Fäden, die uns leiten!
Wir finden Lust an widerlichen Dingen,
Die täglich uns der Hölle näherbringen,
Furchtlos, durch üblen Dunst und Dunkelheiten.

Lüstlingen gleich, die gierig schmatzend küssen
Von alten Huren die zerquälten Brüste,
Stehlen wir hastig unerlaubte Lüste,
Die wir wie Apfelsinen pressen müssen.

Und wie von Würmern, die sich wimmelnd drängen,
Wird von Dämonen unser Hirn verschlungen,
Mit unserm Atem fließt in unsre Lungen
Der unsichtbare Tod mit Klagesängen.

Wenn die Gewalt, das Gift, der Dolch und Brand
Noch nicht das Jammerleben, das wir führen,
Auf dem Entwurf mit hübschen Mustern zieren,
So, weil die Kühnheit unsrer Seele schwand!

Doch unter Panthern und Schakalen aller Arten,
Den Affen, Geiern, Schlangen, die sich winden,
Den Ungeheuern, die wir heulend finden,
Kreischend und knurrend in des Lasters Garten,

Ist eins vor allen häßlich und gemein!
Zwar schreit es nicht und scheint sich kaum zu regen,
Doch würd es gern die Welt in Trümmer legen
Und schlänge gähnend sie in sich hinein;

Die Langeweile ist's! - Das Auge tränenreich
Raucht sie die Wasserpfeife, träumt vom Blutgericht.
Kennst du das heikle Ungeheuer nicht,
- Scheinheiliger Leser - Bruder, du - mir gleich!

Charles Baudelaire (1861) übersetzt von Monika Fahrenbach-Wachendorff

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