Mittwoch, 9. Februar 2011

Anfang von Maxim Gorkis ‚Die Mutter’ (1906)

Tagtäglich erklangen in der rauchigen, öligen Luft über der Arbeitervorstadt die zitternden, heulenden Töne der Fabriksirene, und ihrem Ruf gehorchend, kamen aus den kleinen grauen Häusern gleich erschreckten Küchenschaben finstere Menschen auf die Straße gelaufen, die ihre Muskeln durch Schlaf nicht hatten erfrischen können. In der kalten Dämmerung gingen sie auf der ungepflasterten Straße zu den hohen Steinkäfigen der Fabrik, die sie mit gleichmütiger Sicherheit erwartete und den schmutzigen Weg durch Dutzende fettiger quadratischer Augen erleuchtete. Der Schlamm schmatzte unter den Füßen. Heisere Rufe verschlafener Stimmen ertönten, grobe, böse Schimpfreden durchschnitten die Luft, während gleichzeitig andere Geräusche, schwerer Maschinenlärm und das Zischen des Dampfes, den Menschen entgegenschollen. Düster und streng schimmerten undeutlich die hohen, schwarzen Schornsteine, die sich wie dicke Pfähle über der Vorstadt erhoben.
Abends, wenn die Sonne unterging und ihre roten Strahlen müde in den Fensterscheiben der Häuser glänzten, stieß die Fabrik die Menschen gleich übriggebliebenen Schlacken aus ihren Steinschoße aus, und verrußt, mit schwarzen Gesichtern, in denen die hungrige Zähne schimmerten, gingen sie wieder durch die Straßen und verbreiteten in der Luft den klebrigen Geruch des Maschinenöls. Jetzt klangen ihre Stimmen lebhaft und sogar freudig. Für heute war die Frontarbeit beendet, zu Hause harrten ihrer das Abendessen und die Ruhe.
Wieder war ein Tag von der Fabrik aufgezehrt, die Maschinen hatten aus den Muskeln der Menschen soviel Kraft gesogen, wie sie brauchten. Der Tag war spurlos aus dem Leben ausgelöscht, der Mensch war dem Grabe wieder einen Schritt näher gekommen, doch er sah jetzt den Genuß des Ausruhens, die Freuden der rauchigen Schenke dicht vor sich und – war zufrieden.
An Feiertagen schlief man bis gegen zehn Uhr, dann zogen die Bejahrteren und Verheirateten ihre besten Kleider an und gingen zur Messe; unterwegs schimpften sie auf die jungen Leute wegen ihrer Gleichgültigkeit gegen die Kirche. Aus der Kirche kehrten sie nach Hause zurück, aßen Piroggen und legten sich wieder schlafen – bis zum Abend.
Die durch Jahre aufgespeicherte Müdigkeit hatte den Menschen die Esslust geraubt, und um essen zu können, tranken sie viel und reizten den Magen mit scharf beizendem Branntwein.
Abends schlenderten sie durch die Straßen, und wer Galoschen hatte, zog sie an, auch wenn es trocken war, wer einen Regenschirm besaß, nahm ihn mit, selbst wenn die Sonne schien.
Begegneten sie einander, so sprachen sie über die Fabrik, über die Maschinen, schimpften auf die Meister; ihre Reden und Gedanken beschäftigten sich nur mit Dingen, die die Arbeit betrafen. Kaum daß vereinzelte Funken unbeholfener kraftloser Gedanken in dem langweiligen Einerlei der Tage aufleuchteten. Nach Hause zurückgekehrt, zankten sie sich mit ihren Frauen und schlugen sie oft, ohne die Fäuste zu schonen. Die Jugend saß in den Wirtschaften oder veranstaltete reihum abendliche Zusammenkünfte, spielte Harmonika, sang häßliche, unanständige Lieder, tanzte, führte schmutzige Reden und trank. Von der Arbeit erschöpft, wurden die Menschen schnell berauscht, und in ihrer Brust erwachte eine unverständliche, krankhafte Gereiztheit, die einen Ausweg forderte. Sie griffen krampfhaft nach jeder Möglichkeit, dieses Gefühl der Unruhe zu entladen, und fielen wegen geringfügiger Kleinigkeiten ergrimmt wie wilde Tiere übereinander her. So entstanden blutige Schlägereien. Mitunter endeten sie mit schweren Verletzungen, hin und wieder aber auch mit einem Totschlag. 
In den gegenseitigen Beziehungen der Menschen überwog das Gefühl lauernder Gehässigkeit, es war ebenso eingewurzelt, wie die unheilbare Müdigkeit ihrer Muskeln. Die Menschen wurden mit diesem Seelenleiden als Erbteil ihrer Väter geboren, es begleitete sie wie ein schwarzer Schatten bis zum Grabe und trieb sie im Laufe des Lebens zu einer Reihe von Handlungen, die durch ihre sinnlose Grausamkeit abscheulich waren.
(…)

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