Donnerstag, 13. Januar 2011

Die letzte Wollust

Wo sollte der nahe Tod sein Signal geben, wenn nicht dort, wo das Leben sitzt, im Geschlecht? Man hat bei Hingerichteten den letzten Vollzug der Wollust festgestellt. Aber neige dich über ein Treppengeländer, und du wirst die Stelle spüren, wo du sterblich bist. Nicht immer muß ein Weib der Abgrund sein, damit sich Gefahrlust melde, wie sie in fremdem Bett genossen wird. Wenn man dazu bedenkt, daß dort, wo der Tod steht, immer auch der Geist steht und daß es eine Spannung gibt vor dem Schlusspunkt, sei es des Lebens oder des Werkes, das Herzklopfen vor aller Vollendung, sei es in der Arbeit am Wort, an der Schwelle der Unabänderlichkeit, und sei es auch nur im Wettlauf von Schularbeit und Schulstunde oder im Streben an einer Kletterstange empor, wo Lust die Mühe lohnt, die ihr entgleitet - bedenkt man dies, so denke man, wie wenig es mit dem Weib zu schaffen hat, und lerne die Lust, die vom Weib nicht abhängt, nicht geringer achten. Das Weib ist unbequem, Vorstellung des Weibes ist nur bequeme Vorstellung des Unbequemen. Darf man so wenig Phantasie haben, um der Vorstellung des Weibes zu seinem Glück zu bedürfen? Der Geist hat tiefere Wollust, als der Körper beziehen könnte. Irgendwie lebt er davon. daß Wollust die Mitgift des Weibes ist. Er muß es erlebt haben. Und empfängt etwas von jener durchwaltenden Seligkeit weiblichen Empfindens, welche die arme Pointe männlicher Lust beschämt. Der Zerknirschung am Ziel entweicht er zu den Wonnen des Weges. Jede Hemmung erhitzt ihn, und keinen Anteil an diesen Gluten hat selbst das Weib, das sie kühlen wird. Eine macht sich unerreichbar, um einen zu erreichen. Aber sie weiß nicht, daß sie es nicht heute ihrer Anwesenheit, sondern gestern ihrer Abwesenheit zu danken hat. Schließlich steigt Phantasie vier Treppen hoch, um das Weib nicht zu finden, und bis zum Himmel, ohne es zu suchen. Sie hat sich des Stoffs begeben. Aber sie hat die Form, in der der Gedanke wird und mit ihm die Lust. Sie ahnt, was keiner zu wissen vermag. Sie hat sich an der Wollust gebildet und konnte von da an, durch immer neue Erlebniskreise zu immer neuen Potenzen dringend, nie versagen, wenn ungeistige Begierde längst versagt hätte. Nun bedarf sie des Anlasses nicht mehr und läßt sich an sich selbst, und genießt sich im Taumel der Assoziationen, hier einer Metapher nachjagend, die eben um die Ecke bog, dort Worte kuppelnd, Phrasen pervertierend, in Ähnlichkeiten vergafft, im seligen Mißbrauch chiastischer Verschlingung, immer auf Abenteuer aus, in Lust und Qual, zu vollenden, ungeduldig und zaudernd, immer auf zwei Wegen zum Glück, bis sie vor dem Abgrund, wo die Maschine lauert und das Unabänderliche beschlossen liegt, in Angst vergeht und an einem Hingerichteten die letzte Wollust vollzogen ist.

Karl Kraus

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