So wenig ein Leser heute die einzelnen Worte (oder gar Silben) einer Seite sämtlich abliest - er nimmt vielmehr aus zwanzig Worten ungefähr fünf nach Zufall heraus und "errät" den zu diesen fünf Worten mutmaßlich zugehörigen Sinn -, ebenso wenig sehen wir einen Baum genau und vollständig <> Selbst inmitten der seltsamsten Erlebnisse machen wir es noch ebenso: Wir erdichten uns den größten Teil des Erlebnisses und sind kaum dazu zu zwingen, nicht als "Erfinder" irgendeinem Vorgang zuzuschauen. Dies alles will sagen: Wir sind von Grund aus, von alters her - ans Lügen gewöhnt. Oder, um es tugendhafter und heuchlerischer, kurz angenehmer auszudrücken: Man ist viel mehr Künstler als man weiß.
Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse
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