Sonntag, 31. Juli 2011

ich würde alles vernichten

(Vorbemerkung Célines zur französischen Ausgabe von 'Reise ans Ende der Nacht' nach dem 2. Weltkrieg)

Sieh an! Die Reise wird wieder losgeschickt. 
Das rührt mich.
In den letzten vierzehn Jahren ist so allerhand passiert ...
Wenn ich es nicht derart nötig hätte, nicht meine Brötchen verdienen müsste, dann, das sag ich ihnen gleich, dann würde ich das Ganze vernichten. Keine einzige Zeile würde ich mehr rausgeben.
Alles wird verkehrt aufgefasst. Ich habe allzu viele Bosheiten bewirkt.
Schauen Sie sich nur mal um, all die vielen Toten, der ganze Hass ringsum ... diese Niedertracht ... die reinste Kloake ist das ... diese Ungeheuer ... 
Ah, besser, man wäre blind und taub!
Sie werden zu mir sagen: Aber nein, doch nicht wegen der Reise! Wegen ihrer Verbrechen da krepieren Sie, da gibt es nichts! Das ist Ihr selbst heraufbeschworener Fluch! Ihre Bagatellen! Ihr ungeheuerliches Geschäume! Ihre bunte, ulkige Schändlichkeit! Die Justiz stellt Ihnen nach? würgt Sie? Na Scheiße warum das Gewinsel? Sie Clown!
Ah, tausend Dank! tausend Dank! Ich tobe! Toberei! Ich keuche! fluche! Scheinheilige! Falsche Fuffziger! Ihr könnt mir nichts vormachen! Wegen der Reise stellt man mir nach! Auf dem Schaffott noch schreie ich das! die Abrechnung zwischen mir und "denen"! ganz eigentlich ... nicht zu sagen ...
Eine Mordswut haben wir auf diese ganze Mystik! Was für eine Geschichte!
Wenn ich es nicht derart nötig hätte, nicht meine Brötchen verdienen müsste, dann, das sag ich Ihnen gleich, dann würde ich das Ganze vernichten. Ich habe den Schakalen die Ehre erwiesen! ... Ich bin ja guten Willens! ... Liebenswürdig! ... Zuerst die milde Gabe ... "Gottestaler" ! ... Ich habe mich vom Glück losgemacht ... seit 36 ... den Henkersknechten vorgeworfen! den Pfaffen! den kleinen Gaunern! ... Ein, zwei, drei wunderbare Bücher, mit den man mich meucheln kann! Und wie ich wimmere! Ich habe schon gegeben! Bin mildtätig gewesen, jawoll!
Die Welt der guten Absichten amüsiert mich ... hat mich mal amüsiert ... sie amüsiert mich nicht mehr ...
Wenn ich nicht derart genötigt wäre, nicht meine Brötchen verdienen müsste, dann, das sag ich Ihnen gleich, dann würde ich das Ganze vernichten ... vor allem die Reise ... das einzige wirklich böse von allen meinen Büchern ist die Reise ... Ich verstehe mich ... Der heikle Inhalt ...
Alles wird jetzt wieder losgehen! Der ewige Hexensabbatt! Sie werden es von oben zischen hören, von ferne, von namenlosen Orten: Wörter, Befehle ... 
Sie werden schon sehen, was das für Machenschaften werden! ... Sie werden mir schon was erzählen ...
Ah, denken Sie bloß nicht, ich spiele! Ich spiele nicht mehr! ... ich bin nicht mal mehr liebenswürdig.
Wenn ich dastünde, in die Enge getrieben, sozusagen aufrecht, mit dem Rücken gegen etwas ... ich würde alles vernichten.

Louis-Ferdinand Céline

Lob der Ferne

Im Quell deiner Augen
leben die Garne der Fischer der Irrsee
Im Quell deiner Augen
hält das Meer sein Versprechen

Hier werf ich
ein Herz, das geweilt unter Menschen,
die Kleider von mir und den Glanz eines Schwures:

Schwärzer im Schwarz, bin ich nackter.
Abtrünnig erst bin ich treu.
Ich bin du, wenn ich ich bin.

Im Quell deiner Augen
treib ich und träume von Raub

Ein Garn fing ein Garn ein:
wir scheiden umschlungen.

Im Quell deiner Augen
Erwürgt ein Gehenkter den Strang.

Paul Celan

Samstag, 30. Juli 2011

The Kills, Live at The Basement

Getting Down


Good Night Bad Morning


Donnerstag, 28. Juli 2011

Auszug aus A Tale Of Two Sisters

Slo-Mo-High-Definition-Full-Sound-Celebrity-Defäkation


Eines steht fest: Als Erwachsener erinnert sich fast niemand mehr an Einzelheiten oder psychische Begleiterscheinungen der eigenen Reinlichkeitserziehung. Denn bis man Grund hat, nachzufragen, ist so viel Zeit vergangen, dass man schon die eigenen Eltern fragen muss. Was aber auch nicht richtig funktioniert, weil die meisten Eltern glatt bestreiten werden, sich an diese Zeit zu erinnern oder in irgendeiner Weise daran beteiligt gewesen zu sein. Die Verdrängung hat Schutzfunktion, denn das Elterndasein ist zuweilen kein Zuckerschlecken. Alle diese Phänomene sind sattsam erforscht und dokumentiert. R. Vaughn Corliss’ bestgehütete Vision, die noch aus seiner Schlussphase bei Lifestyles of the Rich and Famous mit Robin Leach und Television Program Enterprises herrührte, sein heimlicher Traum sozusagen, sich als ernst zu nehmender Kabel-Player und –Pionier neu zu erfinden: ein Kanal, der sich ausschließlich mit Bildern von scheißenden Celebrities befasste. Reese Witherspoon beim Kacken. Juliette Lewis beim Kacken. Michael Jordan beim Kacken. Dick Gephard, Fraktionsführer der Demokraten im Abgeordnetenhaus: beim Kacken. Pamela Anderson beim Kacken. George F. Will, grimmiger Kolumnist der Washington Post, komplett mit Fliege und Strichmund: beim Kacken. Die ehemalige Golf-Legende Hale Irvin: beim Kacken. Der Stone-Bassist Ron Wood beim Kacken. Papst Johannes Paul II beim Kacken. (Allerdings müssen dabei mehrere Diener sein Gewand anheben.) Die Schauspieler Leonard Maltin und Annette Bening beim Kacken. Michael Flatley, der von Lord of the Dance: beim Kacken. Die Olson-Zwillinge, egal ob Mary-Kate oder Ashley oder alle beide: beim Kacken. Und so weiter und so fort. Helen Hunt. Bob Barker von The Price Is Right. Tom Cruise. Die Fernsehmoderatorin Jane Pauley. Talia Shire. Jassir Arafat. Der Oklahoma-Bomber Timothy McVeigh. Michael J. Fox. Der ehemalige Wohnungsbauminister Henry Cisneros. Allein die Vorstellung einer Direktübertragung aus den Privatgemächern von TV-Ikone Martha („Schöner wohnen“) Steward – Martha Steward, hingehockt zum Schiss zwischen Seifchen, Badesalz und farblich abgestimmten Heimtextilien – war derart überwältigend, dass Corliss sie sich nur selten gestattete. Kurz und gut, es war nicht nur ein schlafförderndes Konzept, sondern – verständlicherweise – auch ein höchstes privates. Tom Clancy. Margaret Atwood. Die Feministin Bell Hooks muss ebenso ran wie Dr. James Dobson von der konservativen Gegenseite. Dann George Ryan, der Todesstrafengegner und korrupte Gouverneur von Illinois, Nachrichtensprecher Peter Jennings. Talktante Oprah Winfrey. Er erzählte niemandem von diesem Traum. Und auch nicht von der begleitenden Vision, diese Museums der menschlichen Darmentleerung (digital aufbereitet) ins All zu senden, damit sich fremde Intelligenzen ein umfassendes Bild davon machen konnten, was auf dem Planeten Erde um das Jahr 2001 herum alles wichtig gewesen war.
Natürlich war er nicht verrückt; ein solches Projekt würde nie funktionieren. Aber was hieß das schon? Reality-TV gab es ja auch. Corliss selbst hatte den Grundstein dazu gelegt. Der Trend: Nicht nur Normalbürger, sondern auch Promis in die Matrix aus verletzter Privatsphäre und Enthüllung zu verstricken, aus der „Reality“ nun einmal bestand. Deswegen gab es diese Promi-Pannenshows, ließen sie ganze Kamerateams ins Haus, damit die Leute ihren begehbaren Wandschrank sehen konnten. Deswegen gab es Promi-Boxen, Promi-Polit-Gequassel, durfte die Öffentlichkeit sie zu Blind Dates oder zur Eheberatung begleiten. Schon in seiner Zeit bei Leach und TPE hatte Corliss erkannt: Die Philosophie dieser Sendungen war eine bombensichere Sache und führte unweigerlich zur ultimativen Bloßstellung. Promis unterm Messer, Promis in ihrem Promi-Sterbezimmer, am Ende die große Promi-Leichenschau. Alles nicht undenkbar, absurd schien ein solches Konzept nur außerhalb der Matrix. Und wo auf der Skala war eigentlich die Slo-Mo-High-Definition-Full-Sound-Celebrity-Defäkation? Und wie nahe war er an dem Punkt, an dem eine hirnverbrannte Idee wie diese in der Entwicklungs- und Rechtsabteilung nicht nur schallendes Gelächter auslöste? Nicht nah genug, das stand fest, aber auch nicht mehr endlos weit entfernt. Corliss wusste: Auch über Rupert Murdoch hatten sie alle mal gelacht.

David Foster Wallace, Auszug aus The Suffering Channel
Foto: Toulouse Lautrec

Mittwoch, 27. Juli 2011

Jean Luc Godard

Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung

Dienstag, 26. Juli 2011

Serengeti - Ha Ha

Oscar Wilde

Denn die Vergangenheit ist, was der Mensch nicht hätte sein dürfen. Die Gegenwart ist, was der Mensch nicht sein sollte. Die Zukunft ist, was die Künstler sind.

Montag, 25. Juli 2011

ohne das Surren der camera obscura

Das Nichtseiende in den Kunstwerken ist eine Konstellation von Seiendem. Versprechen sind die Kunstwerke durch ihre Negativität hindurch, bis zur totalen Negation, so wie der Gestus, mit dem einst eine Erzählung anheben mochte, der erste Klang, der auf einer Sitar angeschlagen ward, ein noch nie Gehörtes, noch nie Gesehenes versprach, und wäre es das Furchtbarste; und die Deckel eines jeden Buches, zwischen denen das Auge an den Text sich verliert, sind verwandt der Verheißung der camera obscura. Das Paradoxon aller neuen Kunst ist, das zu gewinnen, indem sie es wegwirft, so wie der Anfang der Recherche von Proust mit der kunstvollsten Veranstaltung in das Buch ohne das Surren der camera obscura, den Guckkasten des allwissenden Erzählers, hineingeleitet, auf den Zauber verzichtet und dadurch allein ihn realisiert. Die ästhetische Erfahrung ist die von etwas, was der Geist weder von der Welt noch von sich selbst schon hätte, Möglichkeit, verhießen von ihrer Unmöglichkeit. Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird.

Adorno, Ästhetische Theorie

Daß aber Kunstwerke da sind, deutet darauf, daß das Nichtseiende sein könnte.

Die Wirklichkeit der Kunstwerke zeugt für die Möglichkeit des Möglichen.

Adorno

Arcade Fire - Neighborhood #4 (7 Kettles)




my eyes are covered 
by the hands of my unborn kids
but my heart keeps watching 
through the skin of my eyelids

Sonntag, 24. Juli 2011

Titty Mibraine

Irgend etwas zu tun, das man ohne Freude ausführt, ist geistig und moralisch verwerflich

Sache des Staates ist es, das Nützliche zu schaffen. Sache des Individuums ist es, das Schöne hervorzubringen. Und da ich das Wort Arbeit ausgesprochen habe, möchte ich darauf hinweisen, wie viel Törichtes heutzutage über die Würde der Handarbeit geschrieben und gesagt wird. Handarbeit ist durchaus nicht etwas, das Würde verleiht, zumeist ist sie absolut erniedrigend. Irgend etwas zu tun, das man ohne Freude ausführt, ist geistig und moralisch verwerflich, und viele Arbeiten sind völlig freudlose Tätigkeiten und sollten auch als solche betrachtet werden. Eine schmutzige Straßenkreuzung während acht Stunden des Tages bei scharfem Ostwind zu fegen, ist eine widerliche Beschäftigung. Sie mit geistiger, moralischer oder körperlicher Würde zu fegen, scheint mir unmöglich. Sie mit Freude zu fegen, erscheint mir geradezu ungeheuerlich. Der Mensch ist für Besseres geschaffen, als Dreck aufzuwirbeln. Alle diese Arbeiten sollte eine Maschine ausführen.

Oscar Wilde, The Soul of Man under Socialism

Samstag, 23. Juli 2011

Das Vorwort

Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.
Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen ist Ziel der Kunst.
Kritiker ist, wer seinen Eindruck von schönen Dingen in einen anderen Stil oder ein neues Material zu übertragen vermag.
Die höchste wie die niedrigste Form von Kritik ist eine Art Autobiographie.
Wer in schönen Dingen Häßliches entdeckt ist verdorben, ohne charmant zu sein. Das ist ein Fehler.
Wer in schönen Dingen Schönes entdeckt, ist kultiviert. Für ihn besteht Hoffnung.
Auserwählt sind die, denen schöne Dinge nichts als Schönheit bedeuten.
So etwas wie ein moralisches oder ein unmoralisches Buch gibt es nicht. Bücher sind entweder gut oder schlecht geschrieben. Das ist alles.
Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen den Realismus ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel sieht.
Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen die Romantik ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht nicht im Spiegel sieht.
Das moralische Leben der Menschen gehört zum Gegenstand des Künstlers, doch die Moralität der Kunst besteht im vollkommenen Gebrauch eines unvollkommenen Mediums.
Kein Künstler will etwas beweisen. Selbst Dinge, die wahr sind, können bewiesen werden.
Kein Künstler nährt moralische Sympathien. Moralische Symphatie bei einem Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils.
Kein Künstler ist jemals morbid. Der Künstler kann alles ausdrücken.
Denken und Sprache sind für den Künstler Werkzeuge einer Kunst.
Laster und Tugend sind für den Künstler Materialien einer Kunst.
Unter dem Gesichtspunkt der Form ist die Kunst des Musikers die Urform aller Künste. Unter dem Gesichtspunkt des Gefühls ist die Schauspielkunst die Urform.
Alle Kunst ist Oberfläche und Symbol zugleich.
Wer unter die Oberfläche dringt, tut dies auf eigene Gefahr.
Wer das Symbol entschlüsselt, tut dies auf eigene Gefahr.
Den Zuschauer und nicht das Leben spiegelt die Kunst in Wirklichkeit wider.
Unterschiedliche Ansichten über ein Kunstwerk zeigen, daß das Werk neu, vielschichtig und lebendig ist. Wenn Kritiker unterschiedlicher Meinung sind, steht der Künstler im Einklang mit sich selbst.
Wir können einem Menschen verzeihen, daß er etwas Nützliches schafft, solange er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung für die Schaffung von etwas Nutzlosem besteht darin, daß man es zutiefst bewundert.
Alle Kunst ist völlig nutzlos.

Oscar Wilde

Donnerstag, 21. Juli 2011

Franz Marc - Der Affe

Arcade Fire - Modern Man

Alles, was in der Welt verbunden ist, trennt uns jetzt.


Alles, was in der Welt verbunden ist, trennt uns jetzt. Wir könnten uns von nun an nicht mehr ohne Unordnung begegnen, und in der Unordnung sollten wir uns nicht mehr begegnen. Was Dich an mich bindet und mich an Dich, ist von nun an bis zum Unerträglichen verbunden, und wir sind getrennt durch die Tiefe dessen, das uns verbindet. Was könnte ich tun? Dich verletzen, Dich vernichten. Doch schweigend resignieren will ich nicht. Ich werde Dich zerreißen, aber ich werde sprechen. Denn ich habe Dich aus meinem Herzen hervorgezogen, und wenn ich eines Tages das Licht erblicke, so weil ich Dir von dem Delirium erzählte, in dem ich Dich empfangen habe, doch wie könnte ich mein Herz und Dich von meiner Lust unterscheiden, von meiner Lust, von Deiner Lust, von dem, was Réa uns, so gut sie es vermochte, geschenkt hat? Ich spreche davon: ich weiß, es sollte mich, da es geschehen ist, zum Schweigen verpflichten. Aber wenn ich von meinem Herzen spreche, von diesem Kinderherzen, aus dem ich Dich hervorgezogen habe, aus dem ich unaufhörlich das Band des Blutes ziehe, das bewirkt, daß mein Schmerz mich an Deiner Seite stöhnen läßt, daß Dein Schmerz Dich an meiner Seite stöhnen läßt, so spreche ich nicht nur von Schmerz und Stöhnen, sondern von dem heiteren Delirium, das uns trug, als wir Hand in Hand einander anschauten. Denn unsere Qual war ebenso die überschäumende Lust – das, was Réa sehr niedrig einstufte, so niedrig, wie es nun einmal sein mußte. Réa hat mich nicht wahrhaft liebkost: ich habe mich in Deinem Beisein an sie gepreßt und mich gewunden und irre geredet, so wie ich in Deiner Abwesenheit – mich gewunden und irre geredet habe, als ich Dich empfing. Ich kann nicht mehr schweigen, und gegen meinen Willen bringt mich das, was immer noch in mir stöhnt, was immer noch in mir tobt, zum Reden. Ich hätte Dich nicht noch einmal sehen können. Was wir getan haben, können wir nicht noch einmal tun, und doch würde ich bei Deinem Anblick nur darauf sinnen, es wieder und wieder zu tun. Und während ich Dir schreibe, weiß ich, daß ich mit Dir nicht reden darf, doch nichts könnte mich hindern zu reden. Ich verlasse Paris, ich gehe fort, so weit fort wie möglich, aber überall werde ich demselben Wahnsinn anheimfallen, fern von Dir wie an Deiner Seite, denn die Lust in mir wartet auf niemanden, sie strömt aus mir hervor, aus meiner Zerrissenheit, die unaufhörlich an meinen Nerven zerrt . Du siehst es handelt sich nicht um Dich. Ich kann auch ohne Dich leben, und ich will Dich fernhalten von mir, doch wenn es um Dich geht, dann will ich in jenem Delirium sein, dann will ich, daß Du es siehst, will, daß es Dich zerstört. Während ich Dir schreibe, habe ich mich in dieses Delirium hineingesteigert, mein ganzes Sein ist in sich selbst verkrampf, mein Schmerz schreit in mir, er reißt mich aus mir heraus, so wie ich Dich aus mir herausgerissen habe, als ich Dich gebar. Und wenn ich mich in meiner Schamlosigkeit winde, bin ich nur noch ein Schrei, der mehr Haß als Liebe ist. Ich krümme mich vor Angst, und ich krümme mich vor Wollust. Aber das ist nicht Liebe, ich habe nur Wut. Meine Wut hat Dich zur Welt gebracht, diese zum Schweigen niedergezwungene Wut, deren Schrei Du dennoch vernahmst, wie ich gestern, als ich Dich ansah, begriff. Ich liebe Dich nicht, ich bleibe allein, aber diesen verlorenen Schrei, den Du vernimmst, wirst Du unaufhörlich vernehmen, er wird nicht aufhören, Dich zu häuten, und ich, ich werde bis an meinen Tod in diesem Zustand weiterleben. Ich werde leben in der Erwartung jener anderen Welt, in der ich in der höchsten Lust verharre. Ich gehöre ganz und gar jener anderen Welt, und Du gehörst ihr auch. Ich will nichts wissen von dieser Welt, die von denen durchforstet wird, die geduldig darauf warten, daß der Tod sie erleuchte. Ich lebe im Atemhauch des Todes, und ich werde aufhören, für Dich zu existieren, sobald Du einen Augenblick vergißt, daß er für mich der Atem der Lust ist. (...) 

Georges Bataille

aus dem Bann heraustreten

Fortschritt heißt: aus dem Bann heraustreten, auch aus dem des Fortschritts, der selber Natur ist, indem die Menschheit ihrer eigenen Naturwüchsigkeit innewird und der Herrschaft Einhalt gebietet, die sie über Natur ausübt und durch welche die der Natur sich fortsetzt. Insofern ließe sich sagen, der Fortschritt ereigne sich dort, wo er endet.

Adorno

Born Ruffians - This Sentence Will Ruin/ Save Your Life

Mittwoch, 20. Juli 2011

Schicksal?

Das Subjekt ehrt die Mächte indem es zur eigenen Zufälligkeit sich erniedrigt.

Adorno

Antichrist - Chaos Reigns

Karriere

Karriere ist ein Pferd, das ohne Reiter vor dem Tor der Ewigkeit anlangt.

Karl Kraus

Echte Kunst!

Ein Pinguin schimpft auf der Scholle den Nikolaus.
Traurigerweise ergibt sich Dreck ausserhalb meiner Reichweite, darausfolgend wird tollkühn geschrubbt.
Kampftrinkenderweise trinke ich alles besonders gründlich und tiefenrein, so daß Prostituierte immer schäbig schreien.
Staubsaugervertreter liebäugeln bevorzugt mit Kehlbeutel ohne vorher zu masturbieren auch wenn Drecksschlampen sukzessive Aggressoren abbauen zu versuchen.
Weltverbesserer preferieren prefixierte Autos ungenügend verblöden wichsenderweise wollte nur Pfarrer Nico Kleinkinder charmant unsittlich sezieren.
Penise schmecken deftig nach Schaukelstuhl und Eros Ramazotti säuft bitterlich aus der Muschi Fotzensäfte.
Hingerissen von verseuchten Euter erigiert der schmächtige Riemen durchschneidend den Tisch.
Seltsamerweise konzentrierte Chemikalien sind super ungesund für Kinder aber nicht für retardierte Samenspender.

Antonia K., Florian B., Nico E., Lena M, Hendrik J.

Auszug aus Les Amoures Imaginaires

Dienstag, 19. Juli 2011

Volk der Chauffeure

Organisation ist ein Talent und wie jedes Talent zeitläufig. Es ist praktisch und dient der Individualität, die sich seiner bedient, besser als eine zerfahrene Umgebung, in der auch der mittelmäßige Mensch Individualität hat. Wie sehr muß aber ein Volk sich seiner eigenen Indiviualität entäußert haben, um zu der Fähigkeit zu gelangen, so glatt die Bahn des äußeren Lebens zu bestellen! Bei der Entscheidung zwischen Menschenwerten hat das nervöse Bedürfnis des höheren Einzelmenschen nicht mehr mitzureden. Er durfte in einem schlechten Leben, und zumal in dem äußeren Chaos, worin das schlechte Leben hierzulande wohnt, sich nach Ordnung sehnen; er durfte die Technik als Pontonbrücke benützen, um zu sich selbst zu gelangen; er war es zufrieden, daß die Menschheit um ihn herum nur mehr aus Chauffeuren bestand, denen er gern noch das Stimmrecht entzogen hätte. Jetzt geht es um die Persönlichkeit der Völker – und jenes siegt, das im Verkehr mit der Technik am wenigsten Persönlichkeit  behalten hat.

Karl Kraus

Montag, 18. Juli 2011

die Flüssigkeit der Unterschiede

Die einfache allgemeine Flüssigkeit ist das An-sich, und der Unterschied der Gestalten das Andere. Aber diese Flüssigkeit wird selbst durch diesen Unterschied das Andere; denn sie ist itzt für den Unterschied, welcher an und für sich selbst, und daher die unendliche Bewegung ist, von welcher jenes ruhige Medium aufgezehrt wird, das Leben als Lebendiges. – Diese Verkehrung aber ist darum wieder die Verkehrtheit an sich selbst; was aufgezehrt wird, ist das Wesen; die auf Kosten des Allgemeinen sich erhaltende, und das Gefühl ihrer Einheit mit sich selbst sich gebende Individualität hebt gerade damit ihren Gegensatz des Andern, durch welchen sie für sich ist, auf; die Einheit mit sich selbst, welche sie sich gibt, ist gerade die Flüssigkeit der Unterschiede, oder die allgemeine Auflösung. Aber umgekehrt ist das Aufheben des individuellen Bestehens ebenso das Erzeugen desselben.

Hegel

Hingabe

Ihnen allen kommt das Subjekt zu sich selbst nicht durch die narzißtisch auf es zurückbezogene Pflege seines Fürsichseins, sondern durch Entäußerung, durch Hingabe an das, was es nicht selbst ist. 

Adorno

Samstag, 16. Juli 2011

Koketterie ist bloß Talent

Aber es gibt Blicke, die nicht sagen, daß sie lieben, nur sich daran sättigen, daß sie geliebt werden. Sie haben so viel Liebe, weil sie soviel Liebe aufzunehmen haben. Der Spaziergänger, der gebannt stehen bleibt, könnte glauben, daß sie ihm gelten; aber sie gelten wahrscheinlich dem Hund, den die Besitzerin in einer dem Hund und dem Passanten unvergeßlichen Attitüde über die Straße trägt.

Karl Kraus.

Dalida - Bang Bang

Figuration unlösbarer Widersprüche

Als Psychoanalytiker weiß man, daß alle Geschichten letztlich von Liebe reden. Die Klage jener, die in meiner Gegenwart stammelnd erzählen, rührt stets von einem Mangel an Liebe – sei es in der Vergangenheit oder in der Gegenwart, sei es ein wirklicher oder ein imaginärer Mangel. Unsere Gesellschaft verfügt über keinen Liebeskode mehr. Wir sind gezwungen, in jeder privaten, intimen Erzählung die Spuren jenes Leidens zu entziffern. Als Idealisierung, als Erschütterung, als Übersteigerung, Leidenschaft, Bedürfnis nach Vereinigung und Unsterblichkeit bildet die Liebe die Figuration unlösbarer Widersprüche, ist sie das Laboratorium unseres Schicksals. Philosophie, Religion, Gedicht, Roman? Alles Liebesgeschichten. Von Platon bis Thomas von Aquin, von Romeo und Julia bis Don Juan, von den Minnesängern bis zu Stendhal, von der Madonna Raphaels bis Baudelaire und Bataille. Die großen künstlerischen Werke reden von nichts anderem als dem, was, Tag für Tag, im stillen laut wird.

Julia Kristeva

Freitag, 15. Juli 2011

General Stumm von Bordwehr

"Du bist vorschnell" beharrte Ulrich. "Wissenschaft ist nur dort möglich, wo sich die Geschehnisse wiederholen oder doch kontrollieren lassen, und wo gäbe es mehr Wiederholung und Kontrolle als beim Militär? Ein Würfel wäre kein Würfel, wenn er nicht um neun Uhr so rechteckig wäre wie um sieben. Die Gesetze der Planetenbahnen sind eine Art Schießvorschrift. Und wir könnten uns überhaupt von nichts einen Begriff oder ein Urteil machen, wenn alles nur einmal vorüberhuschte. Was etwas gelten soll und einen Namen tragen, das muß sich wiederholen lassen, muß in vielen Exemplaren vorhanden sein, und wenn du noch nie den Mond gesehen hättest, würdest du ihn für eine Taschenlampe halten; nebenbei bemerkt, die große Verlegenheit, die Gott der Wissenschaft bereitet, besteht darin, daß er nur ein einzigesmal gesehen worden ist, und das bei Erschaffung der Welt, ehe noch geschulte Beobachter da waren."
Man muß sich in Stumm von Bordwehr versetzen; seit der Kadettenschule war ihm alles vorgeschrieben worden, von der Form der Kappe bis zum Heiratskonsens, und er verspürte wenig Neigung, seinen Geist solchen Erklärungen zu öffnen. – "Lieber Freund," entgegnete er tückisch "das mag alles sein, aber es geht mich eigentlich nichts an; du machst ja ganz gute Witze, wenn du sagst, daß wir beim Militär die Wissenschaft erfunden haben, aber ich rede nicht von der Wissenschaft, sondern, wie deine Kusine sagt, von der Seele, und wenn sie von der Seele spricht, dann möchte ich mich am liebsten nackt ausziehen, so wenig paßt das zu einer Uniform!"
"Lieber Stumm," fuhr Ulrich unbeirrt fort "sehr viele Menschen werfen der Wissenschaft vor, daß sie seelenlos und mechanisch sei und auch alles, was sie berühre, dazu mache; aber wunderlicherweise bemerken sie nicht, daß in den Angelegenheiten des Gemüts eine noch weit ärgere Regelmäßigkeit steckt als in denen des Verstandes! Denn wann ist ein Gefühl recht natürlich und einfach? Wenn sein Auftreten bei allen Menschen in gleicher Lage geradezu automatisch zu erwarten ist! Wie könnte man von allen Menschen Tugend verlangen, wenn eine tugendhafte Handlung nicht eine solche wäre, die sich beliebig oft wiederholen ließe?! Ich könnte dir noch viele andere solche Beispiele nennen, und wenn du vor dieser öden Regelmäßigkeit in die dunkelste Tiefe deines Wesens fliehst, wo die unbeaufsichtigten Bewegungen zuhause sind, in diese feuchte Kreaturtiefe, die uns vor dem Verdunsten am Verstande schützt, was findest du? Reize und Reflexbahnen, Einbahnung von Gewohnheiten und Geschicklichkeiten, Wiederholung, Fixierung, Einschleifung, Serie, Monotonie! Das ist Uniform, Kaserne, Reglement, lieber Stumm, und es hat die zivile Seele merkwürdige Verwandschaft mit dem Militär. Man könnte sagen, daß sie sich an dieses Vorbild, an das sie nie ganz heranreicht, anklammert, wo sie nur kann. Und wo ihr das nicht möglich ist, ist sie wie ein Kind, das man allein gelassen hat. Nimm bloß die Schönheit einer Frau zum Beispiel: was dich als Schönheit überrascht und überwältigt, wovon du glaubst, daß du es zum erstenmal in deinem Leben erblickst, das hast du innerlich längst schon gekannt und gesucht, davon war immer ein Vorglanz in deinen Augen, der jetzt bloß zur vollen Tageshelle verstärkt wird; dagegen, wenn es sich wirklich um Liebe auf den ersten Blick, um Schönheit handelt, die du noch nie wahrgenommen hast, so weißt du einfach nicht, was du damit anfangen sollst; dem ist nichts Ähnliches vorangegangen, du weißt keinen Namen dafür, du hast kein Gefühl als Antwort, du bist einfach grenzenlos verwirrt, geblendet, in ein blindes Staunen, in einen trottelhaften Stumpfsinn versetzt, der mit Glück kaum noch etwas gemeinsam zu haben scheint –"

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Auszug Kapitel 85

Raag Ahir Bhairav, Ustad Ali Akbar Khan - Morning Meditation

Donnerstag, 14. Juli 2011

Mittwoch, 13. Juli 2011

Zu allen Dingen lasse man sich Zeit; nur nicht zu den ewigen.

Was einen foltert, sind verlorene Möglichkeiten. Einer Unmöglichkeit sicher sein ist Gewinn.

Man mag dem Traum für das bißchen Klarheit, das er einem hin und wieder schenkt, dankbar sein. Mir träumte von einer aufgedunsenen Raupe, die ich töten wollte. Ich stach nach ihr, aber sie lebte, und drehte mir lachend den Kopf zu und sagte: Ich komme wieder.

Solange es innere Deckung gibt, können einem die Verluste des äußeren Lebens nichts anhaben.

Die Unsterblichkeit ist das einzige, was keinen Aufschub verträgt.

Man muß oft erst nachdenken, worüber man sich freut; aber man weiß immer, worüber man traurig ist.

Der gesunde Menschenverstand sagt, daß er mit einem Künstler bis zu einem bestimmten Punkt "noch mitgeht". Der Künstler sollte auch bis dorthin die Begleitung ablehnen.

Aus Lebensüberdruß zum Denken greifen: Ein Selbstmord, durch den man sich das Leben gibt.

"Sich keine Illusionen mehr machen": da beginnen sie erst.

Karl Kraus

Princhard

(...)
Der Arme hat auf dieser Welt zwei hauptsächliche Möglichkeiten zum Verrecken, entweder durch die völlige Gleichgültigkeit von seinesgleichen zu Friedenszeiten, oder durch die Mordlust derselben im Kriege. Wenn die anderen anfangen, an einen zu denken, dann haben sie nur im Sinn,  einen zu quälen, sonst gar nichts. Erst wenn man blutet, interessiert man sie, die Schweine! Was das angeht, hatte Princhard nur allzu Recht gehabt. Wenn die Schlachtbank droht, dann spekuliert man nicht mehr so viel darüber, was die Zukunft bringen mag, man denkt nur noch daran, zu lieben in den wenigen Tagen, die einem noch bleiben, denn das ist die einzige Möglichkeit, seinen Körper einen bisschen zu vergessen, der einem bald von oben bis unter aufgeschlitzt wird.
Da Musyne mir aus dem Weg ging, empfand ich mich als Idealisten, das sind so die großen Worte, mit denen man seine kleinen Instinkte verkleidet. (...)

Louis Ferdinand- Celine, Reise ans Ende der Nacht

Leben ohne Eitelkeit

Sieh, mein Außenbild ist fügsam,
sieh, mein Haben, so genügsam,
achtet wohl des Gleichgewichts.
Hat es wenig, dankt für viel es,
wahrt des Weges, Maßes, Zieles
                                  und Verzichts.

Doch mein Innensein verzichtet,
eh es sich genügsam richtet,
achtet nicht des Gleichgewichts.
Immer steig' es oder fall' es,
hat es vieles, will es alles
                                  oder nichts!
Karl Kraus

Dienstag, 12. Juli 2011

Lebendiges

Was das Selbstbewußtsein als seiend von sich unterscheidet, hat auch insofern, als es seiend gesetzt ist, nicht bloß die Weise der sinnlichen Gewißheit und der Wahrnehmung an ihm, sondern es ist in sich reflektiertes Sein, und der Gegenstand der unmittelbaren Begierde ist ein Lebendiges.

Hegel

Samstag, 9. Juli 2011

Au Clair de la lune

Au clair de la lune
Mon ami Pierrot
Prête-moi ta plume
Pour écrire un mot
Ma chandelle est morte
Je n'ai plus de feu
Ouvre-moi ta porte
Pour l'amour de Dieu

Donnerstag, 7. Juli 2011

Aus den Lebensregeln reicher Leute

Soviel Aufmerksamkeit und Bewunderung, wie Arnheim sie fand, hätte einen anderen Mann vielleicht mißtrauisch und unsicher gemacht; er hätte sich einbilden können, sie seinem Gelde zu verdanken. Aber Arnheim hielt Mißtrauen für ein Zeichen von unadeliger Gesinnung, das sich ein Mann auf seiner Höhe nur auf Grund eindeutiger kaufmännischer Auskünfte gestatten dürfe, und außerdem war er überzeugt, daß Reichtum eine Charaktereigenschaft sei. Jeder reiche Mann betrachtet Reichtum als eine Charaktereigenschaft. Jeder arme Mann gleichfalls. Alle Welt ist stillschweigend davon überzeugt. Nur die Logik macht einige Schwierigkeiten, indem sie behauptet, daß Geldbesitz vielleicht gewisse Eigenschaften verleihen, aber niemals selbst eine menschliche Eigenschaft sein könne. Der Augenschein straft das Lügen. Jede menschliche Nase riecht unweigerlich sofort den zarten Hauch von Unabhängigkeit, Gewohnheit, zu befehlen, Gewohnheit, überall das Beste für sich zu wählen, leichter Weltverachtung und beständig bewußter Machtverantwortung, der von einem großen und sicheren Einkommen aufsteigt. Man sieht es der Erscheinung eines solchen Menschen an, daß sie von einer Auslese der Weltkräfte genährt und täglich erneuert wird. Das Geld zirkuliert in seiner Oberfläche wie der Saft in einer Blüte; da gibt es kein Verleihen von Eigenschaften, kein Erwerben von Gewohnheiten, nichts Mittelbares und aus zweiter Hand Empfangenes: zerstöre Bankkonto und Kredit, und der reiche hat nicht bloß kein Geld mehr, sondern er ist am Tag, wo er es begriffen hat, eine abgewelkte Blume. Mit der gleichen Unmittelbarkeit wie früher die Eigenschaft seines Reichseins bemerkt jetzt jeder die unbeschreibliche Eigenschaft des Nichts an ihm, die wie eine brenzliche Wolke von Unsicherheit, Unverläßlichkeit, Untüchtigkeit und Armut riecht. Reichtum ist also eine persönliche, einfach, nicht ohne Zerstörung zerlegbare Eigenschaft.
Aber Wirkung und Beziehungen dieser seltenen Eigenschaft sind außerordentlich verwickelt und erfordern große seelische Kraft, um sie zu beherrschen. Nur Leute die kein Geld haben, stellen sich Reichtum wie einen Traum vor; Menschen, die ihn besitzen, beteuern dagegen bei jeder Gelegenheit, wo sie mit Leuten zusammentreffen, die ihn nicht besitzen, welche Unannehmlichkeit er bedeute. Arnheim hatte zum Beispiel oft darüber nachgedacht, daß ihn doch eigentlich jeder technische oder kaufmännische Abteilungsleiter seines Hauses an besonderen Können beträchtlich übertreffe, und er mußte es sich jedes Mal versichern, daß, von einem genügend hohen Standpunkt betrachtet, Gedanken, Wissen, Treue, Talent, Umsicht und dergleichen als Eigenschaften erscheinen, die man kaufen kann, weil sie in Hülle und Fülle vorhanden sind, wogegen die Fähigkeit, sich ihrer zu bedienen, Eigenschaften voraussetzt, welche nur die wenigen besitzen, die eben schon auf der Höhe geboren und aufgewachsen sind. Eine andere, nicht geringere Schwierigkeit für reiche Leute ist die, daß alle Leute Geld von ihnen wollen. Geld spielt keine Rolle; das ist richtig, und einige tausend oder zehntausend Mark sind etwas, dessen Dasein oder Fehlen ein reicher Mann nicht empfindet. Reiche Leute versichern denn auch mit Vorliebe bei jeder Gelegenheit, daß das Geld am Werte eines Menschen nichts ändere; sie wollen damit sagen, daß sie auch ohne Geld soviel wert wären wie jetzt, und sind immer gekränkt, wenn ein anderer sie mißversteht. Leider widerfährt ihnen das gerade im Verkehr mit geistvollen Menschen nicht selten. Solche besitzen merkwürdig oft kein Geld, sondern nur Pläne und Begabung, aber sie fühlen sich dadurch in ihrem Wert nicht gemindert, und nichts scheint ihnen näher zu liegen, als einen reichen Freund, für den das Geld keine Rolle spielt, zu bitten, daß er sie aus seinem Überfluß zu irgendeinem guten Zweck unterstütze. Sie begreifen nicht, daß der reiche Mann sie mit seinen Ideen unterstützen möchte, mit seinem Können und seiner persönlichen Anziehungskraft. Man bringt ihn auf diese Weise außerdem in einen Gegensatz zu der Natur des Geldes, denn diese will die Vermehrung genau so, wie die Natur des Tieres die Fortpflanzung anstrebt. Man kann Geld in schlechte Anlagen stecken, dann geht es auf dem Feld der Geldehre zugrunde; man kann damit einen neuen Wagen kaufen, obgleich der alte noch so gut wie neu ist, in Begleitung einer seiner Polopferde in den teuersten Hotels der Weltkurorte absteigen, Renn- und Kunstpreise stiften oder für hundert Gäste an einem Abend soviel ausgeben, daß davon hundert Familien ein Jahr lang leben könnten: mit alledem wirft man das Geld wie ein Sämann zum Fenster hinaus, und es kommt vermehrt bei der Türe wieder herein. Es aber im stillen für Zwecke und Menschen verschenken, die ihm nichts nützen, das läßt sich nur mit einem Meuchelmord am Geld vergleichen. Es kann sein, daß diese Zwecke gut und diese Menschen unvergleichlich sind; dann soll man sie mit allen Mitteln fördern, nur nicht mit Geldmitteln. Das war ein Grundsatz Arnheims, und seine beharrliche Anwendung hatte ihm den Ruf eingebracht, an der geistigen Entwicklung der Zeit schöpferisch und tätig Anteil zu haben.
Arnheim konnte auch von sich sagen, daß er wie ein Sozialist denke, und viele reiche Leute denken wie Sozialisten. Sie haben nichts dagegen, daß es ein Naturgesetz der Gesellschaft sei, dem sie ihr Kapital verdanken, und sind fest überzeugt, daß es der Mensch ist, der dem Besitz seine Bedeutung leiht, und nicht der Besitz dem Menschen. Sie diskutieren ruhig darüber, daß in der Zukunft der Besitz aufhöre, wenn sie nicht mehr da sind, und werden in der Meinung, daß sie einen sozialen Charakter besäßen, noch dadurch bestärkt, daß nicht selten charaktervolle Sozialisten in überzeugter Erwartung des ohnehin unausbleiblichen Umsturzes, bis dahin lieber bei reichen Leuten verkehren als bei armen. Man könnte auf diese Weise lange fortfahren, wenn man alle Beziehungen des Geldes schildern wollte, die Arnheim bemeisterte. Die wirtschaftliche ist eben keine Tätigkeit, die sich von den übrigen geistigen Tätigkeiten absondern ließe, und es war wohl natürlich, daß er seinen geistigen und künstlerischen Freunden, wenn sie ihn dringend darum baten, außer Ratschlägen auch Geld gab; aber gab ihnen nicht immer und niemals viel. Sie versicherten ihm , daß sie auf der ganzen Welt nur ihn darum zu bitten vermöchten, weil er allein auch die dazu nötigen geistigen Eigenschaften besäße, und er glaubte es ihnen, denn er war überzeugt, daß das Bedürfnis nach Kapital alle menschlichen Beziehungen durchdringe und so natürlich sei wie das Bedürfnis nach Atemluft, während er andererseit auch ihrer Auffassung, daß das Geld eine spirituelle Macht sei, entgegenkam, indem er diese nur mit feinfühliger Zurückhaltung anwandte.
Und weshalb wird man überhaupt bewundert und geliebt? Ist das nicht ein schwer zu ergründendes Mysterium, rund und zart wie ein Ei? Wird man wahrer geliebt, wenn es wegen eines Schnurrbarts geschieht, als wenn es wegen eines Automobil geschieht? Ist die Liebe, die man erregt, weil man ein sonnengebräunter Sohn des Südens ist, persönlicher als die, die man dadurch erregt, daß man ein Sohn eines der größten Unternehmer ist? Arnheim trug in jener Zeit, wo sich fast alle modischen Männer glatt rasieren ließen, genau so wie früher einen kleinen, spitzen Kinn- und einen kurz geschorenen Schnurrbart: dieses kleine, fremd ansitzende und doch zu ihm gehörende Gefühl in seinem Gesicht erinnerte ihn, aus Gründen, die ihm selbst nicht klar waren, wenn er allzu selbstvergessen vor eifrigen Zuhöreren sprach, in einer angenehmen Weise an sein Geld.


Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 92

Mittwoch, 6. Juli 2011

Nico - Afraid

Worte

springen wie die Affen von Baum zu Baum, aber in dem dunklen Bereich, wo man wurzelt, entbehrt man ihrer freundlichen Vermittlung.

Robert Musil, Mann ohne Eigenschaften