Dienstag, 24. Juli 2012

Honoré de Balzac: Das Künstlerleben

Der Künstler ist die Ausnahme. Sein Müßiggang ist Arbeit, seine Arbeit Erholung. Er ist elegant oder nachlässig, wie's gerade kommt. Er zieht nach seinem Belieben die Arbeiterbluse an oder entschließt sich zu dem Frack, den der Weltmann trägt. Er beugt sich nicht den Gesetzen, er zwingt sie den Menschen auf. Ob er sich damit beschäftigt, nichts zu tun oder ein Meisterwerk erwägt, ohne dabei beschäftigt zu erscheinen, ob er, meinetwegen mit einem Stück Holz, ein Pferd lenkt oder mit großen Zügeln die vier Pferde einer Britschka, ob er keine fünfundzwanzig Centimes in der Tasche hat oder das Gold mit vollen Händen von sich wirft – er ist immer Ausdruck eines großen Gedankens und beherrscht die Gesellschaft.
Als Mr. Peel zum Grafen Chateuabriand ins Zimmer trat, fand er ein Arbeitszimmer, in dem alle Möbel aus Eichenholz waren. Der Gesandte, der dreißigfacher Millionär war, spürte sofort, daß alle goldenen und silbernen, noch so massiven Möbel, die England besitzt, an dieser Einfachheit gemessen, gar nichts mehr bedeuteten.
Der Künstler ist immer groß. Er hat seine eigene Eleganz und sein eigenes Leben, denn alles an ihm zeigt den Reflex seiner Geisteskräfte und seines Ruhmes. Soviel Künstler es gibt, so viel Leben gibt es, die von neuen Ideen durchsetzt sind. In ihrer Existenz hat die fashion keine Macht: diese ungezähmten Wesen ändern alles nach ihrem Geschmack. Wenn sie sich einer Pagode bemächtigen, dann tun sie das, um sie eben nach ihrem Sinn zu ändern. Aus dieser Lehre ergibt sich ein Aphorismus von Gültigkeit für ganz Europa: Ein Künstler lebt wie er mag, oder . . . wie er eben kann.

Freitag, 6. Juli 2012

enttäuschte Eltern, bipolare Kinder

Die Generation einer wirtschaftlichen Depression kann die Generation des Wirtschaftswunders nur enttäuschen

Donnerstag, 5. Juli 2012

Über Tradition - Kapitel 8/8

Nicht minder dialektisch als die Stellung der authentischen Gebilde zur Kritik ist die der Autoren. So wenig wie je muß ein Dichter Philosoph sein; so wenig wie je darf er es, wenn damit die Verwechslung des hineingepumpten Sinngehalts, für den mit Recht nur noch das grauslige Wort Aussage übrig ist, mit dem Wahrheitsgehalt der Sache gemeint wird. Leidenschaftlich wehrt Beckett jede Besinnung über den vermeintlichen Symbolgehalt seines Schaffens von sich ab: der Gehalt ist, daß kein Gehalt positiv vor Augen steht. Gleichwohl hat in der Stellung der Autoren zu dem, was sie tun, etwas Konstitutives sich geändert. Daß sie weder in Tradition mehr sich finden, noch im Vakuum operieren können, zerschlägt den mit Tradition so innig verwachsenen Begriff künstlerischer Naivetät. In der unumgänglichen Reflexion, was möglich, was nicht mehr möglich sei; in der hellen Einsicht in Techniken und Materialien und die Stimmigkeit ihres Verhältnisses konzentriert sich geschichtliches Bewußtsein. Es räumt radikal mit der Schlamperei auf, der Mahler die Tradition gleichsetzte. Aber im traditionsfeindlichen Bewußtsein des Fälligen überlebt auch die Tradition. Das Verhältnis des Künstlers zu seinem Werk ist ganz blind geworden und ganz durchsichtig in eins. Wer traditionell derart sich verhält, daß er spricht, wie er sich einbildet, daß der Schnabel ihm gewachsen sei, wird im Wahn der Unmittelbarkeit seiner Individualität erst recht schreiben, was nicht mehr geht. Damit jedoch triumphiert nicht der sentimentalisch reflektierende Künstler, dessen Typus das ästhetische Selbstverständnis seit Klassizismus und Romantik der Naivetät kontrastiert hatte. Er wird Gegenstand einer zweiten Reflexion, die ihm das sinnsetzende Recht, das auf die "Idee", entzieht, welches der Idealismus ihm zugesprochenen hatte. Insofern kovergiert das fortgeschrittene ästhetische Bewußtsein mit dem naiven, dessen begriffslose Anschauung keinen Sinn sich anmaßte und vielleicht darum zuzeiten ihn gewann. Aber auch auf diese Hoffnung ist kein Verlaß mehr. Dichtung errettet ihren Wahrheitsgehalt nur, wo sie in engstem Kontakt mit der Tradition diese vons ich abstößt. Wer die Seligkeit, die sie in manchen ihrer Bilder stets noch verheißt, nicht verraten will, die verschüttete Möglichkeit, die unter ihren Trümmern sich birgt, der muß von der Tradtition sich abkehren, welche Möglichkeit und Sinn zur Lüge mißbraucht. Wiederzukehren vermag Tradition einzig in dem, was unerbittlich ihr sich versagt. 

Adorno, Ohne Leitbild

Mittwoch, 4. Juli 2012

Dienstag, 3. Juli 2012

Rainer Werner Fassbinder

"Im Moment kann ich mir das immer
nur vorstellen als Gegenmodell, und
dann ist es falsch. Das ist klar. Bei
einem Gegenmodell hat es eben auch 
das in sich, wogegen es ist."

Über Tradition - Kapitel 7

Das kritische Verhältnis zur Tradition als Medium ihrer Bewahrung betrifft keineswegs bloß das Vergangene, sondern ebenso die der Qualität nach gegenwärtige Produktion. Soweit sie authentisch ist, beginnt sie nicht frisch-fröhlich von vorn, übertrumpft nicht eine ersonne Verfahrensweise durch die nächste. Vielmehr ist sie bestimmte Negation. Die Bühnenwerke Becketts bilden in all ihren Perspektiven die traditionelle dramatische Form parodisch um. Die furchtbaren Spiele, in denen mit tierisch-komischen Ernst Gummigewichte gestemmt werden und an deren Schluß alles bleibt, wie es von Anfang an war, replizieren auf die Vorstellungen von steigender und fallender Handlung, Peripetie, Katastrophe, Entwicklung der Charaktere. Solche Kategorien sind scheinhafter Überbau über dem geworden, was wirklich Mitleid und Furcht erregt, dem Immergleichen. Der Zusammensturz jenes Überbaus in seiner leibhaft gegenwärtigen Kritik gibt Stoff und Gehalt einer Dramatik ab, die nicht wissen will, was es ist, was sie sagt. Insofern ist der sei's auch clichéhafte Begriff Antidrama nicht schlecht gewählt, auch nicht der des Antihelden. Die Zentralfiguren bei Beckett sind nur schlotternde Vogelscheuchen des Subjekts, das einmal die Szene beherrschte. Die Clownerie, die sie betreiben, hält Gericht über das Ideal der selbstherrlichen Persönlichkeit, die bei Beckett verdientermaßen zugrunde geht. Das Wort absurd, das für seine Dramatik und die ihr verpflichtete sich eingebürgert hat, ist gewiß inferior. Dem konventionellen gesunden Menschenverstand, dem hier der Prozeß gemacht wird, konzediert es allzuviel; tut so, als sei das Absurde die Gesinnung solcher Kunst, nicht das objektive Unwesen, das sie entblößt. Einverstandenes Bewußtsein versucht, noch das ihm Unversöhnliche zu verschlucken. Dennoch ist selbst die peinliche Parole nicht durchaus falsch. Sie designiert die fortgeschrittene Literatur als konkret durchgeführte Kritik des traditionellen Begriffs von Sinn, dem des Weltlaufs, den bis dahin die sogenannte hohe Kunst, auch und gerade wo sie Tragik als ihr Gesetz erkor, bestätigte. Das affirmative Wesen der Tradition bricht zusammen. Tradtition selbst behauptet durch ihre pure Existenz, daß im zeitlich aufeinander Folgenden Sinn sich erhalt, forterbe. Soweit die neue Literatur zählt, rüttelt sie, analog übrigens zur Musik und Malerei, an der Ideologie des Sinns dessen, was in der Katastrophe dessen Schein so gründlich abwarf, daß der Zweifel daran auch den vergangenen in sich hineinreißt. Sie kündigt die Tradition und folgt ihr doch: Hamlets Frage nach Sein oder Nichtsein nimmt sie so buchstäblich, daß sie die Anwort Nichtsein sich zutraut, die in der Tradition so wenig ihren Ort hatte wie im Märchen der Sieg des Ungeheuers über den Prinzen. Derlei produktive Kritik bedarf nicht erst der philosophischen Reflexion. Sie wird geübt von den exakt reagierenden Nerven der Künstler und ihrer technischen Kontrolle. Beides ist gesättigt mit geschichtlicher Erfahrung. Jede von Becketts Reduktionen setzt die äußerste Fülle und Differenziertheit voraus, die er verweigert und die er in den Müllkästen, Sandhaufen und Urnen krepieren läßt, bis in die Sprachform und die beschädigten Witze hinein. Dem verwandt ist das Ungenügen der neuen Romanciers an der Fiktion jenes Guckkastens, in den sie hineinschauen und über den sie alles wissen. All das reibt sich an der Tradition, ärgert sich an ihr als an dem Ornament, der täuschenden Herstellung eines Sinns, der nicht ist. Ihm halten sie die Treue, indem sie es verschmähen, ihn vorzuspiegeln.

Adorno, Prismen ohne Leitbild