Freitag, 31. Dezember 2010

Mittwoch, 29. Dezember 2010

Macht der Monotonie

Wer angesichts der Macht der Monotonie noch zweifelt, ist ein Narr.

Adorno

Dienstag, 28. Dezember 2010

Samstag, 25. Dezember 2010

Donnerstag, 23. Dezember 2010

Zwang zur Anpassung

Daß der Faschismus nachlebt; daß die vielzitierte Aufarbeitung der Vergangenheit bis heute nicht gelang und zu ihrem Zerrbild, dem leeren und kalten Vergessen, ausartete, rührt daher, daß die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten. Er kann nicht wesentlich aus subjektiven Dispositionen abgeleitet werden. Die ökonomische Ordnung und, nach ihrem Modell, weithin auch die ökonomische Organisation verhält nach wie vor die Majorität zur Abhängigkeit von Gegebenheiten, über die sie nichts vermag, und zur Unmündigkeit. Wenn sie leben wollen, bleibt ihnen nichts übrig, als dem Gegebenen sich anzupassen, sich zu fügen; sie müssen eben jene autonome Subjektivität durchstreichen, an welche die Idee von Demokratie appelliert, können sich selbst erhalten nur, wenn sie auf ihr Selbst verzichten. Den Verblendungszusammenhang zu durchschauen, mutet ihnen eben die schmerzliche Anstrengung der Erkenntnis zu, an welcher die Einrichtung des Lebens, nicht zuletzt die zur Totalität aufgeblähte Kulturindustrie, sie hindert.
Die Notwendigkeit solcher Anpassung, die zur Identifikation mit Bestehendem, Gegebenem, mit Macht als solcher, schafft das totalitäre Potential. Es wird verstärkt von der Unzufriedenheit und der  Wut, die der Zwang zur Anpassung selber produziert und reproduziert. Weil die Realität jene Autonomie, schließlich jenes mögliche Glück nicht einlöst, das der Begriff von Demokratie eigentlich verspricht, sind sie indifferent gegen diese, wofern sie sie nicht insgeheim hassen. Die politische Organisationsform wird als der gesellschaftlichen und ökonomischen Realität unangemessen erfahren; wie man selber sich anpassen muß, so möchte man, daß auch die Formen des kollektiven Lebens sich anpassen, um so mehr, als man von solcher Anpassung das streamlining des Staatswesens als eines Riesenunternehmens im keineswegs so friedlichen Wettbewerb aller sich erwartet. Die, deren reale Ohnmacht andauert, ertragen das Bessere nicht einmal als Schein; lieber möchten sie die Verpflichtung zu einer Autonomie loswerden, von der sie argwöhnen, daß sie ihr doch nicht nachleben können, und sich in den Schmelztiegel des Kollektiv-Ichs werfen.
Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit (S.566-567)

Auszug aus Poe's Ligeia

Unter den zahlreichen und unverständlichen Anomalien in der Wissenschaft der Psychologie gibt es wohl keinen Punkt, der uns mehr beschäftigen und erregen könnte als die Tatsache, daß wir, wenn wir uns auf etwas lang Vergessenes besinnen wollen, oft bis dicht an die Ufer der Erinnerung kommen, ohne uns in Wirklichkeit und völlig erinnern zu können. Und wie oft fühlte ich , wenn ich so saß und über Ligeias Augen nachsann, wie die Erkenntnis der Bedeutung ihres Ausdrucks bis dicht an mich herankam! Ich fühlte, wie sie sich näherte, ohne mich jemals zu erreichen, wie sie vollständig entschwand, da ich sie eben zu erfassen glaubte! Und seltsames, oh, seltsamstes aller Geheimnisse: ich habe in den gewöhnlichsten Gegenständen auf der Welt eine ganze Reihe von Analogien für diesen Ausdruck gefunden. Ich meine damit, daß ich nach der Zeit, in der Ligeias Schönheit meinen Geist durchdrungen hatte und in diesem wie in einem Reliquienschrein ruhte, beim Anblick verschiedener Erscheinungen der äußeren Welt eine Empfindung verspürte, die der ähnlich war, die sich unter dem Einfluß ihrer großen, leuchtenden Pupillen über mich und in mir verbreitete. Doch ist es mir ganz unmöglich, dies Gefühl zu definieren oder zu analysieren; ich kann nicht einmal behaupten, daß ich es genau empfunden habe. Ich glaubte es nur zuweilen in dem Anblick einer schnell emporgeschossenen Weinrebe wiederzuerkennen oder in der Betrachtung eines Falters, einer Larve, eines schnell dahinschießenden Wassers. Ich fand es im Ozean wieder oder beim Fall eines Meteors, ich empfand es in den Blicken mancher außerordentlich alter Menschen. Am Firmament gibt es einen oder zwei Sterne (ich denke besonders an ein flackerndes Doppelgestirn sechster Größe, das man am nördlichen Himmel nahe bei der Leier finden wird), die in mir, so oft ich sie durch das Teleskop betrachtete, eine gleiche Empfindung herstellten. Ich fühlte mich von ihr durchdrungen bei gewissen Tönen von Saiteninstrumenten und manchmal auch bei Stellen aus meiner Lektüre. Unter zahlreichen Beispielen erinnere ich mich besonders lebhaft einiger Sätze aus einem Buche Glanvills, die (vielleicht nur wegen ihrer Bizarrerie - wer weiß?) mit Sicherheit dies Gefühl in mir erweckten › ... Und der Wille liegt darin, der nicht stirbt. Wer kennt die Geheimnisse des Willens und seine Macht? Denn Gott ist nur ein großer Wille, der alle Dinge mit der ihm eigenen Kraft durchdringt. Lediglich aus Willensschwäche überliefert sich der Mensch dem Tode.‹

Edgar Allan Poe, Ligeia

Dienstag, 21. Dezember 2010

Blaise Pascal

Nous ne nous contentons pas de la vie que nous avons en nous et en notre propre être: nous voulons vivre dans l'idée des autres une vie imaginaire, et nous nous efforçons pour cela de paraître.

Donnerstag, 16. Dezember 2010

Gonella, der Hofnarr der Este


„Was ich aber billig als das Geheimnis meiner Familie bewahren sollte, ist dieses: dass ich in allen meinen Ausbildungen den Anstand der Dummheit behalte. Dieser Anschein - das wahre Goffo (Unbeholfenheit) - schattiert alle meine Gemälde und rettet mir meinen Rücken. Ein Mann der das Unglück hat, Verstand zu besitzen und den auch fein auszudrücken, wird allemal wohl daran tun, fürstlicher Torheiten zu schonen. In meiner Einfalt kann ich die höchsten und niedrigsten Fehler kühn aufdecken, ohne die Betroffenen zu verbittern. Er wird sich schämen, sich von einem Narren beleidigt zu halten und doch das Seinige daraus nehmen, so wie der Gelehrte das Lob des kleinen Geistes verachtet und es doch heimlich zu seinem allgemeinen Beifall rechnet. Dumme Leute loben nach ihren Empfindungen, kluge nach ihren Absichten. Daher haben sich zu allen Zeiten die klügsten Leute bisweilen als Narren und Wahnsinnige gestellt, um gewisse Endzwecke auszuführen, woran sie sich nicht hätten wagen dürfen, wenn man als kluge Leute betrachtet hätte, die den völligen Gebrauch ihres Verstandes besessen."

Montag, 13. Dezember 2010

Humor unter Tränen

Wo weder zum Weinen Kraft ist noch zum Lachen, lächelt der Humor unter Tränen.

Karl Kraus
Denn die Weltgeschichte ist mindestens zur Hälfte eine Liebesgeschichte!

Robert Musil

Sonntag, 12. Dezember 2010

Freitag, 10. Dezember 2010

"...in our so very civilized society it is necessary for me to live the life of a savage. I must be free even of governments. The people have my sympathies, I must address myself to them directly."
Gustave Courbet

Samstag, 4. Dezember 2010

Auszug Kapitel 8: Kakanien

In dem Alter, wo man noch alle Schneider- und Barbierangelegenheiten wichtig nimmt und gerne in den Spiegel blickt, stellt man sich oft auch einen Ort vor, wo man sein Leben zubringen möchte, oder wenigstens einen Ort wo es Stil hat, zu verweilen, selbst wenn man fühlt, daß man für seine Person nicht gerade gern dort wäre. Eine solche soziale Zwangsvorstellung ist nun schon seit langem eine Art überamerikanische Stadt, wo alles mit der Stoppuhr in der Hand eilt oder stillsteht. Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andere; man springt an den Knotenpunkten von einem Bewegungsapparat in den andern, wird von deren Rhythmus, der zwischen zwei losdonnernden Geschwindigkeiten eine Synkope, eine Pause, eine kleine Kluft von zwanzig Sekunden macht, ohne Überlegung angesaugt und hineingerissen, spricht hastig in den Intervallen dieses allgemeinen Rhythmus miteinander ein paar Worte. Fragen und Antworten klinken ineinander wie Maschinenglieder, jeder Mensch hat nur ganz bestimmte Aufgaben, die Berufe sind an bestimmten Orten in Gruppen zusammengezogen, man ißt während der Bewegung, die Vergnügungen sind in andern Stadtteilen zusammengezogen, und wieder anderswo stehen die Türme, wo man Frau, Familie, Grammophon und Seele findet. Spannung und Abspannung, Tätigkeit und Liebe werden zeitlich genau getrennt und nach gründlicher Laboratoriumserfahrung ausgewogen. Stößt man bei irgendeiner dieser Tätigkeiten auf Schwierigkeit , so läßt man die Sache einfach stehen; denn man findet eine andere Sache oder gelegentlich einen besseren Weg, oder ein anderer findet den Weg, den man verfehlt hat; das schadet gar nichts, während durch nichts so viel von der gemeinsamen Kraft verschleudert wird wie durch die Anmaßung, daß man berufen sei, ein bestimmtes persönliches Ziel nicht locker zu lassen. In einem von Kräften durchflossenen Gemeinwesen führt jeder Weg an ein gutes Ziel, wenn man nicht zu lange zaudert und überlegt. Die Ziele sind kurz gesteckt; aber auch das Leben ist kurz, man gewinnt ihm so ein Maximum des Erreichens ab, und mehr braucht der Mensch nicht zu seinem Glück, denn was man erreicht, formt die Seele, während das was man ohne Erfüllung will, sie nur verbiegt; für das Glück kommt es sehr wenig auf das an, was man will, sondern nur darauf, daß man es erreicht. Außerdem lehrt die Zoologie, daß aus einer Summe von reduzierten Individuen sehr wohl ein geniales Ganzes bestehen kann.
Es ist gar nicht sicher, daß es so kommen muß, aber solche Vorstellungen gehören zu den Reiseträumen, in denen sich das Gefühl der rastlosen Bewegung spiegelt, die uns mit sich führt. Sie sind oberflächlich, unruhig und kurz. Weiß Gott, was wirklich werden wird. Man sollte meinen, daß wir in jeder Minute den Anfang in der Hand haben und einen Plan für uns alle machen müßten. Wenn uns die Sache mit den Geschwindigkeiten nicht gefällt, so machen wir doch eine andere! Zum Beispiel eine ganz langsame, mit einem schleierig wallenden, meerschneckenhaft geheimnisvollen Glück und dem tiefen Kuhblick, von dem schon die Griechen geschwärmt haben. Aber so ist es ganz und gar nicht. Die Sache hat uns in der Hand. Man fährt Tag und Nacht in ihr und tut noch alles andre darin; man rasiert sich, man ißt, man liebt, man liest Bücher, man übt seinen Beruf aus, als ob die vier Wände stillstünden, und das Unheimliche ist bloß, daß die Wände fahren, ohne daß man es merkt, und ihre Schienen vorauswerfen, wie lange tastend gekrümmte Fäden, ohne daß man weiß wohin. Und überdies will man ja womöglich selbst noch zu den Kräften gehören, die den Zug der Zeit bestimmen. Das ist eine sehr unklare Rolle, und es kommt vor, wenn man nach längerer Pause hinaussieht, daß sich die Landschaft geändert hat, was da vorbeifliegt, fliegt vorbei, weil es nicht anders sein kann, aber bei aller Ergebenheit gewinnt ein unangenehmes Gefühl immer mehr Gewalt, als ob man über das Ziel hinausgefahren oder auf eine falsche Strecke geraten wäre. Und eines Tages ist das stürmische Bedürfnis da: Aussteigen! Abspringen! Ein Heimweh nach Aufgehaltenwerden, Nichtsichentwickeln, Steckenbleiben, Zurückkehren zu einem Punkt, der vor der falschen Abzweigung liegt! Und in der guten alten Zeit, als es das Kaisertum Österreich noch gab, konnte man in einem solchen Falle den Zug der Zeit verlassen, sich in einen gewöhnlichen Zug einer gewöhnlichen Eisenbahn setzen und in die Heimat zurückfahren…

Robert Musil, Mann ohne Eigenschaften

Freitag, 3. Dezember 2010

Realismus - Surrealismus

Realismus: die Lehre von der Wand zwischen der äußeren und meiner inneren Realität;
Surrealismus: der Versuch meine innere Realität über die äußere zu stülpen...

Sonntag, 28. November 2010

die Pendelbewegungen der Seele

Er stand hinter einem der Fenster, sah durch den zartgrünen Filter der Gartenluft auf die bräunliche Straße und zählte mit der Uhr seit zehn Minuten die Autos, die Wagen, die Trambahnen und die von der Entfernung ausgewaschenen Gesichter der Fußgänger, die das Netz des Blicks mit quirlender Eile füllten; er schätzte die Geschwindigkeiten, die Winkel, die lebendige Kräfte vorüberbewegter Massen, die das Auge blitzschnell nach sich ziehen, festhalten, loslassen, die während einer Zeit, für die es kein Maß gibt, die Aufmerksamkeit zwingen, sich gegen sie zu stemmen, abzureißen, zum nächsten zu springen und sich diesem nachzuwerfen; kurz, er steckte, nachdem er eine Weile im Kopf gerechnet hatte, lachend die Uhr in die Tasche und stellte fest, daß er Unsinn getrieben habe. - Könnte man die Sprünge der Aufmerksamkeit messen, die Leistungen der Augenmuskeln, die Pendelbewegungen der Seele und alle die Anstrengungen, die ein Mensch vollbringen muß, um sich im Fluß einer Straße aufrecht zu halten, es käme vermutlich - so hatte er gedacht und spielend das Unmögliche zu berechnen versucht - eine Größe heraus, mit der verglichen die Kraft, die Atlas braucht, um die Welt zu stemmen, gering ist, und man könnte ermessen, welche ungeheure Leistung heute schon ein Mensch vollbringt, der gar nichts tut.

Robert Musil

Samstag, 27. November 2010

Falsche Träume

Wo ist es hin?
War es jemals da?
Wäre es irgendwann möglich?
Könnte es sein?
Sind unsere Träume schuld?
Weil wir sie haben?
Können wir was dafür?
Treibt sie uns aus!
Dann wäre alles gut,
so wie es ist.

Donnerstag, 25. November 2010

Kunst ist wie ein Liebesbrief, der nicht mehr weiß an wen er sich richten soll.
Es gibt nichts, was sich in den heutigen Tagen leichter ermessen läßt, als einen allgemeinen Frust...

Mittwoch, 24. November 2010

Es gibt Menschen, die putzen sogar die Peitsche ihres Peinigers.

Dienstag, 23. November 2010

Niemals findet sich ein Mensch selbst völlig feig; denn wenn er vor etwas erschrickt, so läuft er genau so weit davon, daß er sich wieder als Held vorkommt!

Robert Musil

Montag, 22. November 2010

Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben

Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muß man die Tatsache achten, daß sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz, nach dem der alte Professor immer gelebt hatte, ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.
Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. Man sieht, daß die Folgen solcher schöpferischen Anlage bemerkenswert sein können, und bedauerlicherweise lassen sie nicht selten das, was die Menschen bewundern, falsch erscheinen und das, was sie verbieten, als erlaubt oder wohl auch beides als gleichgültig. Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kinder, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwächling und Besserwisser oder Krittler.
Wenn man sie loben will, nennt man diese Narren auch Idealisten, aber offenbar ist mit alledem nur ihre schwache Spielart erfaßt, welche die Wirklichkeit nicht begreifen kann oder ihr wehleidig ausweicht, wo also das Fehlen des Wirklichkeitssinns wirklich einen Mangel bedeutet. Das Mögliche umfaßt jedoch nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes. Ein mögliches Erlebnis oder eine mögliche Wahrheit sind nicht gleich wirklichem Erlebnis und wirklicher Wahrheit weniger dem Werte des Wirklichseins, sondern sie haben, wenigstens nach Ansicht ihrer Anhänger etwas sehr Göttliches in sich, ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen und bewußten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt. Schließlich ist die Erde gar nicht alt und war scheinbar noch nie so recht in gesegneten Umständen. Wenn man nun in bequemer Weise die Menschen des Wirklichkeits- und des Möglichkeitssinns voneinander unterscheiden will, so braucht man bloß an einen bestimmten Geldbetrag zu denken. Alles, was zum Beispiel tausend Mark an Möglichkeiten überhaupt enthalten, enthalten sie doch ohne Zweifel, ob man sie besitzt oder nicht; die Tatsache, daß er Herr Ich oder Herr Du sie besitzen, fügt ihnen so wenig etwas hinzu wie einer Rose oder einer Frau. Aber ein Narr steckt sie in den Strumpf, sagen die Wirklichkeitsmenschen, und ein Tüchtiger schafft etwas mit ihnen; sogar der Schönheit einer Frau wird unleugbar von dem, der sie besitzt, etwas hinzugefügt oder genommen. Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeiten weckt, und nichts wäre so verkehrt, wie das zu leugnen. Trotzdem werden es in der Summe oder im Durchschnitt immer die gleichen Möglichkeiten bleiben, die sich wiederholen, so lange bis ein Mensch kommt, dem eine wirkliche Sache nicht mehr bedeutet als eine gedachte. Er ist es, der den neuen Möglichkeiten erst ihren Sinn und ihre Bestimmung gibt, und er erweckt sie.
Ein solcher Mann ist aber keineswegs eine sehr eindeutige Angelegenheit. Da seine Ideen, soweit sie nicht müßige Hirngespinste bedeuten, nichts als noch nicht geborene Wirklichkeiten sind, hat natürlich auch er Wirklichkeitssinn; aber es ist ein Sinn für die mögliche Wirklichkeit und kommt viel langsamer ans Ziel als der den meisten Menschen eignende Sinn für ihre wirklichen Möglichkeiten. Er will gleichsam den Wald, und der andere die Bäume; und Wald, das ist etwas schwer Ausdrückbares, wogegen Bäume soundsoviel Festmeter bestimmter Qualität bedeuten. Oder vielleicht sagt man es anders besser, und der Mensch mit gewöhnlichem Wirklichkeitssinn gleicht einem Fisch, der nach der Angel schnappt und die Schnur nicht sieht, während der Mann mit jenem Wirklichkeitssinn, den man auch Möglichkeitssinn nennen kann, eine Schnur durchs Wasser zieht und keine Ahnung hat, ob ein Köder daran sitzt. Einer außerordentlichen Gleichgültigkeit für das auf den Köder beißende Leben steht bei ihm die Gefahr gegenüber, völlig spleenige Dinge zu treiben. Ein unpraktischer Mann – und so erscheint er nicht nur, sondern ist er auch – bleibt unzuverlässig und unberechenbar im Verkehr mit Menschen. Er wird Handlungen begehen, die ihm etwas anderes bedeuten als anderen, aber beruhigt sich über alles, sobald es sich in einer außerordentlichen Idee zusammenfassen läßt. Und zudem ist er heute von Folgerichtigkeit noch weit entfernt. Es ist etwa sehr leicht möglich, daß ihm ein Verbrechen, bei dem ein anderer zu Schaden kommt, bloß als eine soziale Fehlleistung erscheint, an der nicht der Verbrecher die Schuld trägt, sondern die Einrichtung der Gesellschaft. Fraglich ist es dagegen, ob ihm eine Ohrfeige, die er selbst empfängt, als eine Schmach der Gesellschaft oder wenigstens so unpersönlich wie der Biß eines Hundes vorkommen werde; wahrscheinlich wird er da zuerst die Ohrfeige erwidern und danach die Auffassung haben, daß er das nicht hätte tun sollen. Und vollends, wenn man ihm eine Geliebte fortnimmt, wird er heute noch nicht ganz von der Wirklichkeit dieses Vorgangs absehen und sich mit einem überraschenden, neuen Gefühl entschädigen können. Diese Entwicklung ist zurzeit noch im Fluß und bedeutet für den einzelnen Menschen sowohl eine Schwäche wie eine Kraft.
Und da der Besitz von Eigenschaften eine gewisse Freude an ihrer Wirklichkeit voraussetzt, erlaubt das den Ausblick darauf, wie es jemand, der auch sich selbst gegenüber keinen Wirklichkeitssinn aufbringt, unversehens widerfahren kann, daß er sich eines Tages als ein Mann ohne Eigenschaften vorkommt.

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 4, Seite 16-18

Freitag, 19. November 2010

Bange Stunde von Karl Kraus

Gebannt steh’ ich auf diesem Fleck
und kann nicht zurück und kann nicht weg
und suche mit dreimal flehenden Händen,
ein sicheres Schicksal abzuwenden.
Alles um mich in den bangen Stunden
hat Macht über mich, der gebannt und gebunden.
Gelingt’s mir, nur dies und nicht das zu denken.
So wird mich mein Wille zum Ausgang lenken,
und ich weiß mir, der Sklave dem Herren, Dank,
entrinn’ ich nur diesmal noch meinem Zwang.
Dort wäre der Weg: wo der Zweifel steht,
ob rechts oder links es sich besser geht.
Ich könnte fliegen, ich möchte eilen,
und geschwind noch beschwör’ ich die Zeit, zu verweilen.
Ich schlage mich durch, ich krieche und hinke,
wie fass’ ich die Klinke? Wie fasst mich die Klinke!
Schnell könnten drei Wünsche mir noch verderben:
Herrgott, so laß meine Freunde nicht sterben –
Was hälst du mich, scheinbare Vorhangfalte,
was will mir das Fiebergesicht, das alte –
Gott, rette mir jenen, behüte mir diesen,
bewahr ihm das Auge für Wunder und Wiesen –
wie kränkt’ ich mich damals, ich wollte nicht warten,
denn ich war krank und die andern im Garten,
eine Spieldose hat die Gavotte gespielt,
ein Gesicht im Vorhang hat nach mir gezielt –
Gott, hilf ihnen, die die Zeit mir verwehte,
und die längst nicht glauben, daß ich für sie bete,
und jenen, die du zu dir schon entboten,
vergiß nicht die Toten, vergiß nicht die Toten!
der Einen aber hier auf dem Bilde,
es lächelt zu meinem Aufruhr so milde,
und dieser aber, o daß ich’s nicht dächte,
wenn nicht das Denken Erfüllung mir brächte,
ihr mögest du Leben und Leben und Leben
in vielfach lebendiger Fülle geben
und wirken, daß ihr in unendlichen Lenzen
wie Sonne und Mond die Züge erglänzen,
und für mich selbst, o hör den unendlichen Jammer,
bitt’ ich, daß ich in dieser Kammer,
geschmiedet in aller Erden Qual
mich zu Formen erlöse ohne Zahl,
und aus dem vorbestimmten Kreise
mir erbarmungslos und ausnahmsweise
gestattet wäre zu entrinnen,
um immer von neuem zu beginnen,
denn es lähmt mir das Herz, daß einst hinter mir
sich schließe die vorbereitete Tür,
und an dem Gedanken, mich nicht zu beerben,
würd’ ich ganz sicher noch einmal sterben!
Laß es nicht zu und lasse mich bleiben,
und bin ich erst fertig, beginn’ ich zu schreiben,
denn dem das Wort den Ursinn gelichtet,
sieh, der hat nie zu Ende gedichtet,
und war ich stets des Anfangs gewärtig,
war Leben im Wort: so werd’ ich nicht fertig!
Hier ist mir ein heiliges Räthsel gewesen,
ich habe in Hieroglyphen gelesen.
Nie lass’ ich das dreimal lebendige Wort,
verstummend in dein undenkliches Dort,
nie lass’ ich den Streit und Zweifel hiernieden
für jenen unwiderleglichen Frieden.
Nie mögst du von diesem Sessel mich heben.
Lieber den Tod als nicht mehr zu leben!
Nicht feige fleh’ ich um meine Errettung;
Doch hängen in blutig gespürter Verkettung
An meiner Gestalt die vielen Gestalten,
die du zu bewahren mir vorbehalten,
und in dem schmerzbeseligten Bund
unzählige Stimmen an meinem Mund.
Sie nachzuschaffen hast du mich gelehrt,
die von dir sich zum eigenen Abbild verkehrt;
und gleich’ ich nicht jenen, die du erschaffen,
so kannst du mich nicht zu dir entraffen.
Drum laß aus dem marschbereiten Haufen
Zurück mich in deine Ewigkeit laufen,
und gib mich mir wieder Stück um Stück!
Mit Macht reiß’ ich sonst mein Gedächtnis zurück,
um nimmer zu denken, was noch nicht geschah –
ich will ja nicht weg, ich bleibe doch da!
Was ist das nur heut, was ist das nur hier,
wie dreht sich und droht mir, wie knarrt mir die Tür,
wie rennt mir die Stunde in rasendem Lauf,
wie halten mich alle die Dinge hier auf,
und Falten und Kanten, sie starren mich an,
des Zufalls unseligsten Untertan!
Gebannt und gebunden steh’ ich auf dem Fleck,
und kann nicht zurück, und will nicht weg – .

Mittwoch, 17. November 2010

In der Welt ist immer die Lust, ein Herz zu kränken, weil eine Tasche beleidigt war.

Karl Kraus

Das Zeichen der Künstlerschaft

Das Zeichen der Künstlerschaft: Für sich aus dem Selbstverständlichen ein Problem machen und die Probleme der andern entscheiden; für andere wissen und sich selbst in die Hölle zweifeln; einen Diener fragen und einem Herrn antworten.

Karl Kraus

Samstag, 13. November 2010

The past is a grotesque animal- Of Montreal

The past is a grotesque animal
And in it's eyes you see
How completely wrong you can be..2x

The sun is out
It melts the snow that fell yesterday
Makes you wonder
Why it bothered
I fell in love
With the first cute girl that i met
Who could appreciate Georges Bataille
Standing at a Swedish festival
Discussing "story of the eye"..2x

It's so embarassing to need someone like i do you
How can i explain?
I need you here
And not here too..
How can i explain
I need you here
And not here too

I'm flunking out, i'm flunking out
I'm gone, i'm just gone
But at least i author my own disaster
At least i author my own disaster
Performance breakdown
And i don't wanna hear it
I'm just not available

Things could be different
But they're not...
Things could be different
But they're not

The mousey girl screams "violence, violence!"...2x
She gets hysterical
Cause they're both so mean
And it's my favorite scene
The cruelty's so predictable
Makes you sad on the stage

Though our love project has so much potential
But it's like we weren't made for this world
Though I wouldn't really wanna meet someone who was

Do I have to scream in your face?
I've been dodging lamps and vegetables
Throw it all in my face
I don't care-
Let's just have some fun
Let's tear the shit apart
Let's tear the fucking house apart
Let's tear our fucking bodies apart,
Let's just have some fun

Somehow you've red-rovered
The Gestapo circling my heart
And nothing can defeat you
No death, no ugly world
You've lived so brightly
You've altered everything

I find myself
Searching for old selves
While speeding forward
Through the plateglass of maturing cells

I fed the unraveler
The paw hellion
But even apocolypse is fleeting
There's no death, no ugly world
Sometimes i wonder if you're mythologizing me
Like i do you
Apologizing me like i do you

We want our film to be beautiful
Not realistic
See me in the radiance of terror dreams
You can betray me
You can, you can betray me
Teach me something wonderful

Crown my head crown my head
With your lilting effects
Project your fears onto me
I need to view them,
See there's nothing to them
I promise you there's nothing to them

I'm so touched by your goodness
You make me feel so criminal
How do you keep it together?
I'm all, all unraveled
But'cha know
No matter where we are
We're always touching by underground wires

I've explored you with the detachment
Of an analyst
But most nights
We've raided the same kingdoms
And none of our secrets are physical
None of our secrets, are physical
None of our secrets, are physical now

Freitag, 12. November 2010

Unsere bösen Wünsche sind die Schattenseiten unseres Lebens, das wir wirklich führen, und das Leben das wir wirklich führen, ist die Schattenseite unserer guten Wünsche.

Robert Musil
Was die Künstler machen müssen – und die Kritiker verteidigen und alle Demokraten in einem entschlossenen Kampf von unten unterstützen müssen -, sind Werke, die so extremistisch sind, dass sie selbst noch für die aufgeschlossensten Ansichten der neuen Macht(-haber) inakzeptabel sind.

Pier Paolo Pasolini

Mittwoch, 10. November 2010

Gibs auf!

Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, dass es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: "Von mir willst du den Weg erfahren?" "Ja", sagte ich, "da ich ihn selbst nicht finden kann." "Gibs auf, gibs auf", sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.

Kafka

Kunst ist Liebe

Kunst ist Liebe; indem sie liebt, macht sie schön, und es gibt vielleicht auf der ganzen Welt kein anderes Mittel, ein Ding oder Wesen schön zu machen, als es zu lieben.

Robert Musil

Dienstag, 9. November 2010

Es gibt ärgere Versäumnisse als ein Versäumnis der Post, und gewiß auch größere Tatsachen als eine Zeitungsbeschwerde. Aber die großen Ereignisse verdecken zu leicht das Antlitz der Zeit. Wenn's am lautesten zugeht, ist es am schwersten zu bestimmen, wo's am dümmsten ist. Erst wenn die Zeitungen Platz haben, isolieren sich die Vorkämpfer der Banalität und man erkennt die Typen, mit deren Dasein sich abzufinden nur dem geborenen Selbstmörder gelingt.

Karl Kraus

Montag, 8. November 2010

Es ist nicht notwendig, daß Du aus dem Haus gehst. Bleib bei Deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich Dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor Dir winden.

Kafka

Der Einsame

Verhaßt ist mir das Folgen und das Führen.
Gehorchen? Nein! Und aber nein - Regieren!
Wer sich nicht schrecklich ist, macht niemand Schrecken:
Und nur wer Schrecken macht, kann andre führen.
Verhaßt ist mirs schon, selber mich zu führen!
Ich liebe es, gleich Wald- und Meerestieren,
mich für ein gutes Weilchen zu verlieren,
in holder Irrnis grüblerisch zu hocken,
von ferne her mich endlich heimzulocken,
mich selber zu mir selber - zu verführen.

Nietzsche

Donnerstag, 4. November 2010

Die letzten Tage der Menschheit

von Karl Kraus
Vorwort

Die Aufführung des Dramas, dessen Umfang nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen würde, ist einem Marstheater zugedacht. Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten. Denn es ist Blut von ihrem Blute und der Inhalt ist von dem Inhalt der unwirklichen, undenkbaren, keinem wachen Sinn erreichbaren, keiner Erinnerung zugänglichen und nur in blutigem Traum verwahrten Jahre, da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten. Die Handlung, in hundert Szenen und Höllen führend, ist unmöglich, zerklüftet, heldenlos wie jene. Der Humor ist nur der Selbstvorwurf eines, der nicht wahnsinnig wurde bei dem Gedanken, mit heilem Hirn die Zeugenschaft dieser Zeitdinge bestanden zu haben. Außer ihm, der die Schmach solchen Anteils einer Nachwelt preisgibt, hat kein anderer ein Recht auf diesen Humor. Die Mitwelt, die geduldet hat, daß die Dinge geschehen, die hier aufgeschrieben sind, stelle das Recht, zu lachen, hinter die Pflicht, zu weinen. Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. Sätze, deren Wahnwitz unverlierbar dem Ohr eingeschrieben ist, wachsen zur Lebensmusik. Das Dokument ist Figur; Berichte erstehen als Gestalten, Gestalten verenden als Leitartikel; das Feuilleton bekam einen Mund, der es monologisch von sich gibt; Phrasen stehen auf zwei Beinen – Menschen behielten nur eines. Tonfälle rasen und rasseln durch die Zeit und schwellen zum Choral der unheiligen Handlung. Leute, die unter der Menschheit gelebt und sie überlebt haben, sind als Täter und Sprecher einer Gegenwart, die nicht Fleisch, doch Blut, nicht Blut, doch Tinte hat, zu Schatten und Marionetten abgezogen und auf die Formel ihrer tätigen Wesenlosigkeit gebracht. Larven und Lemuren, Masken des tragischen Karnevals, haben lebende Namen, weil dies so sein muß und weil eben in dieser vom Zufall bedingten Zeitlichkeit nichts zufällig ist. Das gibt keinem das Recht, es für eine lokale Angelegenheit zu halten. Auch Vorgänge an der Sirk-Ecke sind von einem kosmischen Punkt regiert. Wer schwache Nerven hat, wenn auch genug starke, die Zeit zu ertragen, entferne sich von dem Spiel. Es ist nicht zu erwarten, daß eine Gegenwart, in der es sein konnte, das wortgewordene Grauen für etwas anderes nehme als für einen Spaß, zumal dort, wo es ihr aus der anheimelnden Niederung der grausigsten Dialekte wiedertönt, und das eben Erlebte, Überlebte für etwas anderes als Erfindung. Für eine, deren Stoff sie verpönt. Denn über alle Schmach des Krieges geht die der Menschen, von ihm nichts mehr wissen zu wollen, indem sie zwar ertragen, daß er ist, aber nicht, daß er war. Die ihn überlebt haben, ihnen hat er sich überlebt, und gehen zwar die Masken durch den Aschermittwoch, so wollen sie doch nicht aneinander erinnert sein. Wie tief begreiflich die Ernüchterung einer Epoche, die, niemals ein Erlebnisses und keiner Vorstellung des Erlebten fähig, selbst von ihrem Zusammenbruch nicht zu erschüttern ist, von der Sühne so wenig spürt wie von der Tat, aber doch Selbstbewahrung genug hat, sich vor dem Phonographen ihrer heroischen Melodien die Ohren zuzuhalten, und genug Selbstaufopferung, um sie gegebenenfalls wieder anzustimmen. Denn daß Krieg sein wird, erscheint denen am wenigsten unfaßbar, welchen die Parole »Jetzt ist Krieg« jede Ehrlosigkeit ermöglicht und gedeckt hat, aber die Mahnung »Jetzt war Krieg!« die wohlverdiente Ruhe der Überlebenden stört. Sie haben den Weltmarkt – das Ziel, zu dem sie geboren wurden – in der Ritterrüstung zu erobern gewähnt; sie müssen mit dem schlechteren Geschäft vorlieb nehmen, sie auf dem Trödelmarkt zu verkaufen. In solcher Stimmung rede ihnen einer vom Krieg! Und es mag zu befürchten sein, daß noch eine Zukunft, die den Lenden einer so wüsten Gegenwart entsprossen ist, trotz größerer Distanz der größeren Kraft des Begreifens entbehre. Dennoch muß ein so restloses Schuldbekenntnis, dieser Menschheit anzugehören, irgendwo willkommen und irgendeinmal von Nutzen sein. Und »weil noch die Gemüter der Menschen wild sind«, sei, zum Hochgericht auf Trümmern, Horatios Botschaft an den Erneuerer bestellt:

Und laßt der Welt, die noch nicht weiß, mich sagen,
Wie alles dies geschah; so sollt ihr hören
Von Taten, fleischlich, blutig, unnatürlich,
Zufälligen Gerichten, blindem Mord;
Von Toden, durch Gewalt und List bewirkt,
Und Planen, die verfehlt, zurückgefallen
Auf der Erfinder Haupt: dies alles kann ich
Mit Wahrheit melden.

Mittwoch, 3. November 2010

Die Konsequenz allen Glaubens ist Ernüchterung und Nüchternheit ist aller Glaube Anfang.
Ausnahmsweise interessierte mich die Realität, weil sie, hervorgegangen aus der Phantasie, die mir die Liebe zu ihr einflösste, gewissermassen zu deren Rechtfertigung wurde, sie vertiefte.

Marcel Proust

Dienstag, 2. November 2010

Sie verkürzen sich die Zeit mit Kopfrechnen: er zieht die Wurzel aus ihrer Sinnlichkeit und sie erhebt ihn zur Potenz.

Karl Kraus

Montag, 1. November 2010

Liebe und Kunst

Liebe und Kunst umarmen nicht was schön ist, sondern was eben dadurch schön wird.

Karl Kraus

Freitag, 29. Oktober 2010

Die Liebe macht gleich

532.
"Die Liebe macht gleich". — Die Liebe will dem Andern, dem sie sich weiht, jedes Gefühl von Fremdsein ersparen, sie ist folglich voller Verstellung und Anähnlichung, sie betrügt fortwährend und schauspielert eine Gleichheit, die es in Wahrheit nicht gibt. Und dies geschieht so instinktiv, dass liebende Frauen diese Verstellung und beständige zarteste Betrügerei ableugnen und kühn behaupten, die Liebe mache gleich (das heißt sie tue ein Wunder!). — Dieser Vorgang ist einfach, wenn die eine Person sich lieben lässt und es nicht nötig findet, sich zu verstellen, vielmehr dies der anderen, liebenden überlässt: aber nichts Verwickelteres und Undurchdringbareres von Schauspielerei gibt es, als wenn beide in der vollen Leidenschaft für einander sind und folglich Jeder sich aufgibt und sich dem Anderen gleichstellen und ihm allein gleichmachen will: und keiner zuletzt mehr weiß, was er nachahmen, wozu er sich verstellen, als was er sich geben soll. Die schöne Tollheit dieses Schauspiels ist zu gut für diese Welt und zu fein für menschliche Augen.

Nietzsche

Samstag, 23. Oktober 2010

Flamme bin ich sicherlich

Ja, ich weiß, woher ich stamme,
Ungesättigt gleich der Flamme
Glühe und verzehr’ ich mich.
Licht wird alles was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse,
Flamme bin ich sicherlich.

Nietzsche

Donnerstag, 21. Oktober 2010

Das Leben bildet eine Oberfläche, die so tut, als ob sie so sein müßte, wie sie ist, aber unter ihrer Haut treiben und drängen die Dinge.

Robert Musil
Darum ist es das Lebenserhaltende schlechthin, daß es der Menschheit gelungen ist, anstatt dessen, «wofür es sich wirklich zu leben lohnt», das «dafür»leben zu erfinden, oder, mit anderen Worten, an die Stelle ihres Idealzustandes den ihres Idealismus zu setzen.

Robert Musil
Auch Glaube und Liebe sind bloß Gemütszustände, aber die Kontemplation schafft für sie das Bild einer ganzen Welt!

Robert Musil
… denn wenngleich sie sich in einer Hälfte ihres Lebens (die beendet war, was Swann betraf) von dem einzigen Grundsatz hatte leiten lassen, der ihr einleuchtete, und der lautete, dass man mit Männern, die einen lieben, anstellen könne, was einem beliebt, da sie „solche Dummbärte“ seien (ein Grundsatz, der sich in ihren Zügen durch ein boshaftes Zwinkern verriet, das zu sagen schien: „Seien Sie unbesorgt, er wird nichts zerschlagen“), hatte ihr eine Bildhauerin, die sie vor einigen Jahren kennengelernt hatte und der sie grosse Bewunderung entgegenbrachte, einen anderen Grundsatz erläutert, der Odette inzwischen oft in den Sinn kam, wenn von Swann die Rede war, worauf sie gelangweilt die Brauen verzog und die Schultern zuckte, als wolle sie sagen: „Nun ja, unmöglich ist nichts. Wundern würde es mich nicht!“, denn dieser zweite Grundsatz besagte, dass man bei Männern auf alles gefasst sein müsse, wenn sie nicht mehr verliebt sind, da sie solche Trottel seien.

Marcel Proust
Geliebt wirst du einzig wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.

Adorno, Minima Moralia

Dienstag, 19. Oktober 2010

Golden Gate.

– Dem Gekränkten, Zurückgesetzten geht etwas auf, so grell wie heftige Schmerzen den eigenen Leib beleuchten. Er erkennt, daß im Innersten der verblendeten Liebe, die nichts davon weiß und nichts wissen darf, die Forderung des Unverblendeten lebt. Ihm geschah unrecht; daraus leitet er den Anspruch des Rechts ab und muß ihn zugleich verwerfen, denn was er wünscht, kann nur aus Freiheit kommen. In solcher Not wird der Verstoßene zum Menschen. Wie Liebe unabdingbar das Allgemeine ans Besondere verrät, in dem allein jenem Ehre widerfährt, so wendet tödlich nun das Allgemeine als Autonomie des Nächsten sich gegen sie. Gerade die Versagung, in der das Allgemeine sich durchsetzte, erscheint dem Individuum als Ausgeschlossensein vom Allgemeinen; der Liebe verlor, weiß von allen sich verlassen, darum verschmäht er den Trost. In der Sinnlosigkeit des Entzuges bekommt er das Unwahre aller bloß individuellen Erfüllung zu spüren. Damit aber erwacht er zum paradoxen Bewußtsein des Allgemeinen: des unveräußerlichen und unklagbaren Menschenrechtes, von der Geliebten geliebt zu werden. Mit seiner auf keinen Titel und Anspruch gegründeten Bitte um Gewährung appelliert er an eine unbekannte Instanz, die aus Gnade ihm zuspricht, was ihm gehört und doch nicht gehört. Das Geheimnis der Gerechtigkeit in der Liebe ist die Aufhebung des Rechts, auf die Liebe mit sprachloser Gebärde deutet. "So muß übervorteilt / Albern doch überall sein die Liebe."

Adorno, Minima Moralia, 104

Sonntag, 17. Oktober 2010

ewig 'sinnlos' sinnlich sein

Mittwoch, 25. August 2010

Pfarrköchin von Georg Queri

Der Herr Bischof ist auf seiner Visitationsreis’ zum Pfarrer von Impenkett gekommen und hat alles schön gut und brav befunden an dem Seelsorger.

„Aber, daß Deine Köchin gar so viel jung ist, das will mir halt nit passen, Herr Pfarrer!“

„Ich tät schon eine ältere her, wann der Herr Bischof meint“, hat der Pfarrer gezittert.

„So, und wie alt wär die nachher?“

„Vielleicht wie ein altes Schweizer Kühle?“

„Ist recht“, hat der Bischof gesagt, „also wie ein altes Schweizer Kühle.“

Dann sind sie selbander in’s Wirtshaus gangen zum Vespern. Und den Kirchenpfleger hat der Herr Bischof auch zum Vespern mitgenommen.

„Kirchenpfleger“, hat er dann gesagt, aber so leis, daß es der Pfarrer nit hat hören können, „wie alt wird denn so eine Schweizer Kuh?“

„Wann s’ halt recht arg alt wird“, hat der Kirchenpfleger gemeint, „dann kann’s schon sein, daß sie ihre achtzehn Jahr auf den Buckel kriegt.“

Dienstag, 24. August 2010

Man ist viel mehr Künstler als man weiß

So wenig ein Leser heute die einzelnen Worte (oder gar Silben) einer Seite sämtlich abliest - er nimmt vielmehr aus zwanzig Worten ungefähr fünf nach Zufall heraus und "errät" den zu diesen fünf Worten mutmaßlich zugehörigen Sinn -, ebenso wenig sehen wir einen Baum genau und vollständig <> Selbst inmitten der seltsamsten Erlebnisse machen wir es noch ebenso: Wir erdichten uns den größten Teil des Erlebnisses und sind kaum dazu zu zwingen, nicht als "Erfinder" irgendeinem Vorgang zuzuschauen. Dies alles will sagen: Wir sind von Grund aus, von alters her - ans Lügen gewöhnt. Oder, um es tugendhafter und heuchlerischer, kurz angenehmer auszudrücken: Man ist viel mehr Künstler als man weiß.

Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse

Sonntag, 8. August 2010

Dies ist ein Gleichnis für jeden Einzelnen von uns:

er muss das Chaos in sich organisieren, dadurch dass er sich auf seine ächten Bedürfnisse zurückbesinnt. Seine Ehrlichkeit, sein tüchtiger und wahrhaftiger Charakter muss sich irgendwann einmal dagegen sträuben, dass immer nur nachgesprochen, nachgelernt, nachgeahmt werde; er beginnt dann zu begreifen, dass Cultur noch etwas anderes sein kann als Dekoration des Lebens, dass heisst im Grunde doch immer nur Verstellung und Verhüllung; denn aller Schmuck versteckt das Geschmückte. So entschleiert sich ihm der griechische Begriff der Cultur – im Gegensatz zu dem romanischen – der Begriff der Cultur als einer neuen und verbesserten Physis, ohne Innen und Aussen, ohne Verstellung und Convention, der Cultur als einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen. So lernt er aus seiner eignen Erfahrung, dass es die höhere Kraft der sittlichen Natur war, durch die die Griechen der Sieg über alle anderen Culturen gelungen ist, und dass jede Vermehrung der Wahrhaftigkeit auch eine vorbereitende Förderung der wahren Bildung sein muss: mag diese Wahrhaftigkeit auch gelegentlich der gerade in Achtung stehenden Gebildetheit ernstlich schaden, mag sie selbst einer ganzen dekorativen Cultur zum Falle verhelfen können.

Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Der Ausgestoßene

Räsonieren wir ohne Furcht, der Nebel wird sich schon halten.

Samuel Beckett

Mittwoch, 21. Juli 2010

Jenseits von Gut und Böse

Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske.

Nietzsche

Donnerstag, 1. Juli 2010

Rasenbank.

- Das Verhältnis zu den Eltern beginnt traurig, schattenhaft sich zu verwandeln. Durch ihre ökonomische Ohnmacht haben sie ihre Schrecken verloren. Einmal rebellierten wir gegen ihre Insistenz auf dem Realitätsprinzip, die Nüchternheit, die stets bereit war, in Wut gegen den Nicht-Entsagenden umzuschlagen. Heute aber finden wir uns einer angeblich jungen Generation gegenüber, die in jeder ihrer Regungen unerträglich viel erwachsener ist, als je die Eltern es waren; die entsagt hat, schon ehe es zum Konflikt überhaupt kam, und daraus ihre Macht zieht, verbissen autoritär und unerschütterlich. Vielleicht hat man zu allen Zeiten die Generation der Eltern als harmlos und entmächtigt erfahren, wenn ihre physische Kraft nachließ, während die eigene selber schon von der Jugend bedroht schien: in der antagonistischen Gesellschaft ist auch das Generationsverhältnis eines von Konkurrenz, hinter der die nackte Gewalt steht. Heute aber beginnt es auf einen Zustand zu regredieren, der zwar keinen Ödipuskomplex kennt, aber den Vatermord. Es gehört zu den symbolischen Untaten der Nazis, uralte Leute umzubringen. In solchem Klima stellt ein spätes und wissendes Einverständnis mit den Eltern sich her, das von Verurteilten untereinander, gestört nur von der Angst, wir möchten, selber ohnmächtig, einmal nicht fähig sein, so gut für sie zu sorgen, wie sie für uns sorgten, als sie etwas besaßen. Die Gewalt, die ihnen angetan wird, macht die Gewalt vergessen, die sie übten. Noch ihre Rationalisierungen, die ehemals verhaßten Lügen, mit denen sie ihr partikulares Interesse als allgemeines zu rechtfertigen suchten, zeigen die Ahnung der Wahrheit an, den Drang zur Versöhnung des Konflikts, den die positive Nachkommenschaft fröhlich verleugnet. Noch der verblasene, inkonsequente und sich selbst mißtrauende Geist der Älteren ist eher ansprechbar als die gewitzigte Stupidität von Junior. Noch die neurotischen Absonderlichkeiten und Mißbildungen der alten Erwachsenen repräsentieren den Charakter, das menschlich Gelungene, verglichen mit der pathischen Gesundheit, dem zur Norm erhobenen Infantilismus. Mit Schrecken muß man einsehen, daß man oft früher schon, wenn man den Eltern opponierte, weil sie die Welt vertraten, insgeheim das Sprachrohr der schlechteren Welt gegen die schlechte war. Unpolitische Ausbruchsversuche aus der bürgerlichen Familie führen in deren Verstrickung meist nur um so tiefer hinein, und manchmal will es scheinen, als wäre die unselige Keimzelle der Gesellschaft, die Familie, zugleich auch die hegende Keimzelle des kompromißlosen Willens zur anderen. Mit der Familie zerging, während das System fortbesteht, nicht nur die wirksamste Agentur des Bürgertums, sondern der Widerstand, der das Individuum zwar unterdrückte, aber auch stärkte, wenn nicht gar hervorbrachte. Das Ende der Familie lähmt die Gegenkräfte. Die heraufziehende kollektivistische Ordnung ist der Hohn auf die ohne Klasse: im Bürger liquidiert sie zugleich die Utopie, die einmal von der Liebe der Mutter zehrte. 

Adorno, Minima Moralia, Seiten 22-23 

Donnerstag, 24. Juni 2010

Gedanken sind Fragmente

Kein Gedanke, der jemals war, ist und sein wird lässt sich gänzlich logisch zurückverfolgen.
Jeder Versuch der Auflösung nur quälender Schein, jede Anstrengung eine Totalität gegen sich selbst; der Widerschein unserer Widersprüche. Der Ursprung unserer Gedanken, sofern er existiert, entzieht sich unserer Kontrolle.
Aus dieser Natürlichkeit schöpft die Kunst ihre utopische Kraft.

Musterung.

 - Wer, wie das so heißt, in der Praxis steht, Interessen zu verfolgen, Pläne zu verwirklichen hat, dem verwandeln die Menschen, mit denen er in Berührung kommt, automatisch sich in Freund und Feind. Indem er sie daraufhin ansieht, wie sie seinen Absichten sich einfügen, reduziert er sie gleichsam vorweg zu Objekten: die einen sind verwendbar, die andern hinderlich. Jede abweichende Meinung erscheint auf dem Bezugssystem je einmal vorgegebener Zwecke, ohne welches keine Praxis auskommt, als lästiger Widerstand, Sabotage, Intrige; jede Zustimmung, und käme sie aus dem gemeinsten Interesse, wird zur Förderung, zum Brauchbaren, zum Zeugnis der Bundesgenossenschaft. So tritt Verarmung im Verhältnis zu anderen Menschen ein: die Fähigkeit, den andern als solchen und nicht als Funktion des eigenen Willens wahrzunehmen, vor allem aber die des fruchtbaren Gegensatzes, die Möglichkeit, durch Einbegreifen des Widersprechenden über sich selber hinauszugehen, verkümmert. Sie wird ersetzt durch beurteilende Menschenkenntnis, für die schließlich noch der Beste das kleinere Übel ist und der Schlechteste nicht das größte. Diese Reaktionsweise aber, das Schema aller Administration und »Personalpolitik«, tendiert bereits von sich aus, vor aller politischen Willensbildung und aller Festlegung auf ausschließende Tickets, zum Faschismus. Wer es einmal zu seiner Sache macht, Eignungen zu beurteilen, sieht die Beurteilten aus gewissermaßen technologischer Notwendigkeit als Zugehörige oder Außenseiter, Arteigene oder Artfremde, Helfershelfer oder Opfer. Der starr prüfende, bannende und gebannte Blick, der allen Führern des Entsetzens eigen ist, hat sein Modell im abschätzenden des Managers, der den Stellenbewerber Platz nehmen heißt und sein Gesicht so beleuchtet, daß es ins Helle der Verwendbarkeit und ins Dunkle, Anrüchige des Unqualifizierten erbarmungslos zerfällt. Das Ende ist die medizinische Untersuchung nach der Alternative: Arbeitseinsatz oder Liquidation. Der neutestamentliche Satz: »Wer nicht für mich ist, ist wider mich« war von jeher dem Antisemitismus aus dem Herzen gesprochen. Es gehört zum Grundbestand der Herrschaft, jeden, der nicht mit ihr sich identifiziert, um der bloßen Differenz willen ins Lager der Feinde zu verweisen: nicht umsonst ist Katholizismus nur ein griechisches Wort für das lateinische Totalität, das die Nationalsozialisten realisiert haben. Sie bedeutet die Gleichsetzung des Verschiedenen, sei's der »Abweichung«, sei's des Andersrassigen, mit dem Gegner. Der Nationalsozialismus hat auch darin das historische Bewußtsein seiner selbst erreicht: Carl Schmitt definierte das Wesen des Politischen geradezu durch die Kategorien Freund und Feind. Der Fortschritt zu solchem Bewußtsein macht die Regression auf die Verhaltensweise des Kindes sich zu eigen, das gern hat oder sich fürchtet. Die apriorische Reduktion auf das Freund-Feind-Verhältnis ist eines der Urphänomene der neuen Anthropologie. Freiheit wäre, nicht zwischen schwarz und weiß zu wählen, sondern aus solcher vorgeschriebenen Wahl herauszutreten.

Adorno, Minima Moralia, 85

Donnerstag, 6. Mai 2010

Der unausgesprochene Treueid auf die Plattform

Jeder Intellektuelle in der Emigration, ohne alle Ausnahme, ist beschädigt und tut gut daran, es selber zu erkennen, wenn er nicht hinter den dicht geschlossenen Türen seiner Selbstachtung grausam darüber belehrt werden will. Er lebt in einer Umwelt, die ihm unverständlich bleiben muss, auch wenn er sich in den Gewerkschaftsorganisationen oder dem Autoverkehr noch so gut auskennt; immerzu ist er in der Irre. Zwischen der Reproduktion des eigenen Lebens unterm Monopol der Massenkultur und der sachlich-verantwortlichen Arbeit herrscht ein unversöhnlicher Bruch. Enteignet ist seine Sprache und abgegraben die geschichtliche Dimension, aus der seine Erkenntnis die Kräfte zog. Die Isolierung wird umso schlimmer, je mehr feste und politisch kontrollierte Gruppen sich formieren, misstrauisch gegen die Zugehörigen, feindselig gegen die abgestempelten anderen. Der Anteil des Sozialprodukts, der auf die Fremden entfällt, will nicht ausreichen und treibt sie zur hoffnungslosen zweiten Konkurrenz untereinander inmitten der allgemeinen. All das hinterlässt Male in jedem Einzelnen. Wer selbst der Schmach der unmittelbaren Gleichschaltung enthoben ist, trägt als ein besonderes Mal eben die Enthobenheit, eine im Lebensprozess der Gesellschaft scheinhafte und irreale Existenz. Die Beziehungen zwischen den Verstoßenen sind mehr noch vergiftet als die zwischen den Eingesessenen. Alle Gewichte werden falsch, die Optik verstört. Das Private drängt ungebührlich, hektisch, vampyrhaft sich vor, eben weil es eigentlich nicht mehr existiert und krampfhaft sein Leben beweisen will. Das Öffentliche wird zur Sache des unausgesprochenen Treueids auf die Plattform.

Adorno, Minima Moralia

Dienstag, 4. Mai 2010

Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht

Denn Denken hat das Moment des Allgemeinen. Was triftig gedacht wurde, muß woanders, von anderen gedacht werden: dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken. Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert. Weil der Denkende es sich nicht antun muß, will er es auch den anderen nicht antun. Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Menschheit. Die universale Unterdrückungstendenz geht gegen den Gedanken als solchen. Glück ist er, noch wo er das Unglück bestimmt: indem er es ausspricht. Damit allein reicht Glück ins universale Unglück hinein. Wer es sich nicht verkümmern läßt, der hat nicht resigniert.

[Band 10: Kulturkritik und Gesellschaft I/II: Kritische Modelle 3. Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 8732 (vgl. GS 10.2, S. 798 ff.)]

Montag, 26. April 2010

Das Lied von der Presse

Im Anfang war die Presse
und dann erschien die Welt.
Im eigenen Interesse
hat sie sich uns gesellt.
Nach unserer Vorbereitung
sieht Gott, daß es gelingt,
und so die Welt zur Zeitung
er bringt […]
Sie lesen, was erschienen,
sie denken, was man meint.
Noch mehr lässt sich verdienen,
wenn etwas nicht erscheint.

Karl Kraus

Mittwoch, 21. April 2010

Klaus Kinski:

Ich bin gekommen, die erregendste Geschichte der Menschheit zu erzählen: Das Leben von Jesus Christus.
Ich spreche nicht von diesem Jesus auf den gräßlich bunten Drucken. Nicht von dem Jesus mit der gelben leberkranken Haut - den eine irrsinnige menschliche Gesellschaft zur größten Hure aller Zeiten macht. Dessen Kadaver sie pervers mit sich herumschleppt an infamen Kreuzen. Ich spreche nicht von göttlichem Geschwätz und von geplärrten Kirchenliedern. Nicht von dem Jesus, der mit modrigem Kuß die kleinen Mädchen von der ersten Kommunion aus geilen Träumen schreckt und sie dann sterben läßt vor Ekel und vor Scham, wenn sie auf den Latrinen schäumen.
Ich spreche von dem Mann: dem ruhelosen, der sagt, daß wir uns ändern müssen, immerzu, jetzt! Ich spreche von dem Abenteurer, dem furchtlosesten, freiesten, modernsten aller Menschen, der sich lieber massakrieren läßt, als lebendig mit den anderen zu verfaulen. Ich spreche von dem Mann, der so ist, wie wir alle sein wollen. Du und ich.

John Cassavetes:

Filme sind für mich unwichtig. Menschen sind sehr wichtig. Am Ende gehen alle mit dem Wissen nach Hause, dass es möglich ist. Nicht so sehr, dass der Film gut oder schlecht oder mittelmäßig ist, sondern dass es möglich ist, dass Leute mit Nichts anfangen können und durch ihren Willen und ihre Entschlossenheit aus dem Nichts etwas machen, ohne technisches Know-how, ohne Ausrüstung. Bei dem ganzen Film war kein einziger Techniker dabei. Keiner von uns wusste, wie man eine Kamera bedient. Sie kamen an, studierten die Bedienungsanleitung, wie man den Film einlegt, besorgten sich eine Moviola und sahen sich das Ding an, taten alles Menschenmögliche, wir machten 8 Millionen Fehler, aber es war aufregend und machte Spaß. (...) Das Ganze war mehr als ein Film; es wurde zu einer Lebensform. Einem Widerstand gegen die Mächte, die die Menschen daran hinderten, sich so auszudrücken, wie sie es wollen. Wir wollten beweisen: 'So was ist in Amerika möglich. Und ohne Geld. Wir schaffen es.' Wie lange haben wir im Vietnamkrieg gekämpft? Wenn es solange dauert, etwas so Destruktives zu tun, warum können wir uns nicht vier Jahre Zeit lassen, etwas Konstruktives zu tun?

Donnerstag, 15. April 2010

Zur Genese der Dummheit

Das Wahrzeichen der Intelligenz ist das Fühlhorn der Schnecke »mit dem tastenden Gesicht«, mit dem sie, wenn man Mephistopheles glauben darf, auch riecht. Das Fühlhorn wird vor dem Hindernis sogleich in die schützende Hut des Körpers zurückgezogen, es wird mit dem Ganzen wieder eins und wagt als Selbständiges erst zaghaft wieder sich hervor. Wenn die Gefahr noch da ist, verschwindet es aufs neue, und der Abstand bis zur Wiederholung des Versuchs vergrößert sich. Das geistige Leben ist in den Anfängen unendlich zart. Der Sinn der Schnecke ist auf den Muskel angewiesen, und Muskeln werden schlaff mit der Beeinträchtigung ihres Spiels. Den Körper lähmt die physische Verletzung, den Geist der Schrecken. Beides ist im Ursprung gar nicht zu trennen.
Die entfalteteren Tiere verdanken sich selbst der größeren Freiheit, ihr Dasein bezeugt, daß einstmals Fühler nach neuen Richtungen ausgestreckt waren und nicht zurückgeschlagen wurden. Jede ihrer Arten ist das Denkmal ungezählter anderer, deren Versuch zu werden schon im Beginn vereitelt wurde; die dem Schrecken schon erlagen, als nur ein Fühler sich in der Richtung ihres Werdens regte. Die Unterdrückung der Möglichkeiten durch unmittelbaren Widerstand der umgebenden Natur ist nach innen fortgesetzt, durch die Verkümmerung der Organe durch den Schrecken. In jedem Blick der Neugier eines Tieres dämmert eine neue Gestalt des Lebendigen, die aus der geprägten Art, der das individuelle Wesen angehört, hervorgehen könnte. Nicht bloß die Prägung hält es in der Hut des alten Seins zurück, die Gewalt, die jenem Blick begegnet, ist die jahrmillionenalte, die es seit je auf seine Stufe bannte und in stets erneutem Widerstand die ersten Schritte, sie zu überschreiten, hemmt. Solcher erste tastende Blick ist immer leicht zu brechen, hinter ihm steht der gute Wille, die fragile Hoffnung, aber keine konstante Energie. Das Tier wird in der Richtung, aus der es endgültig verscheucht ist, scheu und dumm.
Dummheit ist ein Wundmal. Sie kann sich auf eine Leistung unter vielen oder auf alle, praktische und geistige, beziehen. Jede partielle Dummheit eines Menschen bezeichnet eine Stelle, wo das Spiel der Muskeln beim Erwachen gehemmt anstatt gefördert wurde. Mit der Hemmung setzte ursprünglich die vergebliche Wiederholung der unorganisierten und täppischen Versuche ein. Die endlosen Fragen des Kindes sind je schon Zeichen eines geheimen Schmerzes, einer ersten Frage, auf die es keine Antwort fand und die es nicht in rechter Form zu stellen weiß. Die Wiederholung gleicht halb dem spielerischen Willen, wie wenn der Hund endlos an der Türe hochspringt, die er noch nicht zu öffnen weiß, und schließlich davon absteht, wenn die Klinke zu hoch ist, halb gehorcht sie hoffnungslosem Zwang, wie wenn der Löwe im Käfig endlos auf und ab geht und der Neurotiker die Reaktion der Abwehr wiederholt, die schon einmal vergeblich war. Sind die Wiederholungen beim Kind erlahmt, oder war die Hemmung zu brutal, so kann die Aufmerksamkeit nach einer anderen Richtung gehen, das Kind ist an Erfahrung reicher, wie es heißt, doch leicht bleibt an der Stelle, an der die Lust getroffen wurde, eine unmerkliche Narbe zurück, eine kleine Verhärtung, an der die Oberfläche stumpf ist. Solche Narben bilden Deformationen. Sie können Charaktere machen, hart und tüchtig, sie können dumm machen - im Sinn der Ausfallserscheinung, der Blindheit und Ohnmacht, wenn sie bloß stagnieren, im Sinn der Bosheit, des Trotzes und Fanatismus, wenn sie nach innen den Krebs erzeugen. Der gute Wille wird zum bösen durch erlittene Gewalt. Und nicht bloß die verbotene Frage, auch die verpönte Nachahmung, das verbotene Weinen, das verbotene waghalsige Spiel, können zu solchen Narben führen. Wie die Arten der Tierreihe, so bezeichnen die geistigen Stufen innerhalb der Menschengattung, ja die blinden Stellen in demselben Individuum Stationen, auf denen die Hoffnung zum Stillstand kam, und die in ihrer Versteinerung bezeugen, daß alles Lebendige unter einem Bann steht.

Adorno, Horkheimer, Dialektik der Aufklärung

Samstag, 13. März 2010

Das gute Gewissen jedes Einzelnen

(…) Arnheim half abermals nach. „ Haben Sie schon jemals einen Verwaltungsrat gewählt? Sie haben es nie getan!“ – Setzte er gleich selbst hinzu- „Und es würde auch keinen Sinn haben, daran zu denken, denn Sie werden nie die Aktienmajorität eines Unternehmens besitzen!“ Er sagte das so bestimmt, dass sich Ulrich fast durch den Mangel einer so wichtigen Eigenschaft hätte beschämt fühlen können; und es war auch ein echter Arnheimscher Einfall, mit einem einzigen Schritt und ohne Mühe von den Dämonen zu den Verwaltungsräten überzugehn. Er fuhr lächelnd fort: „Ich habe Ihnen eine Person bisher nicht genannt, und es ist in gewissem Sinn die wichtigste! Ich habe ‚die Aktienmajorität’ gesagt, das klingt wie eine harmlose Vielheit: dennoch ist das fast immer eine einzelne Person, ein ungenannter und der großen Öffentlichkeit unbekannter Hautpanteilbesitzer, der von jenen verdeckt wird, die er an seiner Statt vorschickt!“
Nun dämmerte es Ulrich natürlich, dass dies Dinge seien, von denen man jeden Tag in der Zeitung lesen könnte; aber Arnheim verstand es immerhin, ihnen Spannung zu geben. Neugierig fragte er ihn, wer die Aktienmajorität der Lloyd- Bank besitze.
„ Das weiß man nicht“ erwiderte Arnheim ruhig. „Richtiger gesagt, Eingeweihte wissen es natürlich, aber es ist nicht üblich davon zu sprechen. Lassen Sie mich lieber auf den Kern dieser Dinge kommen: Überall, wo zwei solche Kräfte da sind, ein Auftraggeber auf der einen, eine Verwaltung auf der anderen Seite, entsteht von selbst die Erscheinung, dass jedes mögliche Mehrungsmittel ausgenutzt wird, ob es nun moralisch und schön ist oder nicht. Ich sage wirklich ‚von selbst’, denn diese Erscheinung ist in hohem Grade unabhängig vom Persönlichen. Der Auftraggeber kommt nicht unmittelbar in Berührung mit der Ausführung, und die Organe der Verwaltung sind dadurch gedeckt, dass sie nicht aus persönlichen Gründen, sondern als Beamte handeln. Dieses Verhältnis finden sie heute allenthalben und durchaus nicht nur im Geldwesen. Sie können versichert sein, dass unser Freund Tuzzi in größter Gewissensruhe das Zeichen zu einem Krieg geben würde, selbst wenn er persönlich nicht einen alten Hund totschießen könnte, und ihren Freund Moosbrugger werden Tausende zum Tode befördern, weil sie es bis auf drei nicht mit leiblicher Hand zu tun brauchen! Durch diese zur Virtuosität ausgebildete ‚Indirektheit’ wird heute das gute Gewissen jedes Einzelnen wie der ganzen Gesellschaft gesichert; der Knopf auf den man drückt, ist immer weiß und schön, und was am anderen Ende der Leitung geschieht, geht andere Leute an, die für ihre Person wieder nicht drücken. Finden sie es abscheulich? So lassen wir Tausende sterben oder vegetieren, bewegen Berge von Leid, richten damit aber auch etwas aus! Ich möchte beinahe behaupten, dass sich darin, in der Form der sozialen Arbeitsteilung, nichts anderes ausdrückt als die alte Zweiteilung des menschlichen Gewissens in gebilligten Zweck und in Kauf genommene Mittel, wenn auch in einer grandiosen und gefährlichen Weise.“ (…)

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften
Kapitel 121 „Die Ausprache“, Seite 637-638

Donnerstag, 11. März 2010

Widerstand ist zwecklos

Viele Filme sollte man einfach getrost ignorieren können in der Hoffnung, dass sie sich auch aufgrund ihrer profitorientierten manieristisch professionellen systemimmanenten Betriebsblindheit von selbst irgendwann auslöschen, aber da sich dieser Masochismus heutzutage gut dünkt und man ihn sich nach der Geburt, zwecks Selbstrationalisierung, von der Gesellschaft sowieso gratis hinterher werfen lässt und seit Erfindung des Kapitalismus an jeder Ecke Scheiße zu Geld verwandelt wird und jeder seinen Klumpen auch noch auf den bereits ‚Turm zu Babel- großen’ Berg von Scheiße drauf werfen muss, sehe ich mich genötigt auf Scheiße mit Scheiße zu reagieren in der traumhaften Sehnsucht danach, dass manche Scheiße die Macht besitzen könnte andere Scheiße zu neutralisieren. Eine Utopie, die ich bezweifle, aber eine schöner Gedanke, der mich wach hält.
Und deshalb widme ich mich nur kurz diesem Scheißhaufen von Film namens Baader Meinhof Komplex.
Der Nivellierexperte Bernd Eichinger hat sich mit seinem Franchise Unternehmen Constantin bei dem RAF Monopolisten Stefan Aust eingeschlabber-schleimt und die Verfilmungsrechte für sein abgeschlossenes Werk BMK erschlichen um daraus einen Amphibienfilm zu machen, um sich in jede Poritze von Kinoplexen und Fernsehkanälen einzunisten, die nach risikoarmer Profitmaximierung stinken. In der Branche erkennt sich jeder nach seinem Geruch.
Vorsicht Pseudodramaturgisten Geschwätz:
Der Film hastet von Klimax zu Klimax im glauben durch vollständige Abwicklung größtmögliche Authentizität zu erreichen. Höhepunkte die unmittelbar auf Höhepunkte folgen bilden eine Linie und so bleibt Spannung fern trotz seiner Rasanz die er durch hastige Montage und authentischen Requisiten zu demonstrieren behauptet- Die Requisiten sind authentischer als es die Realität jemals zu sein scheinen kann.
Die Figuren sind unterste Schublade des Schubladendenkens: der Draufgänger, die Intellektuelle, die Femme Fatal, gegen den besonnenen Oberguru Polizei Führer, der sich psychologisch geschult sogar in Schubladen hineinversetzen kann und daraus ein Fahndungsverfahren entwickelt und unzählbare andere Pappschilder werden an Fäden durch die Sets gezogen und müssen Entscheidungen für ihr Leben treffen nach dem Hü oder Hopp Prinzip, gefallen sich in pseudopolitischem Geschwätz oder müssen beweisen wie skrupellos sie sind, indem sie Omas Handtasche klauen. DIe Welt ist ein Spießrutenlauf und so weiter blablabla

Die Macher um Bernd Eichinger herum sind zu Sklaven seiner gedanklichen Dünnschißfarbik geworden. Spätestens mit seinem Bushido Film hat sich das konkret bewiesen, aber der ist es genauso wenig wert und jetzt fühle ich mich schuldig, dass ich ihn genannt habe und halte die Fresse.

Dienstag, 9. März 2010

Avatar ist ein Stahlbad

Kleine freie Polemik zu James Camerons Avatar
Das Gegenteil von Kunst ist Technik, aber Technik ist alles:Avatar ist keine Kunst sondern massive Technik, von der Erzähltechnik bis zur Projektionstechnik. Er ist die pure Rationalisierung der Vorstellung vom Potential zur Kunst. Ein Werbespot für den Film, solange der Film läuft. Ein perfekt kalkulierter männlicher Orgasmus, eingefrorene Potenz, als ewiges Meisterwerk, das sich bereits wie Michelangelo fühlt, bevor es da ist. Die angewandten Techniken setzen die Zahlen und Avatar ist danach gemalt.  Große Augen, schöne Wilde, Naturburschen gegen den modernen barbarischen Menschen, die ewige Geschichte unserer verhinderten Selbstzerstörung. Leni Riefenstahl in 3D. Jede emotionale Verbindung entstammt aus einem Katalog. Kein Platz für Lücken, von Außen nach Innen alles aus- erzählt, jedes Bild zu Tode visualisiert, weil sich die Technik, die Masse als eine Horde Zombies vorstellt. Ein totalitärer Film, die pure Visualisierung, nichts ist Echt was dadurch erst zur Lüge werden kann. Jede subtile Geste funktioniert nach einem durchgerechneten Schema. Nicht Effekt in Affekt sondern Effekt auf Effekt. Alles ist schön, allen soll es gefallen. Selbst der Aufruf zum Nachdenken ist Teil des Kalküls, die paradoxe Dreistigkeit uns als Botschaft einzureden mit der Natur in Einklang leben zu müssen, während er uns mit Superlativen der Technik KO schlägt. Avatar, eine Sonne die alle Planeten in seine Umlaufbahn zwingt und sie bis zur Fortsetzung um sich drehen lässt. Ökonomie in Perfektion, der Fetischspiegel unserer selbst, der Traum mit Technik vor der Technik zu flüchten, bald auch auf Blue Ray, in Zeitlupe und von Bild zu Bild. Wir sind Götzendiener die an einen arroganten Zombie-Gott glauben wollen sollen, ein Spiegel oder eine Illusion? „ICH sehe dich“, Amen.

Sonntag, 7. März 2010

Schicksal eines Karikaturisten:
Im Alter erblindet, starb er verarmt.