Montag, 9. Januar 2012

Dieser Reiz der Liebe ist 1789 erloschen!

„Das sind nun“, so sagte er sich, „die elegantesten, die reichsten, die höchstgestellten Frauen von Paris. Hier sehe ich die Berühmtheiten des Tages, Politiker, Aristokraten, Literaten von Rang und Namen: Dort stehen Künstler, dort hohe Staatsmänner. Und dennoch gewahre ich nur kleine Intrigen, totgeborene Liebschaften, mechanisch lächelnde Gesichter, erloschene Blicke, grundlose Verachtung und viel sprühenden Geist, den man jedoch ziellos verschwendet. All diese weißen und rosigen Gesichter sind weniger auf ihr Vergnügen als auf Ablenkung bedacht. Kein Gefühl ist hier aufrichtig. Wenn ein Mensch sich nur luftige Gaze, hübsch aufgesteckte Federn, reizende Toiletten, zierliche Frauen wünscht, wenn er nur über die Oberfläche des Lebens dahingleiten will, so hat er hier seine Welt. Er möge sich mit diesen belanglosen Phrasen, mit diesen enttäuschten Grimassen begnügen und nicht vergeblich eine Regung in diesen Herzen suchen. Ich für mein Teil verabscheue diese seichten Liebesaffären, die auf eine Heirat, auf das Amt eines Unterpräfekten oder Generalsteuereinnehmers hinauslaufen oder, wenn Liebe im Spiel ist, mit einem heimlichen Arrangement enden, so sehr beschämt schon der Schein einer Leidenschaft die Leute. Ich sehe kein einziges jener vielsagenden Gesichter, aus denen eine Seele spricht, die einem Gedanken nachhängt oder von Reue geplagt wird. Hier verbergen sich Trauer und Unglück voller Scham hinter lustigen Scherzen. Ich erblicke keine jener Frauen, mit denen es mich zu kämpfen gelüstete und die den Mann in einen Abgrund hinabzuziehen vermöchte. Wo könnte man in Paris noch Lebensenergie finden? Ein Dolch ist hier eine Kuriosität, die man zur Zierde in eine hübsche Scheide steckt und an einem goldenen Nagel aufhängt. Frauen, Gedanken, Gefühle, alles ähnelt sich. Es gibt hier keine Leidenschaften mehr, weil die wahren Persönlichkeiten verschwunden sind. Rang, Geist, Vermögen, alles ist eingeebnet worden, und alle kleiden wir uns schwarz, als ob wir um das tote Frankreich Trauer trügen. Man liebt nicht seinesgleichen. Zwischen zwei Liebenden muß es Unterschiede, die auszugleichen, Entfernungen, die zu überwinden sind, geben. Dieser Reiz der Liebe ist 1789 erloschen! Unsere Langeweile, unsere abgeschmackten Sitten sind das Ergebnis des politischen Systems. In Italien ist wenigstens alles scharf gegeneinander abgegrenzt. Die Frauen sind dort noch bösartige Tiere, gefährliche Sirenen, die keinen Verstand, keine Logik haben außer der ihrer Neigungen und Begierden, und denen man mißtrauen muß, wie man Tigern mißtraut…“
Madame Firmani trat heran und unterbrach dieses Selbstgespräch, dessen tausend widersprüchliche, unvollendete, wirre Gedanken sich der Beschreibung entziehen. Das Verdienst einer Träumerei liegt gänzlich in ihrer Unbestimmtheit; ist sie nicht eine Art geistiger Nebel?
„Ich will Sie“, sagte sie und nahm ihn beim Arm, „einer Frau vorstellen, die Sie, nach allem, was sie von Ihnen gehört hat, unbedingt kennenzulernen wünscht.“

Honoré de Balzac
Auszug aus „Die Frau von dreißig Jahren“

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