Samstag, 4. Juni 2011

Ich kannte einen Mann, der sah aus wie das Gerücht.

Das Gerücht ist grau und hat einen jugendlichen Gang, das Gerücht läuft und braucht dennoch zwanzig Jahre, um aus einem Zimmer ins andere zu kommen, wo es Dinge, die sich schon damals nicht ereignet haben, als Neuigkeiten auftischt. Das Gerücht verdichtet eine Hinrichtung, die abgesagt wurde, mit einer Frühgeburt, die nicht stattgefunden hat, pflanzt einen fremden Tonfall in das Mistbeet eigener Erfindung, hat mit eigenen Augen gehört, was niemand gesehen, und mit fremden Ohren gesehen, was niemand gehört hat. Das Gerücht hat eine profunde Stimme und eine hohe Miene. Es hat Phantasie ohne Persönlichkeit. Ist es ruhig, so sieht es aus, als ob das Problem der Entstehung der Septuaginta bereits gelöst wäre. Ist es bewegt, so muß man mit einer neuen Version über den bethlehemitischen Kindermord rechnen. Das Gerücht ist der ältere Stiefbruder der Wissenschaft und ein Schwippschwager der Information. Von den Veden bis zu den Kochbüchern ist ihm nichts Unverbürgtes fremd. Das Gerücht, welches nur tote Schriftsteller liebt, läßt auch den zeitgenössischen Autor gelten, sobald er antiquarisch zu haben ist, weil es dann einen Erstdruck mit einem Zweitdruck verwechseln kann. Das Gerücht hat den Humor, der sich aus der Distanz von den Tatsachen ergibt. Es entäuscht den, der an Gerüchte glaubt, und spielt dem, der an Gerüchte nicht glaubt, gern einen Possen. Es sagt etwas. Verleumdet’s, gehe man mit ihm nicht ins Gericht. Es taugt nicht zum Zeugen, es taugt nicht zum Angeklagten. Es leugnet sich selbst. Es weiß allerlei, es sagt noch mehr, aber es ist nicht verläßlich.

Karl Kraus

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