Sonntag, 5. Juni 2011

Exhibitionist.

 – Künstler sublimieren nicht. Daß sie ihre Begierde weder befriedigen noch verdrängen, sondern in sozial wünschbare Leistungen, ihre Gebilde, verwandeln, ist eine psychoanalytische Illusion; übrigens sind legitime Kunstwerke ohne Ausnahme heute sozial unerwünscht. Vielmehr zeigen Künstler heftige, frei flutende und zugleich mit der Realität kollidierende, neurotisch gezeichnete Instinkte. Noch der Spießertraum vom Schauspieler oder Geiger als einer Synthese aus Nervenbündel und Herzensbrecher trifft eher zu als die nicht minder spießbürgerliche Triebökonomie, der zufolge die Sonntagskinder der Versagung es in Symphonien und Romanen loswerden. Ihr Teil ist vielmehr hysterisch outrierte Hemmungslosigkeit über allen erdenklichen Ängsten; Narzißmus, bis an die paranoische Grenze getrieben. Gegen das Sublimierte haben sie Idiosynkrasien. Unversöhnlich sind sie den Ästheten, gleichgültig gegen gepflegte Milieus, und in geschmackvoller Lebensführung erkennen sie so sicher die mindere Reaktionsbildung gegen den Hang zum Minderen wie die Psychologen, von denen sie selber verkannt werden. Sie lassen seit den Briefen Mozarts an das Augsburger Bäsle bis zu den Wortwitzen des verbitterten Korrepetitors vom Derben, Albernen, Unanständigen sich verlocken. In die Freudische Theorie passen sie nicht, weil es jener an einem zureichenden Begriff des Ausdrucks mangelt, trotz aller Einsicht ins Funktionieren der Symbolik von Traum und Neurose. Daß eine unzensiert ausgedrückte Triebregung auch dann nicht verdrängt heißen kann, wenn sie das Ziel, das sie nicht findet, gar nicht mehr erlangen will, leuchtet gewiß ein. Andererseits liegt die analytische Unterscheidung motorischer – „realer“ – und halluzinatorischer Befriedigung in der Richtung auf die Differenz von Befriedigung und unverstelltem Ausdruck. Aber Ausdruck ist nicht Halluzination. Er ist Schein, gemessen am Realitätsprinzip und mag es umgehen. Nie jedoch versucht durch ihn, so wie durchs Symptom, Subjektives anstelle der Realität wahnhaft sich zu substituieren. Ausdruck negiert die Realität, indem er ihr vorhält, was ihr nicht gleicht, aber er verleugnet sie nicht; er sieht dem Konflikt ins Auge, der im Symptom blind resultiert. Soviel bleibt dem Ausdruck mit der Verdrängung gemeinsam, daß in ihm die Regung durch die Realität blockiert sich findet. Jener Regung, und dem gesamten Ehrfahrungszusammenhang, dem sie zugehört, ist die unmittelbare Kommunikation mit dem Objekt verwehrt. Als Ausdruck kommt sie zur unverfälschten Erscheinung ihrer selbst und damit des Widerstandes, in sinnlicher Nachahmung. Sie ist so stark, daß ihr die Modifikation zum bloßen Bild, Preis des Überlebens, widerfährt, ohne sie auf dem Wege nach außen zu verstümmeln. Anstelle des Ziels wie der eigenen subjektiv zensorischen „Bearbeitung“ setzt sie die objektive: ihre polemische Offenbarung. Das unterscheidet sie von der Sublimierung: jeder gelungene Ausdruck des Subjekts, ließe sich sagen, ist ein kleiner Sieg über das Kräftespiel seiner eigenen Psychologie. Das Pathos von Kunst haftet daran, daß sie, gerade durch Zurücktreten in die Imagination, der Übermacht der Realität das Ihre gibt, und doch nicht zur Anpassung resigniert, nicht die Gewalt des Auswendigen in der Deformation des Inwendigen forsetzt. Die das vollbringen, haben dafür als Individuen ausnahmslos teuer zu zahlen, hilfslos  zurückgeblieben hinter dem eigenen Ausdruck, der ihrer Psychologie entrann. Damit aber wecken sie nicht weniger als ihre Produkte Zweifel an der Einordnung der Kunstwerke unter die kulturellen Leistungen ex definitione. Kein Kunstwerk kann, in der gesellschaftlichen Organisation, seiner  Zugehörigkeit zur Kultur sich entziehen, aber keines, das mehr als Kunstgewerbe ist, existiert, das nicht der Kultur die abweisende Geste zukehrte: daß etwas zum  Kunstwerk ward. Kunst ist so kunstfeindlich wie die Künstler. Im Verzicht aufs Triebziel hält sie diesem die Treue, die das gesellschaftlich Erwünschte demaskiert, welches Freud naiv als die Sublimierung verherrlicht, die es wahrscheinlich gar nicht gibt.

Theodor Wiesengrund Adorno

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