Mittwoch, 11. Januar 2012

Inkarnation gebrannter Kinder


David Foster Wallace (1962-2008)

Daddy war an der Seite des Hauses und montierte gerade die Eingangstür für den Untermieter, als er die Schreie des Kindes hörte und dazwischen, nicht weniger gellend, die Stimme der Mutter. Er war sofort zur Stelle, denn die rückwärtige Veranda führte direkt in die Küche. Noch ehe die Fliegengitter-Tür hinter im zugefallen war, hatte er sich ein Bild der Lage verschafft: der umgestoßene Topf auf den Fliesen vor dem Herd, die blaue Gasflamme, der dampfende See auf dem Boden, der sich krakenartig ausgebreitet hatte, und mittendrin, völlig erstarrt, das kleine Kind in der unförmigen Höschenwindel, das kleine Kind mit dem dampfenden Haar, Brust und Schulter scharlachrot, es hat die Augen verdreht, sein Mund steht sehr weit offen und scheint nicht verantwortlich für die Laute, die aus diesem Mund dringen. Unterdessen kniete Mommy daneben, tupfte ihn planlos mit einem Spültuch ab und schrie nicht minder, auch sie beinahe erstarrt in ihrer Hysterie. Ihr eines Knie und die beiden nackten zarten Kinderfüße befanden sich noch immer in dem dampfenden See, und die erste Handlung von Daddy bestand nun darin, dass er sich das Kind schnappte und aus dem See zog und zur Spüle brachte, aus der vorher die Teller warf, und dann den Hahn aufdrehte, um kaltes Brunnenwasser über die Füße des Knaben rinnen zu lassen, während er mit der hohlen Hand Wasser über Kopf, Schulter und Brust goss oder vielmehr spritzte, da er zuerst die Dampfentwicklung beenden wollte, während Mommy hinter ihm den Herrgott anflehte, bis er sich nach Handtüchern und Verbandsmull losschickte, falls sie so etwas im Haus hatten. Daddy handelte schnell, und er machte seine Sache gut, sein Männerverstand war leer bis auf den einen Zweck seines Handelns. Er wusste selbst noch nicht, wie geschmeidig er sich bewegte oder dass er das Schreien des Kindes ausgeblendet hatte, weil es ihm lähmen und dadurch verhindern würde, dass er tat, was getan werden musste, um seinem Kind beizustehen, dessen Schreie inzwischen so regelmäßig kamen wie Atemzüge und so beständig waren, dass sie anscheinend bereits zum Inventar gehörten, um das man immer herumgehen musste. Die Tür des Untermieters hing lediglich an einem Teil des oberen Scharniers und schaukelte leicht im Wind, und ein Vogel in einer Eiche jenseits der Auffahrt schien die Tür mit zur Seite gelegtem Kopf zu mustern, während aus dem Haus die Schreie drangen. Die Verbrennungen am rechten Arm und an den Schultern waren offenbar am schwersten, die roten Stellen an Brust und Bauch hingegen wurden unter dem kalten Wasser rosa, und auch an den Fußsohlen waren, soweit Daddy erkennen konnte, keine Blasen. Trotzdem ballte der kleine Kerl die Fäuste und schrie wie am Spieß, aber vielleicht nur aus einem Angstreflex heraus, und Daddy hielt es nicht für ausgeschlossen, dass sie später alle schlauer waren, auch wenn sich das kleine Gesichtchen vorerst noch sehr in die Breite zog und das Gefaser der Schläfenvenen extrem hervorstand und Daddy immerzu sagte, dass er ja da sei, dass er ja da sei,, wodurch der Adrenalinspiegel erst einmal sank, aber in seinem hintersten Hinterkopf braute sich eine Wut zusammen, die noch längst nicht formuliert war, die Wut über Mommy, die zugelassen hatte, dass so etwas passierte. Und als Mommy zurückkam, war er unschlüssig, ob er das Kind in ein Handtuch wickeln sollte oder nicht, aber dann hielt er es unter den Wasserhahn (das Handtuch), bis es schwer nass war, und machte es einfach, schlug das Kind fest darin ein und nahm es aus der Spüle und legte es auf den Küchentisch, um es zu trösten, während die Mutter die Fußsohlen untersuchte und dabei fächelnde Bewegungen vor ihrem Mund ausführte und lauter gegenstandslose Wörter von sich gab. Unterdessen beugte sich Daddy über das Gesicht des Kindes auf dem karierten Tischtuch und wiederholte die Tatsache, dass er ja da sei, wovon er hoffte, dass es den Kleinen beruhigte, aber noch immer schrie das Kind wie am Spieß, ein hoher, reiner, gellender Laut, der ihm schier das Herz zerriss, zumal die klitzekleinen Lippen und das Zahnfleisch hellblau angelaufen waren – wie eine niedrige Gasflamme, dachte Daddy – und das Schreien so schlimm war, als läge der Kleine immer noch unter dem brühheißen Topf. So verstrichen ein, zwei, jedoch viel länger erscheinende Minuten, in den Mommy kindgerecht auf das Gesichtchen einsang und die Lerche auf dem Ast den Kopf zur Seite neigte und das Scharnier unter dem Gewicht der verkanteten Tür einen weißen Ermüdungsstreifen zeigte, ehe sich der erste winzige Dampfstoß unter dem Handtuch einen Weg ins Freie suchte, worauf sich die Augen der Eltern trafen und weiteten: die Höschenwindel. Als sie die Windel aufmachten und den kleinen Jungen wieder auf das karierte Tischtuch legten und den durchweichten Klettverschluss lösten, wollte es erst gar nicht gehen, zumal bei dem erneut einsetzenden Geschrei, und alles war auch ganz heiß, so heiß, dass sie sich die Finger verbrannten und endlich sahen, wohin der Hauptteil des Wassers geflossen war und wo es sich auslaufgeschützt gesammelt hatte und die ganze Zeit ihr Liebstes auf der Welt verbrannte, das natürlich, natürlich nach ihnen schrie, damit sie zu Hilfe kamen, aber genau das hatten sie nicht getan, hatten nicht nachgedacht, und als sie die Windel schließlich abhatten und den Zustand dessen, was sich ihnen darunter darbot, erkannten, da rief sie den Namen des Herrn an, wobei sie sich aber an der Tischkante festhalten musste, um nicht umzufallen, während der Vater einen wütenden Aufwärtshaken gen Zimmerdecke schleuderte und nicht zum letzten Mal die Welt und sich selbst verfluchte, weil sein Kind genauso gut hätte schlafen können, wäre da nicht die erhöhte Atemfrequenz gewesen und die zuckenden Händchen in der Luft über seinem Ablageort, Händchen so groß oder so klein wie der Daumen eines erwachsenen Mannes, die Daddys Daumen in der Wiege immer in die Hand genommen hatten, während Daddys Mund singenderweise gar schöne Spiele spielte, und er den Kopf zur Seite legte und an Daddy vorbei in eine Ferne schaute mit einem Blick, der Daddy indirekt einsam machte. Wer nie geweint hat, es aber gerne würde, der schaffe sich ein Kind an. Brich dein Herz mittendurch, und genau das wird geschehen. Ein Kind ist ein Ohrwurm, dem Daddy nicht entrinnt – so, als stünde die Radiolady direkt neben ihm und schaute sich mit ihm an, was sie hier an Leid getan. Was sich Daddy allerdings am meisten nicht verzeihen kann: wie sehr er nach einer Zigarette gierte, als sie den Knaben so gut als möglich in Verbandsmull und über Kreuz geschlagene Handtücher windelten, worauf Daddy es wie ein Neugeborenes fasste (wohl in dem Arm: Eine Hand stützte das Köpfchen) und es in den glühend heißen Truck legte und anständig Gummi gab, bis er mit Mühe und Not die Stadt erreichte und die Notaufnahme der Klinik, während die Tür des Untermieters den ganzen Tag sozusagen an einem Faden hing, bis das Scharnier endlich nachgab, aber da war es schon zu spät, weil es sich nicht mehr aufhalten ließ und weil sie nicht mehr die Kurve kriegten, weil das Kind einen Weg aus dem eigenen Körper gefunden hatte und sich die weitere Entwicklung von oben betrachtete und das, was verloren war, im strengen Sinne irrelevant war. So kam es, dass der Kinderkörper schließlich expandierte und seiner Wege ging und an jedem 1. seinen Gehaltsscheck kassierte und ein Leben führte ganz ohne Untermieter, ein Ding unter vielen, dessen tiefste Seele hoch droben dunstete und als Regen niederging und erneut zum Himmel aufstieg, während die Sonne auf und nieder schnellte wie ein Jojo.

David Foster Wallace

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