Dienstag, 18. Oktober 2011

Korrektionsstrafe

(...)
Selbst heute noch, nach so vielen Jahren, kommt mir dies alles irgendwie übel vor. Manches kommt mir jetzt übel vor, aber . . . sollte ich nicht hier meine „Aufzeichnungen“ abbrechen? Ich glaube, es war ein Fehler, daß ich sie überhaupt begonnen habe. Wenigstens habe ich mich während des Schreibens dieser Novelle die ganze Zeit geschämt: also ist es nicht mehr Literatur, sondern Korrektionsstrafe. Denn lange Geschichten darüber erzählen, wie ich das Leben verfehlt habe durch moralische Zersetzung in meinem Winkel, durch Mangel einer Außenwelt, durch Entwöhnung von allem Lebendigen und durch sorgfältig gepflegte Bosheit im Kellerloch – und das ist bei Gott wenig unterhaltend; ein Roman verlangt einen Helden, hier aber sind absichtlich alle Eigenschaften eines Anti-Helden zusammengetragen, vor allen Dingen wird das Ganze einen äußerst unangenehmen Eindruck hervorrufen, haben wir uns doch alle des Lebens entwöhnt, alle hinken wir, der eine mehr, der andere weniger. Haben wir uns doch so sehr entwöhnt, daß uns mitunter vor dem wirklichen ‚lebendigen Leben’ beinahe Ekel erfaßt, und darum können wir es nicht ausstehen, wenn wir an das Leben erinnert werden. Sind wir doch so weit gekommen, daß wir das wirkliche lebendige Leben beinahe für Arbeit, fast für einen Frondienst halten und im geheimen uns vollkommen einig sind, daß es im Buch besser steht. Und darum zappeln wir uns zuweilen ab, warum gebärden wir uns wie toll, worum betteln wir? Das wissen wir selbst nicht. Es würde uns zu unserem eigenen Schaden gereichen, wenn unsere Grillen in Erfüllung gingen. Nun, probieren Sie es, geben Sie uns, meinetwegen, größere Selbstständigkeit, Ellenbogenfreiheit, erweitern Sie das Tätigkeitsfeld, lockern Sie die Bevormundung, und wir . . . Aber ich versichere Ihnen: wir werden sofort wieder um Bevormundung betteln. Ich kann mir denken, daß Sie vielleicht über diese Behauptung ungehalten sein werden, daß Sie schreien und mit den Füßen stampfen werden: „Reden Sie von sich und von ihrem Kellerloch-Elend, aber unterstehen Sie sich, ‚Wir alle’ zu sagen.“ Erlauben Sie, meine Herrschaften, ich will mich durchaus nicht etwa durch dieses ‚Wir alle’ rechtfertigen. Was mich im besonderen angeht, so habe ich in meinem Leben lediglich das bis zum Äußersten gewagt, was Sie nicht einmal bis zur Hälfte gewagt haben, wobei Sie Ihre Feigheit auch noch für Einsicht hielten und sich trösteten, indem Sie sich selbst betrogen. Also stellt sich heraus, daß ich zu guter Letzt noch ‚lebendiger’ bin als Sie, meine Herrschaften. Sehen Sie doch genau hin! Wir wissen ja nicht einmal, wo das Lebendige jetzt lebt, was es ist, wie es heißt! Laßt uns allein, ohne Buch, und wir werden sofort irre, unschlüssig – wissen nicht wohin, an wen uns halten, was lieben und hassen, was achten und was verachten! Es ist uns ja sogar lästig, Mensch zu sein – ein Mensch mit wirklichem eigenen Fleisch und Blut; wir schämen uns dessen, halten es für eine Schmach und trachten lieber danach, irgendwelche phänomenale Allgemeinmenschen zu sein. Wir sind Totgeborene, werden wir doch schon lange nicht mehr von lebendigen Vätern gezeugt, und das gefällt uns immer besser und besser. Wir bekommen Geschmack daran. Bald werden wir so weit sein, daß wir von einer Idee gezeugt werden. Aber genug – ich habe keine Lust mehr, ‚aus dem Kellerloch’ zu schreiben . . .

Auszug aus „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“
Von Fjodor Dostojewskij

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