Sonntag, 16. Oktober 2011

Doch zur Sache

Trotz meiner großen Armut an Kenntnissen (worunter ich nicht alles verstehe, was ich weiß, sondern nur was ich auch zweckmäßig zusammengedacht habe), finde ich mich oft nicht wenig durch den Gedanken beruhigt, daß ich das durch tausendfaches Interesse gespaltene und tausendfach sich selbst betrügende menschliche Herz dem Grad habt kennen lernen, daß ich an einer Sache zweifeln kann, und wenn sie in tausend Büchern bejaht stünde, tausend Jahre durch geglaubt worden, und als untrüglich von schönen und häßlichen Lippen verkündigt worden wäre. Ich habe mir zur unverbrüchlichen Regel gemacht, aus Respekt schlechterdings nichts zu glauben, demohngeachtet aber, vor wie nach, fortzufahren, aus Respekt am gehörigen Ort oft zu tun und zu sagen, was ich nicht glaube und nicht glauben kann. Der Mensch ist ein solches Wunder von Seltsamkeit, daß ich überzeugt bin, es gibt Leute, die oft meinen, sie glaubten etwas und glaubens doch nicht, die sich selbst belügen, ohne es zu wissen, und Dinge einem andern nachzumeinen und nachzufühlen glauben, die sie ihm bloß nachsprechen. Daß das wahr ist, davon, sage ich, bin ich sicher überzeugt, denn ich habe mich ehemals selbst darüber ertappt. Dieses hat mich sehr mißtrauisch gegen mich selbst und noch mehr gegen die Versicherungen anderer gemacht, deren Interesse, Gattung von Eigenliebe und Verstandeskräfte ich nicht kenne, und von denen ich also nicht weiß, ob sie ein Votum haben, oder ob sie bloß Herolde sind. Wir sind nur gar zu geneigt zu glauben, das sei wahr, was wir oft bejahen hören und was viele glauben, und bedenken nicht, daß der Schein, der zehn betrügt, Millionen betrügen kann. Neun Zehnteile des menschlichen Geschlechts glauben, die Erde stünde still, und es ist doch nicht wahr. Wir bedenken nicht, daß, wenn Einer halb aus Interesse etwas bejaht, es Tausende ganz aus Interesse nachsagen, und zehntausend, weil sie doch was sagen müssen, und gar keine Meinung haben, oder bloß anderer ihre. Das ist der größte Teil der Menschen. Es ist daher Jammer Schade, daß wir so oft die Stimmen nur zählen können. Wo man sie wägen kann, soll man es nie versäumen. Ich kann daher nicht leugnen, daß mir die Leute vorzüglich angenehm sind, die ohne Affektation zuweilen die evidentesten Sätze bezweifeln, oder Leute zu entschuldigen suchen, die sie bezweifelt haben, so wie neulich K... von D..., der behauptet hatte, 3 mit 0 multipliziert wäre 3, oder mit andern Worten dreimal nichts wäre drei. Ohne im geringsten solchen absurden Zweifeln, wie diese, eben angeführt, das Wort zu reden, glaube ich auch, daß es keine größere Verstandsstärkung gibt, als Mißtrauen gegen alle Meinungen der Menge. Man kann sich immer sicher zurufen: das ist nicht wahr, und wenn man auch gleich am Ende findet, daß man sich geirrt hat; so wird man diesen Irrtum nie ohne Gewinn von Seiten des Systems von Kenntnissen entdecken, die man hat, und dessen Festigkeit doch eigentlich ausmacht, was wir Seelenstärke nennen. Sagen oder gar predigen muß man diese Zweifel eben nicht immer. In Religionssachen ist es das sichere Zeichen eines schwachen Kopfs. Denn was ist wahr an diesen Dingen, das nicht sein Wahreres haben kann? Und wo es auf zeitliche Ruhe und Glückseligkeit ankommt, muß man, meiner Meinung nach, allgemein angenommene Sätze so wenig ohne große Ursache ändern, als einen geprüften guten Minister mit einem andern vertauschen, von dessen Geschicklichkeit man sich mehr bloß verspricht. In der Frage, worüber ich jetzt schreibe, könnte die mutwilligste öffentliche Untersuchung keinen Schaden stiften, ja nutzen würde sie, weil hierin das kleinste Teilchen, dem Zaum anzulegen oder dem Sporn abzunehmen, ein gutes Werk tun heißt, es müßte dann sein, daß man so schriebe, daß man gerade das Gegenteil würkte, so wie jemand von L... s Abhandlung vom Selbstmord gesagt hat: Er wüßte nicht, seitdem er das Büchelchen gelesen hätte, käme ihn zuweilen der Kitzel an, sich selbst zu ermorden. – Sehen Sie nun, warum ich meinen Brief zurück verlange? Doch zur Sache.
(...)

Georg Christoph Lichtenberg

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