Sonntag, 19. Juni 2011

Über Tradition - Kapitel 3

Die falsche Tradition, die fast gleichzeitig mit der Konsolidierung der bürgerlichen Gesellschaft aufkam, wühlt im falschen Reichtum. Er stand der alten, erst recht der neuen Romantik lockend vor Augen. Auch der Begriff der Weltliteratur, der gewiß von der Enge der nationalen befreite, verleitete von Anbeginn dazu. Falsch ist der Reichtum darum, weil er, im bürgerlichen Geist des Disponierens über Besitz, verwertet wurde, als stünde dem Künstler alles zu Gebote, was je an künstlerischen Stoffen und Formen hoch und teuer war, nachdem einmal die Historie seiner sich versicherte. Gerade weil keine Tradition dem Künstler mehr substantiell, verbindlich ist, falle eine jegliche ihm kampflos als Beute zu. Hegel hat die neuere Kunst, die er die romantische nannte, in diesem Sinn bestimmt; Goethe war nicht spröde dagegen, erst die Allergie gegen Tradition heute ist es. Während scheinbar dem autonom gewordenen Künstler alles gleich offen steht, schlagen ihm ausgegrabene Schätze keineswegs zum Guten an, wie es zuletzt noch, bereits gebrochen, die neoklassizistischen Richtungen, in der Literatur etwa der spätere Gide und Cocteau, verhießen. Macht er davon Gebrauch, so verfertigt er Kunstgewerbe, erborgt sich aus Bildung, was seinem eigenen Stand widerspricht, Leerformen, die nicht sich füllen lassen: denn keine authentische Kunst hat je ihre Form gefüllt. Der Künstler nach dem Zerfall der Tradition erfährt diese vielmehr an dem Widerstand, den das Traditionale ihm entgegensetzt, wo immer er seiner sich bemächtigen will. Was in den verschiedenen künstlerischen Medien heute Reduktion heißt, gehorcht der Erfahrung, nichts mehr ließe sich verwenden als das von der Gestalt jetzt und hier Geforderte. Die Beschleunigung im Wechsel ästhetischer Programme und Richtung, die der Philister als Modeunwesen begrinst, rührt her vor dem unablässig sich steigernden Zwang zum Refus, den Valéry, als erster notierte. Das Verhältnis zur Tradition setzt sich um in einen Kanon des Verbotenen. Er saugt, mit anwachsendem selbstkritischen Bewußtsein, immer mehr in sich hinein, auch scheinbar Ewiges, Normen, die, direkt oder indirekt der Antike entlehnt, im bürgerlichen Zeitalter wider die Auflösung der traditionalen Momente mobilisiert wurden.

Adorno

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