Donnerstag, 9. Juni 2011

Brief von Theodor Adorno an Leo Löwenthal

Der Brief von Theodor W. Adorno vom 16. Juli 1924 bezieht sich u. a. auf seine Vorbereitungen zum mündlichen Doktorexamen.

Frankfurt, den 16. 7. 1924.

Mein lieber Leo!
Verzeih mir, dass ich heut erst schreibe und auch diesmal nur kurz; es ist nicht die Unfähigkeit zum schreiben – wäre ich frei genug, Dir zu schreiben, was ich Dir zu schreiben habe – sondern bloß purer Zeitmangel und Examenszwang, der mich jetzt noch still-legt. Ich will Dir die äußeren Daten des Halbjahres berichten. Die zweite Aprilhälfte war ich in Ammerbach, in einem Trubel von Menschen und arbeitete Husserl. Mitte Mai disponierte ich meine Dissertation und trug am 26. den Gedankengang Cornelius vor, der die Arbeit annahm. Am 6. Juni war die Arbeit fertig, am 11. diktiert, am 14. abgegeben. Zugleich begann das große Frankfurter Musikfest, das musikalisch mir zwar keine um so mehr menschliche Erschütterungen brachte, für die indessen ein hastiger Brief nicht der beste Seismograph ist. Du hast mir einmal in den Anlagen, als ich Dir vorjammerte von meiner Not, nicht richtig leben zu können, gesagt, vielleicht sei das ganze Leben nichts anderes als der vergebliche Versuch, richtig zu leben. Wenn das zutrifft, habe ich in jenen Wochen doch recht intensiv gelebt, denn von allen meinen vergeblichen Versuchen geschah damals wohl mein vergeblichster. Genug, Ende Juni landete ich schiffbrüchig mit leidlich heilen Gliedern beim Friedel (D. H. Kracauer). Zugleich dann gab es Schwierigkeiten mit der Promotion. Mein eines Nebenfach war Soziologie. Wie Du weißt, hängt die Genehmigung eines Faches aus anderer Fakultät vom Fakultätbeschluß der Philosophischen Fakultät ab, und die lehnte Soziologie ab, vermutlich aus antisemitischer Ranküne gegen Oppenheimer und Salomon. Da außerdem eine Bestimmung besteht, daß, wer Philosophie als Hauptfach hat, ein Nebenfach aus naturwissenschaftlichen Fakultät nehmen muß, habe ich Soziologie mit Psychologie vertauscht, das heißt der Psychologie des Professor Schumann, die wirklich noch eine trostlosere Wissenschaft ist als selbst  die Salomonische Soziologie, ergiebig nur als unterkitschige Quelle. Doch fehlt mir die Zeit, solche auszuschöpfen. Um mir den Stoff anzueignen – ich hatte bei Schumann gehört – und Ebbinghaus konnte ich nicht mehr lernen, setzte ich mich hier für 10 Tage nach Kronberg, wo Max Horkheimer und sein Freund Pollock, beides sehr ungewöhnliche Menschen, mich aufs liebevollste aufnahmen und aufs strengste schumannpsychologisch drillten. Beide sind übrigens Kommunisten und wir hatten langwierige und leidenschaftliche Gespräche über materialistische Geschichtsauffassung, in denen wir uns gegenseitig viel zugestanden. Nach Frankfurt zurückgekehrt fand ich Deinen Brief vor, dessen symbolisch fremde Schreibmaschinenschrift und kurze Freundlichkeit ich wohl verstand, ohne mich indessen so schuldig zu fühlen, schuldig im Sinne unserer Beziehung wie Du mich sehen mußt. Nicht, daß ich so naiv wäre zu glauben, man müsse sich nur liebhaben, wie es herauskäme, sei gleichgültig, ich weiß, daß kein Verhältnis ohne Mitteilung Dauer haben kann. Aber ich war in diesem halben Jahr zugeschlossen von allzu Schwerem und fühle, daß ich zu Dir reden kann, sobald ich nur selber zu atmen vermag. Ich bitte Dich also noch um ein wenig Geduld und darum, die Konkretheit nicht so prinzipiell zu treiben, daß Dir mit den Monaten ohne Brief das Geheimnis unserer Freundschaft schon definitiv wird. Nun habe ich allbereits wieder terminologisch geredet, aber nimm's, wie es Dir gemeint ist. Um mit den Fakten zu Ende zu kommen – Cornelius hat meine Arbeit anstandslos und ohne die Änderung eines Wortes zu verlangen angenommen und der Korreferent Schumann hat sich seinem Referat ageschlossen, und vermutlich werde ich am 2. August mündliches Examen haben. Ich muß noch viel ochsen bis dahin, vor allem Musikgeschichte. Anfang August fahre ich mit dem Friedel nach Süden, nach Südtirol, Hochapennin. Deine Exmatrikulation habe ich betrieben und bekomme morgen die Exmatrikel, die ich Dir umgehend zustelle. Die Gebühr macht 18 Mark, außerdem mußte ich, um den Stempel der sozialwissenschaftlichen Bibliothek zu bekommen, 10 Mark hinterlegen für einen Schlüssel, den Du noch haben sollst, den ich Dich bitte mir möglichst bald zu schicken, da er ansonst neu gemacht werden muß. Ist der Schlüssel verloren oder bei Deinen Eltern, benachrichtige mich. Ich muß aufhören, ehe ich angefangen habe um in die Universität zu gehen, wo ein Scheler- Referat von mir diskutiert wird. Magst Du mir noch schreiben? Über den Stand meiner Terminologie gibt der Straussaufsatz Auskunft. Von meiner Disseration habe ich kein Exemplar verfügbar, obwohl sie uneigentlicher ist, als es sich selbst für mich gehört, nämlich cornelianisch, freilich gut zu transponieren. Einstweilen, sind wir nicht alle Schreibende.
Teddy

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