Freitag, 18. Februar 2011

Moralisch-rosa Hautfarbe

(…)
Vor allem wollen die Arbeitgeber einen netten Eindruck haben. Leute, die nett wirken – zu einer solchen Wirkung gehören natürlich die netten Manieren -, werden auch dann genommen, wenn ihre Zeugnisse schlecht sind. Der Beamte meint: „Es sollte bei uns wie bei den Amerikanern sein. Der Mann muß ein freundliches Gesicht haben.“ Um die Freundlichkeit des Mannes zu steigern, fordert das Arbeitsamt übrigens, daß er sich mit rasierten Wangen und in seinem besten Anzug bewerbe. Auch der Betriebsratsvorsitzende eines Großbetriebs empfiehlt den Angestellten bei Chefbesuchen im Kriegsschmuck ihrer Feiertagskleider aufzutreten. Außerordentlich lehrreich ist eine Auskunft, die ich in einem bekannten Berliner Warenhaus erhalte. „Wir achten bei Engagements von Verkaufs- und Büropersonal“, sagt ein maßgebender Herr der Personalabteilung, „vorwiegend auf ein angenehmes Aussehen. „ Von fern erinnert er etwas an Reinhold Schünzel in älteren Filmen. Was er unter angenehm verstehe, fragte ich ihn; ob pikant oder hübsch. „Nicht gerade hübsch. Entscheidend ist vielmehr die moralisch-rosa Hautfarbe, Sie wissen doch…“
Ich weiß. Eine moralisch-rosa Hautfarbe – diese Begriffskombination macht mit einem Schlag den Alltag transparent, der von Schaufensterdekorationen, Angestellten und illustrierten Zeitungen ausgefüllt ist. Seine Moral soll rosa gefärbt sein, sein Rosa moralisch untermalt. So wünschen es die, denen die Auslese obliegt. Sie möchten das Leben mit einem Firnis überziehen, der seine keineswegs rosige Wirklichkeit verhüllt. Wehe, wenn die Moral unter die Haut dränge und das Rosa nicht gerade noch moralisch genug wäre, um den Ausbruch der Begierden zu verhindern. Die Düsterkeit der ungeschminkten Moral brächte dem Bestehenden ebenso Gefahr wie ein Rosa, das unmoralisch zu flammen begänne. Damit beide sich aufheben, werden sie aneinander gebunden. Das gleiche System, das der Eignungsprüfung bedarf, produziert auch dieses nette und freundliche Gemenge, und je mehr die Rationalisierung fortschreitet, desto mehr nimmt die moralisch-rosa Aufmachung überhand. Die Behauptung ist kaum zu gewagt, daß sich in Berlin ein Angestelltentypus herausbildet, der sich in der Richtung auf die erstrebte Hautfarbe uniformiert. Sprache, Kleider, Gebärden und Physiognomien gleichen sich an, und das Ergebnis des Prozesses ist ebenjenes angenehme Aussehen, das mit Hilfe von Photographien umfassend wiedergegeben werden kann. Eine Zuchtwahl, die sich unter dem Druck der sozialen Verhältnisse vollzieht und zwangsläufig durch die Weckung entsprechender Konsumentenbedürfnisse von der Wirtschaft unterstützt wird.
(…)

Siegfried Kracauer, Die Angestellten (1930)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen